Seewölfe - Piraten der Weltmeere 173

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 173
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Impressum

© 1976/2016 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

ISBN: 978-3-95439-510-1

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Inhalt

Kapitel 1.

Kapitel 2.

Kapitel 3.

Kapitel 4.

Kapitel 5.

Kapitel 6.

Kapitel 7.

Kapitel 8.

Kapitel 9.

1.

Unverändert stand die Sonne auch am nächsten Morgen trübe glosend und keine Wärme verstrahlend am Himmel.

Hier, irgendwo an die Küste von Grönland, hatte es die „Isabella“ verschlagen, seit der harte Westwind sie gepackt hatte.

Jetzt lag sie zwar wie in Abrahams Schoß, aber dieser Schoß war nichts anderes als eine tödliche Eisfalle.

Ringsum waren sie von Eis umgeben, hoch über ihnen wölbte sich eine mehrere hundert Tonnen schwere Eiswächte wie ein gigantischer Dom aus strahlendem Weißblau.

Das Schiff hatte nur noch wenig Wasser unter dem Kiel, der Rest war Eis, auf dem es festsaß.

Die beiden Männer der morgendlichen und damit letzten Wache, Dan O’Flynn und Sam Roskill, blickten immer wieder in die Eishöhle, in der das eingeschlossene und völlig deformierte fremde Schiff lag.

Das Wasser aus der Höhle war abgelaufen und hatte die Wände mit einem hellen Eisfilm überzogen. Aus der dunklen Grotte drangen immer noch knisternde und knackende Geräusche.

Sam Roskill ging in den Aufenthaltsraum, wo der Ofen aus Silberbarren stand, den Ferris Tucker gebaut hatte. Er legte Holz nach, wärmte sich die eiserstarrten Hände ein Weilchen und kehrte dann wieder zurück.

„Unser Holz reicht nur noch ein paar Tage“, sagte er. „Mit was wir dann den Ofen befeuern sollen, ist mir nicht klar. Dann nutzt uns das monströse Ding nichts mehr.“

„Feine Aussichten“, brummte Dan und zog fröstelnd die Schultern hoch. „Wir müssen eben alles aus der Höhle holen, was von dem fremden Schiff noch verwertbar ist. Diese Hundekälte bringt uns sonst noch alle um.“

Die beiden Männer schwiegen wieder, und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach.

Dan O’Flynn starrte in das trübe Auge einer milchig erscheinenden Sonne. Er hatte das Gefühl, als wäre sie tausendmal weiter entfernt von der Erde als sonst. Kaum vorstellbar, dachte er, daß dieselbe Sonne in anderen Erdteilen glühende Hitze verstrahlte. Er sann noch darüber nach, als es an Deck der „Isabella“ munter wurde.

Der Kutscher erschien – er war immer einer der ersten an Deck –, und gleich darauf tauchte auch Bill auf. Er hatte in einer der in die Messe eingebauten Kojen geschlafen und war noch reichlich zerknittert. Daher traf ihn die Kälte wie ein Hieb, und er verzog sich nach einem gemurmelten Morgengruß schnell in die Kombüse, um dem Kutscher zu helfen.

„Unser Törn ist rum“, sagte Dan, „aber ich bin noch kein bißchen müde, ich habe nur Hunger.“

„Müde bin ich auch nicht, außerdem will ich sehen, was in der Höhle passiert“, erwiderte Sam.

Das dauerte jedoch noch fast zwei Stunden. Inzwischen bereitete der Kutscher das Frühstück, und die Seewölfe hieben mit großem Appetit rein.

Gleich nach dem Essen ließ Philip Hasard Killigrew Lampen entzünden und sie in die Eishöhle bringen. Er selbst, Carberry, Ferris Tucker und Big Old Shane unternahmen den nächsten Erkundungsgang.

„Donnerwetter, hat sich das seit gestern verändert“, sagte Ferris andächtig. Überall von den mit Eis überzogenen Wänden strahlte das Licht tausendfach und in schillernden Farben zurück.

„Kaum zu glauben, daß es noch dieselbe Höhle ist wie gestern.“

Das in dieser Kälte schnell gefrierende Wasser hatte neue bizarre Formen geschaffen. Man konnte Gesichter daraus lesen oder abenteuerliche Gestalten erkennen, das blieb jedem selbst und seiner Phantasie überlassen.

