Edda – oder der faule Apfel im Zwischenraum

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Edda – oder der faule Apfel im Zwischenraum
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Über dieses Buch:

Personenbezogener Liebeswunsch, mit seinen irreführenden Sehnsüchten, poltert durch verschiedene Lebensbereiche und zwei Generationen, verflochten mit Edda, Tochter eines ehemaligen Offiziers der deutschen Wehrmacht.

Die attraktive Edda jongliert sich durch ihre Weltfremdheit, gelenkt und beschwert von festen Vorstellungen und prägenden Erinnerungen aus der Kindheit. Ein zart erwachtes Streben, nach geistiger Freiheit und innerer Gelassenheit, tritt dagegen an. Zu ihren amüsanten bis tragischen Bemühungen um Gleichgewicht zählt der Einblick in die Welt des Yoga, sowie ihr Integrationsversuch in ein traditionell geprägtes, spanisches Dorfleben im Hinterland der Costa Blanca.

Oft verschwimmt die Grenze zwischen Gut und Böse. Wille, Energie und Bewusstsein werden in ihrer Gegenwärtigkeit ebenso deutlich wie die Kraft der Impulse aus dem Unterbewusstsein.

Gabriele Plate, Landschaftsarchitektin und Bildhauerin, geboren im Juni 1950, in Deutschland. Langjährige Aufenthalte in Peru, Indien, Brasilien. Die Autorin lebt in Spanien.

„Edda oder der faule Apfel im Zwischenraum“ ist ihr erster Roman.

Impressum

Copyright: © 2015 Gabriele Plate

Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

ISBN:

Umschlagbild und Gestaltung: Gabriele Plate

GABRIELE PLATE

Edda

oder der faule Apfel im Zwischenraum

ROMAN

Für

Hella, Nati und Nicoline

Prolog

Er lagerte allein auf Island herum. Zwischen dunkelgrauen Felsen und Pferdeäpfeln gebettet, schlief er in seinem kleinen, leuchtend gelben Iglu Zelt und berauschte sich an dem eventuellen Aufspüren der Berechenbarkeit des Unvorhersehbaren. Er stemmte sich mit Genuss dem starken Wind entgegen, ohne sich als Widerstand zu empfinden.

Ruben setzte sich niemals willkürlich einer Gefahr aus, er war kein Draufgänger, übermäßig mutig oder dem Heldentum zugetan. Er gab einfach nur dem Ungewöhnlichen die Gelegenheit ihn zu treffen, wobei er glaubte, auch hier den Maßstab setzen zu können. Aus diesen Zusammenkünften gewann er Kraft und Erkenntnis, die er in seine Abenteuer des Alltagslebens zu mischen wusste. Ruben war ein wortkarger Mensch, der selten verzieh und sich ungern erklärte. Er strahlte gesunde Einsamkeit aus, selbst wenn er sich mitten in einer großen Gesellschaft befand. Das war von Zeit zu Zeit der Fall, wenn er Vorträge auf internationalen Kongressen über seine Arbeit hielt. Hier handelte es sich um sachlichen Austausch, um Ergebnisse, die von ihm zur Weitergabe erlangt worden waren. Dafür schienen ihm Worte angebracht.

Er gab selten etwas aus seinem Herzen preis. Ruben lebte und erlebte bewusst, und er wusste Intrigen oder Psychoterror zu ignorieren. Ebenso unempfänglich war er für jede Art von Manipulation, er reagierte auf derartige Einrichtungen nicht. Er war hilfsbereit und aufmerksam und das Gegenteil, wenn man ihn dazu antrieb, wenn es von ihm erwartet wurde. Ruben war ungewöhnlich wach.

Er wurde auch geliebt, und jeder Liebende erfuhr schmerzhafte Grenzen, wenn er verlangte. Ruben kannte die Liebe, er verdrehte sie aber nicht, machte sich nicht zum Sklaven ihres Missbrauchs. Er war nicht greifbar, selbst wenn man ihn umarmte, besonders dann nicht. Und, er war eine jener seltenen Gestalten, welche Sehnsüchte in seinem Gegenüber weckten, ohne sich selber an dieser Art von Macht zu berauschen. Er verachtete solche Reflexionen auf ihn nicht, doch schien er sie auch nicht unbedingt zu befürworten. Er vermittelte das Gefühl, niemanden wirklich nötig zu haben, niemanden zu brauchen. Die Vorstellung jemanden zu beengen oder zu behindern war ihm unangenehm.