Der Boden, vormals aus zerhackten Eissplittern bestehend, hatte sich mit einer festen Masse überzogen und wirkte spiegelglatt. Die Seewölfe mußten achtgeben, um nicht unversehens auszurutschen, denn jeder Schritt wurde zu einem unkontrollierbaren Dahinschlittern.

„Augenblick mal“, sagte Ferris, als Carberry an ihm vorbeisegelte, einen Fluch ausstieß und mit dem Schädel an der Wand landete. „Ich werde den Untergrund etwas aufrauhen.“

Mit der Axt hieb er Kerben in das Eis, hackte hier ein Stück heraus, zog da eine Schramme und arbeitete sich schnell bis an das Schott vor, vor dem sie gestern kapituliert hatten.

Jetzt konnte man besser gehen und rutschte nicht mehr aus.

Die von oben nach unten verlaufenden säulenähnlichen Gebilde lagen zertrümmert am Boden und ragten scharfen Dolchen gleich aus dem Eis. Es war dieselbe Stelle, die sie gestern erreicht hatten, doch jetzt sah wiederum alles anders aus.

Tucker blickte im Schein der blakenden Lampen ziemlich ratlos zu dem Seewolf hinüber, der eine herausragende Planke befühlte.

„Einfach drauflos schlagen, Sir?“ fragte er.

„Etwas anderes bleibt uns nicht übrig“, erwiderte Hasard. „Es kann sein, daß sich zwischen den Schotts riesige Eisklumpen gebildet haben und das Schiff inzwischen länger als hundert Yards geworden ist. Es sieht auch so aus, als hätte es die Mannschaft zum größten Teil selbst abgewrackt, um Feuerholz zu haben.“

„In genau der gleichen Lage befinden wir uns auch“, sagte Ferris Tukker ernst und führte den ersten Schlag gegen die neue Eiswand.

Die hart geführten Schläge pflanzten sich durch den gesamten Eisberg fort und kehrten als überlautes Echo zurück, bis den Männern die Ohren dröhnten.

Aber Tucker hieb unermüdlich weiter, bis ihm nach einer Weile der Schweiß in Bächen über das Gesicht rann und Carberry den rothaarigen Freund ablöste.

Allmählich kam das Schott zum Vorschein. Das Holz zersplitterte wie Glas, sobald ein Hieb es traf.

Big Old Shane raffte alles zusammen, was er an Holzstücken erreichen konnte, trug es ein paar Yards zurück und warf es vor den geschaffenen Eingang, wo Smoky und die anderen es an Deck brachten.

Vor Carberry klaffte ganz überraschend ein riesengroßes Loch im Eis. Zersplitterte Planken flogen hinterher und verschwanden in der Dunkelheit irgendwo auf dem Boden.

Hasard trat mit der Lampe in der Hand näher heran und leuchtete in die Finsternis. Anfangs sah er kaum etwas, doch dann erkannte er einen schlauchartigen Gang, der weiter ins Innere führte. Es war ein schmaler in den Konturen total verformter und zusammengestauchter Gang, den der Eisdruck geschaffen hatte. Teilweise war die vereiste Holzdecke so niedrig, daß man nur kriechen konnte, dann wieder erreichte sie Mannshöhe.

Das Wrack ließ sich dem Typ nach nur noch sehr mühsam klassifizieren, und auch jetzt noch wußte niemand, welcher Nationalität es angehörte.

„Dies hier ist wieder ein anderer Gang“, sagte Tucker. „Ich finde mich kaum noch zurecht. Gestern hatten wir einen ähnlichen Raum gefunden, aber es hat den Anschein, als würden hier zwei Kammern dicht nebeneinander liegen.“

Hasard blieb in gebückter Haltung stehen, die Lampe vorgestreckt, und versuchte, sich zu orientieren.

„Ja, hier liegen auch zwei Räume nebeneinander, Ferris. Nur führt der eine Raum vermutlich in einem Bogen um den anderen herum. Die Räume haben sich gegeneinander verschoben, das Deck hat sich gesenkt, und die Planken haben sich etwas gehoben. Man gelangt sozusagen vom Vorschiff direkt aufs Quarterdeck. Das, was noch dazwischenlag, haben die Leute entweder abgeholzt, oder es ist im Eis verschwunden.“

Sie erreichten ein schief in den Angeln hängendes Schott, das keinerlei Eisüberzug aufwies. Nur auf dem Boden befand sich eine Schwelle, die aus dem Eis gewachsen war.