Er beklagte sich niemals, glaubte an sein Abenteuer auf der Welt zu sein, an seine Individualität und Freiheit. Er hatte weltliche Ziele, besaß eine konstruktive Neugier, kannte keine Langeweile, und, er pries den Fortschritt der Wissenschaft in jeglichem Bereich. Über alle Maße. Er vertraute dieser und seinem Verstand mehr als allem anderen, gab sogenannten wissenschaftlichen Erkenntnissen vor jeder Ahnung den Vorrang, er genoss sie bis in die Wurzeln der Poesie hinein. Das konnte Ruben, auch Poesie war für ihn logisch.

Die Mär vom vorherbestimmten Karma, belächelte Ruben, er glaubte sein Schicksal lenken zu können. Logik und stoffliches Bewusstsein waren seine Begleiter. Er gestand Nicht-Beweisbarem keinen Millimeter Lebensraum zu, doch es begeisterte ihn die Vorstellung, in einer Gleichung mit vielen Unbekannten zu leben, diese er zu lösen sein Leben widmete. Er war ohne Zweifel im Reinen mit sich selbst. Den einzigen Anflug von Furcht kannte er nur, aus dem Gedanken heraus, einer ihn vielleicht, eines Tages befallenden Demenz. Sonst war ihm das Gefühl von Angst fremd. Nicht vor Tod noch Teufel, diesen wichtigen Werkzeugen des Experimentes Leben. Das war seine Sicht, und er hielt sich mit Konsequenz daran. Ruben war sich treu, und er glaubte nicht zu lügen.

Dem allgemein üblichen Vorgang traumatischen Erlebnissen Raum im Unterbewusstsein zu gewähren, die Zügel somit einem unberechenbaren inneren Machthaber zu überlassen, verweigerte sich Ruben. Bei seinen erfolgreichen Bemühungen, das Unterbewusstsein zu überlisten, dem Vielleicht-Seelenkummer keinen Zugang zu gewähren, handelte er stets mit bewundernswerter Disziplin an sich. Doch damit konnte er sich letztlich nicht auch noch vor den Traumata seiner Mitmenschen schützen, sich ebenfalls gegen den Zugriff der Leichen aus fremden Kellern wappnen. Eine dieser sich plötzlich aufbäumenden Leichen sollte Ruben zum Verhängnis werden.

Eddas Fundament

Es war schon dunkel, beinahe stockfinster. Sie hatte in ihrer verborgenen Baumhütte, hoch oben in der Buche, die Zeit verspielt, verträumt, das was sie am liebsten tat und am besten konnte. Nur das Spiel erschien ihr wirklich, und sie wusste die Zeit mit dieser Wirklichkeit zu bekleiden.

Edda, in ihr hauste ein unermüdliches Zappeln, das auf der Lauer nach einem Startschuss lag, jenem Moment, der durch das Entdecken irgendeiner scheinbaren Kleinigkeit ausgelöst werden konnte. Sie stolperte immerzu in diese Momente, spielerische Stille folgte. Ihre Hände fummelten diese erblickte Kleinigkeit mit Hingabe zu etwas Anderem zusammen. Zu etwas im Zeitstillstand. Es war die Hingabe zum Spiel, aus der sie schöpfte und von der sie stets angetrieben wurde. Ein permanentes, unbewusstes Sehnen. Das Ergebnis ihrer Handfertigkeit war dabei nebensächlich.

Diese täglichen Rituale konnten durch ihre Aufmerksamkeit auf ein simples Stück Holz ausgelöst werden, drei Nägel oder einen winzigen Erdhügel. Rostige Metallteile konnten es sein, Knochen, eine kleine Moosfläche, alte Dosendeckel, Regentropfen am Fenster des Klassenzimmers oder seltsam gekrümmte Herbstblätter. Blätter, die sich in kleinen Wirbeln festgetanzt hatten. Gefesselt an eine Endstation, so wie sie sich empfand, wenn sie morgens das Schulgebäude betrat und ihren Nachmittag im Wald in schmerzhafter Ferne wähnte. Als würde ihr Freiheitsbedürfnis durch die Verletzungen des Schulgeschehens jeden Tag ein bisschen kränker werden können. Und dann, irgendwann, wäre es unheilbar krank, es würde sterben, sich auflösen und sie für immer verlassen.

Edda konnte in Sekundenschnelle zu einem dieser, von ihr bedauerten Blätter der Endstation werden. Sie sprach mit ihnen, befreite, sortierte, hauchte ihnen neues Leben ein. Die Blätter wurden für diesen Tag ihre Gefährten, litten mit ihr, auch weil der Sommer vorbei war. Sie hatten Antworten bereit, die sich nicht so leicht in Worte fassen ließen. Nicht von Edda.

Sie baute wochenlang Dörfer mit kleinen Häusern aus Moos. Unzählige, flache kleine Moosplatten, von einem zarten Hausgerippe aus trockenen Zweigen gehalten. Diese Dörfer lagen versteckt, eingebettet zwischen Ilex-Gehölz und lebenden Baumwurzeln, sie waren meist schon nach einem kurzen, heftigen Regenguss zerstört. Die Hütten waren nicht viel höher als ihre Kinderhand, doch sie boten Zuflucht. Stunden vergingen bäuchlings auf der feuchten Walderde. Sie lugte in ihre Mooshäuser und wurde eine von jenen Erdachten in diesem friedlichen Dorf. Sie erdachte sich selbst.

Es gab immer einen Üblen, der zwar zu ihrem Dorf gehörte, aber stets vor den Toren herumlungerte. Keinen Zutritt bekam. Manchmal war es nur eine bunte Glasscherbe, ein Stöckchen oder ein Kaninchenknochen, um diese Person zu symbolisieren, aber niemals fehlte dieser Schatten. Obwohl sie ihn fürchtete, kreierte sie ihn bei jedem Spiel aufs Neue.

Heute hatte sie also wieder einmal, hoch oben auf ihrem Baumversteck, das langsame Verstummen der Vögel in der beginnenden Abenddämmerung nicht bemerkt, obwohl die gurgelnd spitzen Schreie des Fasans im nahen, mannshohen Farnkrauthang den Abend deutlich angemeldet hatten. Obwohl die Amsel laut, fast schrill und aufdringlich als Letzte gemahnt, obwohl das Licht längst nicht mehr reichte um sehend vom Baum zu klettern, und, obwohl sie schon seit Stunden den Urindrang und ihren knurrenden Magen ignoriert hatte. Erst das weiche, seufzende Huh-Huch der Waldohreule, ganz in ihrer Nähe, ließ sie in ihrem Spiel innehalten, ließ sie erschrocken in die Baumkronen über sich blicken, um an einer letzten Handvoll Licht die Uhrzeit abzuschätzen. Der Abend berührte schon die Nacht, zitternde Silhouetten und ein allerletztes Grau.

Edda sah nach unten in die dunkle Tiefe, klemmte sich eilig ihre Clogs vorne in die gestreifte Latzhose und begann mit sicheren Bewegungen und geschlossenen Augen den Abstieg vom Baumriesen.

Sie bewältigte diesen Abstieg nicht mit geschlossenen Lidern, weil ihr jeder Schritt vertraut war, sondern, da sie aus schmerzhafter Erfahrung wusste, dass die Buche mit kleinsten Zweigen nach ihr schlug, was sich im Dunkeln zu spät erkennen ließ, und sie daher nicht rechtzeitig ausweichen konnte. Das hatte schon mal eine tagelange Augenklappe zur Folge gehabt und was viel ärgerlicher war, ein Baumkletterverbot.

 

Beinahe wieselflink war sie unten. Die Furcht vor den Folgen eines Zu-Spät-Nachhause-Kommens erwachte, begann in ihr zu beben. Vielleicht war Vater noch nicht zurück, hatte eine Autopanne, oder er hatte noch nicht bemerkt, dass sie nicht im Haus war, dass sie noch s p i e l t e, wie er dieses Wort so drohend auszuspucken pflegte, als zähle das Spielen zu den sündhaftesten aller Vergehen. Es kam jetzt auf jede Minute an.

Hoffentlich hatte er sich heute nicht besonders geärgert. Sich normal verärgert aufzuführen, sobald er nach Hause kam, war eigentlich seine Angewohnheit. Eine Ärgerlichkeit, die sich im Lot hielt, wenn man es verstand sie nicht zu schüren. Edda verstand sich nicht auf diesen empfehlenswerten Leisetritt, sie war in diesem Fall eine Art Schürhaken.

Nun hoffte sie flehentlich, er hätte noch nicht nach ihr gerufen oder sogar nach ihrer Schultasche gegriffen, Eselsohren und Fettflecken in den Heften gezählt und alte vergessene Pausenbrote im schmuddeligen Ranzen entdeckt. Diese harten, angeschimmelten Hasenbrote. Hasenbrote, die Stullen vom Vortag. Bei Edda lagerten sie vom Vor- und Vor- und Vortag in den Fächern zwischen den Heften. Vergammeltes Brot, das gehörte zu den Todsünden. Da kam sie nicht mit ein paar Mahnworten davon.