Der Seewolf trat mit dem Stiefel zu, und unter ohrenbetäubendem Krachen und Splittern flog das Schott auseinander. Scharfkantige Holzsplitter flogen nach allen Seiten davon.

Die blakenden Lampen erhellten nur notdürftig ein gespenstisches Bild.

Niemand sprach ein Wort. Jeder blieb stocksteif an der Eisschwelle stehen und blickte in den Raum.

Möbel gab es in dieser Kammer nicht, selbst die eingebauten Schapps waren herausgerissen worden, ebenso ein paar Planken von den Seitenwänden. Vermutlich hatte man sie verheizt, als es immer kälter und unerträglicher geworden war.

In der hinteren Ecke der Kammer lag ein Mann. Er hatte sich in dicke Lagen Segelleinen gewickelt und war in dieser Haltung erstarrt. Sein Gesicht war von einem fahlen Grün überzogen, die weitoffenen Augen blickten starr an die Decke.

Neben ihm standen zwei Korbflaschen. Die eine war leer, die andere war zersprungen und hatte ihren Inhalt in der Form rötlicher Kristalle auf dem Boden verstreut. Es war roter Wein, den der grimmige Frost in amorphe Substanz verwandelt hatte. Das Gesicht des Toten war hager und eingefallen, ein struppiger Bart bedeckte sein Kinn.

Wie lange er schon tot war, ließ sich nicht einmal erahnen.

Der Seewolf trat zwei Schritte näher. Er hatte nicht damit gerechnet, an Bord des Wracks einen Toten zu finden.

 

Als er mit dem erfrorenen Mann auf gleicher Höhe war, entdeckte er hinter dem herausgerissenen Schapp die zweite Kammer, in die man ungehindert hineinsehen konnte.

Hasard schluckte bei dem neuerlichen Anblick, der sich ihm bot.

In dem zweiten Raum, fraglos war es die Kapitänskammer, hing starr und unbeweglich ein Mann. Seine Beine befanden sich einen halben Yard über dem Boden. Sein Kopf war zur linken Seite geneigt. Er schien die Eindringlinge überlegen und höhnisch anzugrinsen.

Der Strick, der ihn am oberen Dekkenbalken hielt, war mit einer dünnen Eisschicht überkrustet.

„Verdammt!“ entfuhr es Carberry, der hinter Hasard stand und den zweiten Toten ebenfalls entdeckte.

Tucker und Shane sagten gar nichts. Sie sahen sich nur stumm und hilflos an.

„Vermutlich der Kapitän dieses Schiffes“, sagte der Seewolf heiser. „Er hat sich erhängt, als er keinen Ausweg mehr wußte. Und der andere hat sich betrunken und ist dann erfroren.“

Er trat weiter in den nur von blakendem Licht spärlich erhellten Raum und sah sich um.

Auch hier hatten sich die Wände teilweise verzogen, und man hatte alles an Holz, was sich nur entbehren ließ, herausgerissen. Es gab keinen Tisch, kein Pult, nicht mal die Bretter in der Koje waren mehr vorhanden. Lediglich ein lächerlich winziger Hocker war alles, was sich fand. Auf den hatte sich der Kapitän allem Anschein nach gestellt, den Strick um den Hals, und war dann in den Tod gesprungen.

Hinter dem zerstörten Schapp sah blankes Eis hervor. Es ging auch nicht weiter, rings um die beiden Kammern befand sich eine kompakte Masse aus glitzerndem Eis.

Hasard begriff nicht, daß diese beiden Männer an Bord gestorben waren. So wie es schien, hatte der Kapitän resigniert und sich erhängt, als er keinen Ausweg mehr wußte. Aber warum hatte er nicht zumindest versucht, einen anderen Weg zu finden? Einen Weg über das nahe Land etwa?

Nun, er mußte bestimmte Gründe gehabt haben, folgerte der Seewolf, Gründe, die vorerst noch im dunklen lagen.

Er hob die Lampe, die Shane ihm gereicht hatte, höher und sah sich die Kammer genauer an.