Spielen, anstatt Vokabeln zu lernen, fettige Hefte, fliegende Brote! Stock oder Gerte? Er ließ ihr die Wahl.

Edda begann zu laufen. Barfuß, schneller, immer schneller glitten ihre nackten Füße gewandt über den kühlen Waldboden. Sie wusste genau wo, auf diesem etwa ein Kilometer, recht steil abfallendem Trampelpfad, die großen alten Buchen ihre Wurzeln über das Erdreich kriechen ließen. Wo Steine, Fels, Kuhlen, Rillen und Erhebungen waren. Sie wusste wo und wann sie zu springen, hüpfen, laufen oder sich im Schnellflug an den schmalsten Stellen des engen Hohlweges, am Seitenhang wechselseitig abzustoßen hatte. In Windeseile.

Und dann vergaß Edda warum sie rannte. Sie berührte scheinbar kaum den Boden, flog durch die Nachtluft wie körperlos. Sie nahm sich nicht mehr wahr. Dieser knappe Kilometer bergab, fliegend durch die Dunkelheit, dauerte nur wenige Minuten und doch erschien es ihr wie eine große Reise, zeitlos durch das Licht.

Sie erreichte den unteren Waldrand, war einen Moment nur erstaunt, Jene zu sein, die sie war und hier zu sein. Dann stahl sie sich noch ein paar letzte Sekunden aus ihrer Welt, hockte sich über den Waldboden, blickte in den Sternenhimmel und pinkelte sich den langanhaltend, wohltuend warmen Strahl über die Hände. Es war ein eigenes Gefühl, und sie konnte das Mädchen mit den Streichhölzern, die Kleine aus dem Märchen, so gut verstehen.

Die Lichtung, der Bach, das Haus. Der Bach so nahe am Haus. Die nördliche Ecke des zweistöckigen Gebäudes hatte keine drei Meter entfernt von der Bachböschung ihr Fundament. Es gab starke Erosionen und der reißende Wasserlauf spülte sich näher. Oft träumte sie von diesem stürmischen Bach, in dem sie dann samt Haus versank. Erstickte, überschüttet von Geröll und Schlamm.

Es tönte Tschaikowskys Klavierkonzert Nr. 1 in b-Moll, bis an den Waldrand. Vater war also schon zurück. Edda zog es vor, nicht die Haustür zu benutzen. Sie lief hinter das Haus, schwang sich auf eine kleine Mauer, die den Eingang zum Heizölraum in Türhöhe schützte. Sie hievte sich von dort auf die Fensterbank und kletterte leise in ihr Zimmer. Sie mochte diesen großen, eckigen, mit 4ooo Liter Diesel gesättigten Metallkasten nicht. Er wirkte bedrohlich und außerdem lagerte in seiner Nähe der Geruch einer Tankstelle. Sie hatte nie verstanden warum dieses Ungetüm direkt unter ihrem Kinderzimmer hockte. Aber die Mauer war hilfreich, da sie sonst nicht unbemerkt ins oder aus dem Haus hätte gelangen können. Niemand ahnte etwas von ihren nächtlichen Ausflügen.

Edda schien noch einige Momente Zeit zu haben. Sie wusste, wenn Van Cliburn diesen Satz zu Ende gebracht hatte, würde er ihn dreimal in voller Lautstärke wiederholen müssen. Sie schwärmte für diesen Pianisten, nicht wegen seiner Künste, davon verstand sie gar nichts, sondern weil er für sie so richtig aussah. So schön, ein bisschen so, wie sie sich Gott vorstellte. Sie kannte nur das Profil des Pianisten, vom großen Schwarzweiß-Foto des Plattencovers.

Konnte es schon die dritte Wiederholung gewesen sein? Vater hörte besonders gerne diesen Satz. Edda wusste nicht, warum diese bevorzugten Stellen immer in voller Lautstärke gehört werden mussten, denn er war kein bisschen schwerhörig. Sie erkannte nicht, dass ihr Vater nur das selbstgefällige Tongefüge suchte, es in sich hinein hämmern ließ, während er glaubte sich der Musik hinzugeben. Er berauschte sich dabei an sich selbst, an seinen sentimentalen Gefühlen, die ihm die zugänglichen Passagen vermittelten. Dabei entging ihm der Dialog zwischen Klavier und Orchester, er bemerkte nicht, wo und wann Partnerschaft gefordert oder perfekt erfüllt wurde. Er genoss nur die Ohrwürmer, jene Stellen, welche dieses Meisterwerk in aller Ohren hatte hängen lassen.

Edda schloss das Fenster, sie hielt die Luft an, riss sich die Hose vom Leib, trat die Schuhe unter das Bett, öffnete die Zimmertür, hielt weiterhin die Luft an bis sich die Zimmerdecke zu drehen schien und rief mit hochrotem Gesicht und kläglicher Stimme nach ihrer Mutter.

Sein Lieblingssatz war beendet, danach wurde der Rest des Konzertes in den Isobar-Bereich außerhalb der Schmerzgrenze geschaltet, während nebenher das Abendbrot gereicht wurde. Der Speichel, ununterbrochenen Gezeters ihrer Eltern, würzte das Mahl, gesellte sich zu den Background-Tönen der klassischen Musik. Dieses Tongemisch endete meist abrupt mit lautem Türenschlagen.

Eddas klagende Stimme aber, war bis in die Wohnräume zu hören gewesen. Der vertraut klappernde Schritt ihrer Mutter, die stets Schuhe mit hohem Absatz trug, begleiteten die gedrosselten Piano-Töne in Richtung Kinderzimmer. Edda hatte einen hochroten Kopf und Schweiß überdeckte ihr Gesicht. Ohne sich wirklich einer List bewusst zu sein, kratzte sie sich mit einem ihrer schwarz umrandeten Fingernägel an der inneren mittleren Nasenwand. Es war immer dieselbe Stelle die sofort aufplatzte, bei Druck oder zu starkem Reiben. Schon spritzte das Blut. Sie ließ sich auf ihr Bett sinken und hatte gerade noch drei Sekunden, um das klebrige Rot wirkungsvoll zu verteilen. Sie musste nicht am Abendbrottisch erscheinen, durfte im Bett bleiben und war an diesem Tag den unberechenbaren Launen ihres Vaters entkommen. Launen, die er besonders gerne bei Tisch zur Wirkung kommen ließ.

Für heute Abend war sie freigestellt von lästigen Schulfragen, diese hatten stets Übelstes zur Folge. Die Fingernagel-Kontrolle fiel somit ebenfalls aus. Wehe die Nägel wiesen schwarze Ränder auf, was nach Eddas Art den Nachmittag zu verbringen, nicht zu umgehen war. Und vor allem gab es keine Strafandrohungen, die sich in die Träume zu wälzen wussten.

Vater war meistens zu müde, selten wollte er am selben Abend seine Drohung einer Bestrafung in die Tat umsetzen. Während der Nachtstunden sollte seine Tochter Edda sich überlegen, welche Art des Prügelgerätes sie für den nächsten Tag bevorzugte. Ein feiner biegsamer Ast einer Weide, ein Ledergürtel oder die alte Pferdegerte standen ihr zur Auswahl frei. Falls sie sich für die Weide entschied, durfte sie den Stock am Bachrand selber schneiden. Vater prüfte dann fachmännisch diese Wahl auf seine Tauglichkeit. Mit drei, vier schnellen Hieben sauste das Stöckchen vor Eddas Nase durch die Luft. Einmal hatte Vater in seinem Eifer den Ledergürtel zu tief ergriffen, die Metallschnalle war ihm im heftigen Rückschlag gegen seine Hand geschleudert

Er hatte „Gott Verdammte Scheiße“ geschrien, „Ich Vollidiot!“ Der Ledergürtel flog in die Ecke und er hatte sich mit verzerrtem Gesicht die verletzte Hand gehalten, sie blutete und schwoll an. Edda hatte Tränen in seinen Augen entdeckt, das hatte sie noch nie gesehen. Sie hatte Mitleid mit ihm gehabt und ein bisschen über seinen Schmerz mitgeweint. Vater war aus dem Haus gestürzt und für drei Tage verschwunden.

Die Art, seine angedrohten Strafen zu vollziehen, war nicht sehr einfallsreich, die Auswahl gering. Sie hatte alle Angebote ausprobiert und spürte keinen Unterschied. Sie flehte minutenlang um Gnade und versprach hoch und heilig „Es“, was immer es auch gewesen sein mochte, nie wiederzutun. Sie sträubte sich mit Händen und Füssen und schrie schon, bevor Vater sie ergriff. Sie verriet ihren Stolz, kroch tief in die Welt der Unterwürfigkeit, obwohl sie sich immer wieder vorgenommen hatte, weder einen einzigen Laut des Schmerzes, noch eine Träne von sich zu geben. Das war ihr nie gelungen. Die Angst vor dem Schmerz erschien ihr weit qualvoller als der Schmerz selbst. Sie übte, sich dieser Vorfurcht zu entziehen, diesem inneren Zittern das Ruder nicht zu überlassen, an etwas Schönes zu denken, die ganze Nacht. Manchmal gelang ihr das, dann tankte sie Mut und träumte ihre Angst in die Flucht.