Es war ein trister Anblick, und er drückte alle Hilflosigkeit dieser Welt aus. Zerbrochene Planken, ein klaffendes Loch im Boden, darunter schimmerndes Eis, hinter den Wänden Eis. Und in der Mitte des trostlosen Jammers hing der bretthart gefrorene Mann. Wie lange schon? Monate – Jahre? Ewigkeiten?

Aus dem gezackten Bodenloch schimmerte es hell herauf, als Hasard die Lampe darüber hielt.

„Da liegt etwas“, sagte Tucker rauh. „Sieht aus wie eine Kladde, wie wir sie auch benutzen.“

„Kursangaben vielleicht“, meinte Carberry. „Ähnlich den spanischen Roteiros. Von hier aus scheint es in einen der Laderäume zu gehen.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, bückte er sich, schob sich an den gezackten Planken vorbei und ließ sich vorsichtig nach unten gleiten.

Der Raum unter ihnen war nicht tief, Carberry stand lediglich bis zur Hüfte auf einer kompakten Masse.

„Die Lampe, Sir“, verlangte er.

Hasard reichte sie ihm.

Der Profos bückte sich noch tiefer, tastete mit der Hand umher und reichte dem Seewolf eine winzige Kladde nach oben. Die Deckseite war mit dunkler Tinte verschmiert und die Schrift unleserlich geworden. Wahrscheinlich war es der Name des Schiffes, der auf die Deckseite geschrieben war.

Carberry fand noch ein paar Scherben eines dickbauchigen Fläschchens und einen abgebrochenen Federkiel. Das war alles, was er in dem vereisten und stark geschrumpften Laderaum entdeckte.

Hasard steckte die steinharte Kladde ein und hoffte, durch ihre Hilfe nähere Anhaltspunkte über das Schicksal des Schiffes und seiner Mannschaft zu erhalten.

Vor dem Toten blieb er stehen.

„Wir nehmen ihn ab, Ed“, sagte er, „und legen ihn in den Raum, der früher mal Laderaum war. Den anderen Mann legen wir ebenfalls dort hinein.“

„Aye, Sir.“

Shane hielt den Toten fest, während der Profos Tuckers Axt nahm und leicht an das Tau schlug. Es zersprang sofort.

Carberry ließ den Erhängten vorsichtig in das Loch im Boden gleiten. Dann holten sie den anderen und legten ihn daneben.

Hasard blieb noch einmal stehen, schlug die brettharte Seite der Kladde auf und blickte hinein.

„Ein portugiesisches Schiff“, sagte er. „Hier stehen ein paar Aufzeichnungen, aber es wird schwer werden, sie zu entziffern.“

„Den hat sicher ebenfalls der Sturm in diese Ecke verschlagen“, sagte Big Old Shane bedächtig. „Ich möchte nicht wissen, was diese armen Kerle alles erdulden mußten.“

„Vielleicht werden wir es erfahren. Wir gehen zurück, hier gibt es nichts mehr, was uns weiterbringt.“

„Und der andere Teil des Schiffes?“ fragte Tucker in die Stille hinein. „Sollen wir nicht versuchen, auch dort einen Gang zu finden? Kann sein, daß es dort noch etwas gibt.“

„Ja, wir versuchen es.“

Der Rückweg wurde schweigend zurückgelegt, bis sie sich in jenem Teil des Schiffes wiederfanden, wo sich die Decke wie ein Giebel in die Höhe wölbte.

Hasard blieb stehen. Smoky, Dan und Sam Roskill standen vor dem Eingang und sahen ihnen gespannt entgegen.

„Habt ihr was gefunden?“ fragte Dan.

„Ja, zwei Tote in den achteren Kammern. Einer hat sich erhängt, der andere ist erfroren. Unter der einen Kammer befand sich vermutlich ein Laderaum, aber er ist nur noch hüfthoch. Dort hinein haben wir die beiden Toten gebettet“, sagte der Seewolf.

„Also doch“, sagte Dan. „Damit hatte wohl keiner von uns gerechnet. Wenn wir den Laderaum gestern entdeckt hätten, wären wir tiefer hinuntergestiegen. Aber das Wasser hat ihn überspült und ist gleich darauf erstarrt.“

„So ist es“, erwiderte Hasard ernst. „Hier, Dan, nimm das und bringe es nach achtern oder in die Messe. Besser in die Messe, denn da ist es wärmer. Wir werden später versuchen zu entziffern, was an Bord geschehen ist, vorausgesetzt, es steht überhaupt etwas über das Schicksal dieses Schiffes drin.“

Dan nahm die Kladde entgegen und blickte sie an.

„Arme Kerle“, murmelte er. „Wollt ihr euch jetzt auf der anderen Seite umsehen?“

„Ja, falls es da noch einen Weg gibt.“

Dan nickte und ging mit der Kladde zurück. Smoky brachte eine weitere Lampe und schloß sich den Männern an. Auch Sam Roskill folgte ihnen beklommen.

Das eingedrungene Wasser hatte ihnen jedoch einen Streich gespielt. Aus den tiefer gelegenen Räumen konnte es nicht mehr ablaufen, und so war es im Laufe der Nacht gefroren. Mächtige Eispanzer hatten sich hier gebildet. Um die loszuschlagen, wäre eine unvorstellbar harte Arbeit erforderlich geworden.

Tuckers mächtige Axtschläge konnten das Problem nicht lösen. Das neue Eis war hart, dick und glatt. Es hatte sich schützend um das gelegt, was den Augen der Männer verborgen blieb.

Der Seewolf gab auf, denn er sah die Unsinnigkeit sofort ein. Das Eis offenbarte sein Geheimnis nicht weiter.

„Es hat keinen Zweck“, sagte er zu Ferris. „In der Nacht ist hier an vereinzelten Stellen eine mehr als yardstarke Eisfläche gewachsen. Anderes Wasser ist noch tiefer nach unten versickert und hat alles erstarren lassen. Wir kehren wieder um.“

Der Schiffszimmermann nickte.

„Ja, Sir, das hat wirklich keinen Zweck“, sagte er. „Lassen wir die Toten in diesem Teil des Schiffes ruhen, wenn es hier überhaupt noch welche gibt.“

Damit wurde die weitere Suche abgebrochen. Außerdem stand ihnen ihr eigenes Schicksal deutlich vor Augen, und es würde sie noch Anstrengung genug kosten, um zu überleben.

2.

Der von Ferris Tucker konstruierte Ofen verbreitete anheimelnde Wärme in dem Aufenthaltsraum, und jeder fragte sich besorgt, wie lange das noch gut gehen mochte, denn die Holzvorräte schrumpften spürbar zusammen.

Wenn das Holz verbraucht war, würde hier bittere Kälte einziehen. Und was die Kälte bewirkte, das hatten sie alle mehr als klar und deutlich mit eigenen Augen gesehen.

Seit mehr als einer Stunde hatte leichtes Schneetreiben eingesetzt. Anfangs waren es nur langsam fallende Flocken gewesen, doch jetzt blies der Wind dazu und verwandelte die Flocken in nadelscharfe Spitzen, die auf der Haut brannten und stachen.

Einer nach dem anderen ging auf Carberrys Anordnung unter Deck.

Das Arbeiten in der Kälte und dem Schneetreiben war sinnlos geworden, und die Eishackerei wurde vorerst eingestellt.

Hasard hatte die Kladde vor sich auf der Back liegen und versuchte immer noch, sie zu entziffern. Das meiste gelang, aber es gab einige schwer verständliche Stellen und andere Passagen, die überhaupt nicht mehr leserlich geschrieben waren.

Es handelte sich um die Aufzeichnungen eines portugiesischen Kapitäns, der den Rest der letzten Seiten mit klammen, gefühllosen Fingern niedergeschrieben hatte – jenes Kapitäns, der sich in seiner Kammer erhängt hatte, weil die Lage aussichtslos geworden war.

Die Seewölfe hingen an seinen Lippen, lauschten den Worten Hasards und hatten das Gefühl, einen Teil der Handlung mitzuerleben. Jedenfalls konnten sie es den anderen Seeleuten deutlich nachfühlen, denn die Fahrt begann so ähnlich wie ihre eigene.

Die Eintragung begann mit den Worten: „Im Jahre des Herrn 15. Oc.“

Die Jahreszahl war nicht lesbar, Tinte, Feuchtigkeit und Kälte hatte sie unleserlich werden lassen.