Oft genug hatte Vater seine Strafandrohung am nächsten Tag vergessen, sie konnte ihm drei oder vier Tage später wieder einfallen, und erst dann setzte er sie in die Tat um. So schwebte Edda stets in Angst vor ihm. Sobald sie sein Auto oder seine Stimme von weitem hörte, war sie plötzlich unauffindbar. Ihr wurde früh bewusst, dass die Angst, sowie die Freude vor einem Geschehen, stärker waren als das reale Erleben dieser Sache. Auch die Vorfreude auf die Sommerferien reihte sich in diese kindlichen Bewusstseinsübungen ein.

Aber an diesem Tag gab es erst einmal Ruhe und seine wortstarken Wutausbrüche und Beschuldigungen gegen unverschämte Gläubiger, Geschäftsleute, die nicht länger auf Mutters Hinhaltetaktiken eingehen wollten, schwebten dumpf über Edda hinweg. Zum Fenster hinaus. Sie hatte in früher Kindheit nicht verstanden, warum Vater diese Gläubiger so hasste. Waren sie etwa nicht die Guten? Gläubiger glaubten doch, glaubten an Gott.

Mit einem Käsebrot und dem Nachtapfel am Bettrand, einem nassen Tuch im Nacken, Van Cliburn vor Augen und dem angenehm moosigen Geruch an den Händen, schlief sie ein.

Viel zu lange bevor dieses Haus, zwischen Bach, Waldrand und Lärchenschonung, rechtmäßig bewohnbar gemacht worden war, hauste Eddas Familie darin. Diese alte Bruchstein-Ruine, mit ihrem halben Dach, wollte Vater umbauen und vergrößern, dreifach vergrößern! Obwohl die ursprünglichen Quadratmeter des Hauses für die sechsköpfige Familie mehr als ausreichend gewesen wäre. Sieben Köpfe, denn das Hausmädchen war ihm treu ergeben mitgezogen.

Da sich dieses halbe Haus in einem Landschaftsschutzgebiet befand, bekam er keine Baugenehmigung für sein Vorhaben. Es sei denn, das Haus wäre schon bewohnt und nachweislich eine größere Renovierung erforderlich. Also ordnete Vater sofort den Umzug an und die ganze Bande, wie er seine Familie nannte, wohnte fortan in dieser romantischen Ruine. Sehr bald gehörte eine Latrine zum Anwesen. Man saß auf einem rohen Holzbalken, der parallel hinter sich, in etwa dreißig Zentimeter Abstand, einen zweiten Balken befestigt hatte. Von beiden Seiten war der Parallelabstand mit Brettern zugenagelt, in der Mitte war nur eine quadratische Öffnung geblieben, das notwendige Loch. Die dadurch entstandenen seitlichen Ablageflächen bewahrten den Benutzer dieser Anlage vor dem Blick in die schlammige Tiefe. Doch nur, wenn er saß. Das Ganze war wie ein Steg auf Stelzen vor den Hang gebaut, man stieg von oben ein. Der Ort war mit einem kleinen Holzdach versehen, das mit Teerpappe vernagelt und mit einem Bretterverhau bis in Sitzsichthöhe ausgestattet war. Diese Notduftvorrichtung war etwa fünfzig Meter vom Haus entfernt, neben einem großen Holunderbaum. Eigentlich war diese Einrichtung anfangs nur für die Bauarbeiter gedacht, nun war es auch das Familienklo.

Mutter protestierte, schließlich gäbe es modernere Möglichkeiten solch ein Provisorium einzurichten. Vater fegte ihren Einwand vom Tisch. Es gäbe Schlimmeres als die Benutzung eines Donnerbalkens. „Seine“ Kriegsgefangenschaft zum Beispiel! Sie solle hier bloß nicht die Gräfin rauskramen.

Mutter hatte, zu Vaters Stolz und Ärgernis, einige Tröpfchen blauen Blutes in den Adern fließen, da konnten seine Seefahrer ahnen nicht mithalten. Er war bei weitem kein Befürworter der Monarchie, doch hätte er gerne selbst einige dieser vagen Tropfen in seinem Blut gewusst. Mutter war ihre Familienchronik lästig, er spottete zu oft darüber.