„Seit 21 Tagen lenzen wir vor hartem Sturm. Wir haben die Azoren mit Kurs auf Neufundland verlassen, doch wir sind so weit abgetrieben, daß wir nicht mehr wissen, wo wir uns befinden. Schneetreiben, Hagelschauer, eiskalter Wind jagt uns immer höher nach Norden. Es wird Zeit, daß wir Land sichten, irgendein Land, welches es auch immer sein mag. Gebe Gott, der Herr, daß diese Reise bald ein Ende haben möge. Gez. Manuel da Correz, Kapitän.“

Hasard blickte auf und sah in gespannte Gesichter.

„Leider hat da Correz kein Datum mehr hinzugefügt, und hier folgt wieder eine unleserliche Stelle. Die Jahreszahl ist nicht zu erkennen. Es hat den Anschein, als hätte er erst viele Tage später weitergeschrieben.“

Er fuhr mit dem Finger über die nächste Eintragung und hatte alle Mühe, die krakelige Handschrift zu entziffern.

„… lich ein Meer voller Eis. Merkwürdige Welt, in die uns der immerwährende Sturm treibt. Wir haben einen Mast im Sturm verloren, die Leute murren, eine Meuterei droht. Das Trinkwasser ist gefroren und kann nur sehr mühsam aufgetaut werden. Ein merkwürdiges Naturwunder begleitet uns und läßt mich an meinem Verstand zweifeln. Die Sonne steht ständig am Himmel und beschreibt eine eigenartige flache Bahn, die sie nicht mal von Horizont zu Horizont führt. Sie scheint auch nachts, oder gibt es hier keine Nacht? Wir wissen es nicht. Der Erste nimmt an, wir befanden uns im Innern der Erde. Ein geheimnisvoller Weg durch Eis und hohe Felsen hat uns anscheinend dorthin geführt. Sollten wir jemals den Weg zurückfinden, dann können wir unsere Vorstellung von einer kugelförmigen Erde korrigieren. Ich schließe mich der Ansicht des Ersten an: Unsere Welt ist ein Hohlkörper, verschiedenartig gewölbt und von mehreren Sonnen erleuchtet. Die ganze Menschheit wird aufhorchen, denn bis an diese Stelle ist sicher noch nie jemand vorgedrungen.“

„Eine merkwürdige Vorstellung hat der Mann“, sagte Dan erstaunt. „Wie kann er so etwas nur annehmen?“

„Aus seiner Sicht ist die Annahme gar nicht so abwegig“, meinte Hasard. „Es ist vermutlich eine seiner ersten Reisen überhaupt gewesen, und den Norden hat er noch nie kennengelernt. Wir selbst erleben ja auch täglich neue Überraschungen und sind jedesmal verblüfft, wenn wir die Lösung kennen. Erinnert euch nur daran, als wir in die Eisregionen des Südens trieben. Da wußte niemand mehr, was eigentlich los war.“

„Wir wissen jedenfalls, daß die Erde rund ist“, sagte Dan, „und daß es nicht irgendwo in die Tiefe geht. Wenn wir die Passage gefunden haben, sind wir sogar noch schlauer geworden. Dann haben wir eine weitaus bessere Vorstellung über die Verbindung der einzelnen Ozeane miteinander.“

„Wir sind auch etwas länger durch die Welt gesegelt als dieser bedauernswerte Portugiese, für den alles neu war, was er sah. Er kam damit nicht zurecht, daß die Sonne ständig am Himmel stand.“

„Wie geht es weiter?“ fragte der alte O’Flynn begierig.

Hasard beugte sich wieder über die wenigen Seiten.

„… bin ich sicher, daß wir uns in einer Extrawelt bewegen. Eine unglaubliche Welt voller Wunder. Dome aus Eis, Landschaften aus Eis und dazwischen riesige Berge, aus einem einzigen Stück Eis bestehend. Der Sturm hat in dieser bizarren Welt etwas nachgelassen. Nur die Sonne steht noch wie ein Riesenauge am Himmel und scheint. Aber diese andere Sonne ist kraftlos, es ist nicht dieselbe Sonne wie die über den Azoren.