 

Also stöckelte sie durch das welke Buchenlaub ins Klo-Kabuff. Dort stand ein gefüllter Metalleimer mit ungelöschtem Kalk zur Verfügung, aus welchem man gelegentlich nach vollzogenem Akt, eine kleine, halb gefüllte Schaufel Kalk durch das Loch schippte. Es streute in die Tiefe und traf nicht immer den fabrizierten Punkt. Edda übte hier mit Hingabe ihre Treffsicherheit und ließ eine Unmenge Kalk in dem Loch verschwinden.

„Welcher Vollidiot verbraucht hier dauernd den ganzen Kalk zum Scheißen, ich habe doch deutlich genug angeordnet, nur ab und zu eine halbe Schaufel zur Desinfektion.“ So hörte man Vater über das ganze Grundstück brüllen. Holunderbeeren gab es nicht in diesem ersten Jahr, die Wurzeln waren möglicherweise durch den Kalk verbrannt, oder durch die Überdüngung.

Etwa dreißig Schritte weiter seitlich, minimal oberhalb, war der Rest des Badezimmers angelegt worden. Eine kleine Holzbrücke führte über ein schmales Bächlein, dessen Quelle ein Kilometer weiter oberhalb entsprang und in den großen Bach mündete. Ein starker Ast, mit einer sauberen Gablung, war zur oberen Hangseite hin, mittig vor der Brücke in das Bachbett gerammt. In dieser Gablung lag, in etwa ein Meter Höhe, ein langes, eisernes Rohr fast waagerecht im fließenden Wasser. Ein großer Teil des eisigkalten, sauberen Wassers wurde in dieses Rohr abgeleitet und ließ einen vollen Strahl in handlicher Höhe in eine Emailleschüssel platschen. Man hatte fließendes Wasser.

Edda stand breitbeinig, ein wenig gebückt, vor diesem Wasserschwall und wusch sich hastig das Gesicht. Beim Zähneputzen spuckte sie den grauen Schaum in das untere Buschwerk und versuchte jeden Tag ein anderes Blatt zu treffen. Diejenigen, die warmes Wasser für ihre Körperhygiene benötigten, mussten es ins Haus an die Kochstelle schleppen, dort erhitzen und sich mit ihrem wertvollen warmen Nass in irgendeine Ecke verkriechen, um sich, ungesehen von Maurern oder Kindern, zu waschen. Da dieser Zustand fast ein Jahr andauerte, war es im Winter eine Rutschpartie, sich auf dieser vereisten Holzbrücke um das Wasserholen zu bemühen. Diese Anlage wurde auch dann notgedrungen eifrig frequentiert, die Quelle galt in dieser langen Bauzeit als einzige Wasserversorgung für das Haus. Edda stank wie ein Frettchen. Das behauptete zumindest die Hausangestellte, die ihr mit Wurzelbürste und Seife zu Leibe rückte.

Einige Monate lang konnte man nur ein Wohnzimmer im Erdgeschoss, ein Schlafzimmer im oberen Stockwerk und eine notdürftig überdachte Außenküche als bewohnbar bezeichnen. Der neue, nicht genehmigte Anbau, war zunächst offiziell im Rohbau steckengeblieben, er war mit einem Bauverbot und Strafandrohung belegt worden, doch heimlich wurde weitergebaut.

Sieben Personen und ein Hund schliefen im selben Zimmer. Mutter und Vater, oder die treue Hausangestellte mit dem Vater ohne Mutter, schliefen manchmal unten auf dem Sofa. Dann lag Mutter heulend allein in ihrem kalten Bett. Edda schlüpfte gerne zu ihr.

Im Wohnzimmer wuchsen in hellem Grün die Brennnesseln aus dem festgestampften Lehmboden. Mutter verabscheute diese ganze Situation zutiefst, besonders die Toiletten-Einrichtung. Sie stand unschlüssig in diesem Balkenhäuschen und blickte hinunter auf den anwachsenden Kalk-Gemisch-Haufen. Angewidert zerrte sie ihren engen Kostümrock in die Höhe und holte sich als einzige immer wieder Holzsplitter in den Sitzbereich ihrer Oberschenkel. Einen Nachttopf lehnte sie für das “Große“ ebenso empört ab.

Vater war hartnäckig, es gab kein zurück. Sie hatte doch auch schon ohne Protest einen „Vierzigtonner“ samt Anhänger, voll beladen mit triefend nassem Kies, über glatte Straßen durch dunkle Winternächte gelenkt. Oder unzählige Male verschlafene Penner aus dem Obdachlosen-Asyl aufgesammelt, mit ihnen über den Stundenlohn feilschen müssen. Jene Wesen, die keinen festen Wohnsitz hatten, die am Freitagabend ihren gesamten Wochenlohn ertränkten und am Montagmorgen, verquollen in Nähe des Asyls herumlungerten und auf Arbeitsangebote hofften.