 

Wir wissen nicht, an welcher Stelle der Erde wir uns befinden, wir sind auch nicht in der Lage, den Standort zu bestimmen. Es hätte ohnehin auch keinen Zweck, denn hier gelten andere Gesetze. Wie wir jemals den Weg zurück finden werden, weiß nur Gott, der uns auch hierher geschickt hat.“

„Diese andere Welt im Innern der Erde ist eine Hölle. Wir treiben wieder weiter nach Norden, falls dieser Begriff Gültigkeit hat. Unser Kompaß stimmt nicht mehr. Die Sonne ist bisher noch kein einziges Mal untergegangen, unentwegt steht sie am Himmel.

Mit jedem Tag wird es kälter. Große Eisfelder versperren uns den Weg. Mitunter warten wir tagelang, bis die Eismassen sich zurückziehen, dann wieder bläst uns der Wind weiter. Wir halten Ausschau nach Land, doch scheint es hier keins zu geben.

Wohin führt unser Weg – in die Hölle, direkt noch tiefer in das Innere der Erde, dorthin, wo noch nie ein Mensch war? Wir beten zu Gott und hoffen nur noch.“

„Kalter, schneidender Sturm! Faustgroße Hagelkörner fielen vom Himmel. Unser Segelmacher wurde von einem dieser Brocken schwer verletzt und schwebt in Lebensgefahr. Andere Männer melden, daß sie kein Gefühl mehr in Armen oder Beinen haben. Die Stellen sind merkwürdig dunkel verfärbt, und alle Salben versagen.

Wir brauchen Holz, wir benötigen Proviant. Unsere Lage wird mit jedem Tag verzweifelter und schlimmer. Wir sind gezwungen, einige Teile unseres Schiffes zu verheizen, denn die Kälte wird immer schlimmer.“

„Der Segelmacher ist seinen Verletzungen erlegen. Er muß in dieser Nacht gestorben sein. Als man ihn aus der Koje holte, war er steif und hart wie das Eis. Ein weiterer Mann ist krank und kann die Hände nicht bewegen.

Wir sind vom Eis umschlossen, das in riesigen Massen von allen Seiten auf uns zuströmt. Dem Segelmacher konnten wir kein ordentliches Begräbnis geben. Wir haben ihn auf das glitzernde Eis gelegt, und da liegt er jetzt noch immer und begleitet uns auf unserer weiten Reise ins Ungewisse. Wir fühlen, daß wir mit dem Eis treiben.“

„Das ist der Anfang vom grauenvollen Ende“, sagte der Seewolf. „Das Endresultat haben wir direkt vor Augen. Correz muß sein Schiff Stück für Stück verheizt haben. Hoffen wir, daß wir nicht auch in diese tödliche Situation geraten.“

Blicke wurden hin und her geworfen. Manch einer schluckte hart, wenn er an die restlichen Bestände an Holz dachte, die der große Ofen gierig fraß:

Ja, was dann, wenn das letzte Stück Holz im Ofen verschwand? Dann ging es der „Isabella“ an die Substanz, und davor hatten sie alle einen verständlichen Horror. Damit begann ein Teufelskreis, aus dem es kein Entrinnen mehr gab. Verheizte man, um zu überleben, die Masten oder Teile der Aufbauten, dann war das Schiff nach einer gewissen Zeit nicht mehr seetüchtig – und das war ebenfalls der Anfang vom Ende, genauso, wie es Correz mit klammen Fingern niedergeschrieben hatte.

Welche Ersatzlösung bot sich aber dann an, fragte sich jeder bedrückt. Selbst an Land gab es kein Holz, keinen Strauch, keinen Baum. Nicht einmal ein Grashalm wuchs hier.

Hasard entgingen nicht die Blicke, die sich die Männer zuwarfen. Auf seinen Lippen lag ein eigentümlicher Ausdruck, und er lächelte leicht.

„Ich glaube nicht, daß wir ebenfalls erfrieren werden“, sagte er. „Es gibt noch eine letzte Möglichkeit, um uns davor zu bewahren. Aber das hat noch ein paar Tage Zeit.“

„Es gibt keine“, behauptete Carberry. „Sonst hätten die Portugiesen die Lösung sicher auch gefunden. Aber sie sind erfroren, einer nach dem anderen.“

Hasard lächelte immer noch unergründlich.

„Trotzdem gibt es eine. Vielleicht fällt sie dir nach einigem Nachdenken auch ein, Ed.“

Aber da konnte Ed so lange nachdenken, wie er wollte, er stieg nicht dahinter und zog nur ein ratloses Gesicht.