Mutter gehorchte, eine Verweigerung jeglicher Order ihres Mannes, hätte einem heimtückischen Wunsch zur Ehescheidung entsprochen.

Eine größere Ladung Fenster war geliefert worden. Vater hatte ungeduldig auf diese Sonderanfertigung gewartet. Natürlich duldete er kein einziges Standartmaß in seinem Haus. In vorderster Reihe, der zwei Dutzend Fenster, standen drei kleinere, schmale, längliche. Diese waren Vaters spezieller Einfall, sein stolzes Design. Sie waren für das Elternbadezimmer als Eckfenster geplant.

Edda hätte genau solch ein Fenster dringend gebraucht. Für ihre Baumbude. Damit wäre sie dort oben wunderbar vor dem Wind geschützt, und sie hätte trotzdem noch die großartige Aussicht. Also holte sie die Sackkarre und ein dickes Seil. Es waren so viele Fenster, es würde bestimmt nicht auffallen wenn eins fehlte.

Sie hievte den Fensterrahmen mit seinem eingebauten Glas auf die Karre und zurrte ihre Beute fest. Dann dachte sie, eigentlich wären zwei Fenster besser, sie könnte sie nebeneinander waagerecht anbringen, so wäre die gesamte Front geschützt. Also knotete sie das nächste Fenster dazu. Als sie gerade losziehen wollte, befand sie, dass das einzig übriggebliebene der kleinen Fenster zu auffällig unter den anderen großen war. Es wurde dazugebunden. Nun war ihre Kraft dieser drei Fensterfracht nicht ganz gewachsen. Sie schob und zerrte, zog und klemmte und war schon mit ihrer Fracht an dem hinteren Teil des Grundstücks angelangt. Es waren nur noch einige Stufen zu überwinden, danach wollte sie ihr Diebesgut verstecken und einzeln zu ihrem Baum transportieren, um es dann, so wie alles andere, was sich in diesem Nest befand, von oben hochzuziehen.

Sie ächzte schwer, verlor den Halt, die Sackkarre überschlug sich und hoppelte mit großem Geklirr und Gepolter die fünf Stufen hinunter. Es waren nicht nur die Scheiben zerdeppert, auch die Holzrahmen waren schwer beschädigt. Edda hatte die Knie aufgeschlagen und tiefe Schnittwunden an den Unterarmen. Alles wurde desinfiziert und danach bekam sie eine mittlere Tracht Prügel. Vater hatte den Lärm gehört und war hinzugeeilt. Sie war mehr erschrocken darüber, dass er plötzlich vor ihr stand, als dass sie den Schmerz der Strafe spürte. Sie hatte sich doch vorher vergewissert, dass sein Auto nicht da war. Wo kam er plötzlich her?

„Sein Wagen ist in der Werkstatt“, sagte einer der Arbeiter mit Bierfahne grinsend, als er Eddas erstaunten Blick bemerkte.

Vater war ein Hau-Ruck-Mensch. Wenn es etwas zu erledigen gab, selbst wenn es Zweifel aufwarf, stützte er sich auf die Tat und führte sein Vorhaben mit energischen Schlägen durch. Als wollte er sich und der Welt beweisen, dass man nur mit sofortigen Entscheidungen zum Ziel kommt. Weiterkommen, nannte er das. Mit eventuellen Fehlern konnte man sich später befassen. Erst einmal handeln, war seine Devise. Als säße der Teufel persönlich hinter ihm, mit der Drohung, sofort oder gar nicht.

Schon als junger Offiziersanwärter hatte er außergewöhnlich schnelle Entschlusskraft bewiesen. Er hatte Eddas Mutter nach wenigen Minuten des Kennenlernens, genauer gesagt nach einem halben Walzer, auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung in der Weihnachtszeit, einen Heiratsantrag gemacht. Er stand mit seinen Kameraden auf der Bühne und brillierte. Sie gaben in der Gruppe irgendetwas zum Besten, wobei er die Gelegenheit hatte sich besonders hervorzuheben. Tosender Beifall, besonders der reichlich anwesenden jungen Damen. Sie fiel ihm in der Roben-Menge sofort auf. Sie bewegte sich mit der eleganten Selbstverständlichkeit jener Menschen, die im erhabenen Luxus aufgewachsen, gesund und schön sind.