„Mit dem Schiff sitzen wir fest“, sagte er, „Sträucher wachsen hier auch nicht.“

„Das Schiff kriegen wir mit etwas Glück und viel Arbeit wieder frei, das ist Problem Nummer zwei. Problem eins ist, daß wir die Kälte lebend überstehen, und dafür sehe ich eine Chance.“

Unter den Seewölfen begann das große Grübeln. Aber nach einer Weile gaben sie achselzuckend auf.

Hasard las weiter.

„Barmherzigkeit, Misericordia! Wir haben zwei weitere Tote an Bord. Andere Männer sind krank und nicht mehr arbeitsfähig. Unser Schiff ist von Eis überzogen und liegt tief in Eisschollen fest. Diese Eisschollen schieben uns zusammen, drücken uns hoch, und der Rumpf kracht und knackt. Der Boden wird nicht mehr lange halten, der Druck der Eismassen ist zu stark.

Das Eis schiebt uns unaufhaltsam einem mächtigen Gebirge entgegen. Wir arbeiten pausenlos, aber wir schaffen es nicht. Wir haben die Masten verfeuert, der Proviant wird streng rationiert. Einige liegen apathisch in den Kojen und dämmern dem Tod entgegen. Unser Schiff ähnelt einem Wrack.“

Die Aufzeichnungen wurden mitunter unleserlich, und der Seewolf mußte sich einiges zusammenreimen.

Vielleicht aber hatte der portugiesische Kapitän auch kein großes Interesse mehr gehabt, das Logbuch weiterzuführen. Tinte lief in einem Rinnsal über die krakeligen Zeilen und verunstaltete sie.

Vielleicht aber hatte ihn auch die Kraft verlassen.

Weitere Passagen folgten, die Hasard nicht verstand. Erst nach einiger Mühe gelang es ihm, wieder etwas zu entziffern.

„Eiseskälte. Das Schiff sitzt fest und schiebt sich tiefer in ein monströses Eisgebilde hinein. Zimmern eine Vorrichtung, mit der wir über das Eis zum Land ziehen können.

Wir geben das Schiff auf. Kaum noch Proviant. Wasserfässer geplatzt. Alles zu Eis erstarrt. Profos schlug heute Eis von dem Berg ab und lutschte es vor Durst. Erstaunliche Entdeckung. Die riesigen Eisberge bestehen aus gefrorenem Trinkwasser. Schmeckt nicht nach Salz. Heute werden wir das Schiff verlassen, nur ein Mann bleibt zurück. Vielleicht gibt es auf dem Land doch noch Menschen, die uns helfen können. Das Logbuch lasse ich an Bord zurück. Kapitän da Correz.“

Carberry blickte den Seewolf an und schüttelte den Kopf.

„Eins verstehe ich nicht“, sagte er. „Wenn der Kapitän das Schiff verlassen hat, wieso hat er sich dann an Bord erhängt?“

„Die Aufzeichnungen gehen weiter“, sagte Hasard. „Sie sind noch nicht beendet. Wir werden den Rest der Tragödie bestimmt noch erfahren. Ich nehme an, Correz ist wieder zum Schiff zurückgekehrt und hat die Suche aufgegeben, weil sie nichts fanden.“

Es waren tatsächlich noch ein paar beschriebene Seiten übrig, lustlos und verzweifelt niedergeschrieben von einem Mann, der dem Tod näher stand als dem Leben.

„Unsere Suche war ein Fehlschlag. Es gibt in diesem Land keine anderen Menschen. Nur einmal sahen wir ein großes weißes, aufrecht gehendes Tier mit weißem zotteligen Pelz.

Wir hatten den gesamten Proviant mit bis auf eine Ration für den Rudergänger, der an Bord blieb. Es wurde ein Weg in die Hölle. Schneetreiben nahm uns die Sicht. In der ersten Nacht, die wir in einer Eishöhle verbrachten, wachten zwei Männer nicht mehr auf. Der Tod hatte sie im Schlaf geholt. Jetzt waren wir nur noch vierzehn Männer. Wir verloren die Orientierung. Am Abend erschoß sich Blade, unser Zimmermann. Er hatte genug.

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