Der Professor mit dem Katzenfell

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Der Professor mit dem Katzenfell
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

GERD SCHUSTER




Der Professor

 mit dem Katzenfell




Katzen-Kriminalroman



FinEboox




Sämtliche Figuren und Ereignisse dieses Katzen-Kriminalromans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen sind rein zufällig. Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung der Texte und Bilder, auch nur auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Autors nicht erlaubt und urheberrechtswidrig. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen.





Gerd Schuster



»Der Professor mit dem Katzenfell«




Copyright © 2013: Gerd Schuster







g.schuster@fineboox.de








Cover/Fotos: Elke Schuster







www.boehmdesign.net






Beratung/Koordination: Michael Schneider



Version: 1.0



Umfang: 463 Seiten auf Basis der Normseite



mit 30 Zeilen zu 60 Anschlägen;



559.761 Zeichen inkl. Leerzeichen





www.fineboox.de





Published by



epubli GmbH, Berlin





www.epubli.de










ISBN: 978-3-8442-5656-7




Das Buch:



Professor Sebastian Schlichtkohl von der Universität Hamburg geht ganz in seinem Fachgebiet auf, der Sumerologie. Auch in seiner Freizeit erforscht der überaus arbeitsame, aber ein wenig linkische Gelehrte Sprache und Leben der ersten Hochkultur der Menschheit. Während er 5000 Jahre alten Staub schluckt, vernachlässigt er die zwischenmenschlichen Beziehungen, Ernährung, Kleidung, Entspannung und andere »unwichtige« Lebensbereiche.



Grund für Fröhlichkeit hat der Sumerologe wenig, denn er lebt nach einer gescheiterten Ehe alleine und wird am Historischen Institut von dessen auf sein überlegenes Fachwissen eifersüchtigen Chef gemobbt. Da er grundehrlich ist und sich mit Intrigen nicht auskennt, wehrt er sich überhaupt nicht oder falsch, obwohl die Nachstellungen in Kapitel 2 ein bisher nie da gewesenes Maß erreichen. Zu allem Überfluss sucht ihn eine harmlose, nichtsdestotrotz aber unangenehme Krankheit heim, die alle seine Haare ausfallen lässt.



Mittelpunkt des Lebens sind für den fähigen Altorientalisten und Keilschrift-Experten seine beiden Katzen, die er abgöttisch liebt, und seine schöne Studentin Mara Velasquez, in die er heimlich verknallt ist. Aber mit einem Schädel, der haarlos ist wie eine Bowlingkugel und dem selbst Wimpern und Brauen fehlen, kann er bei ihr nicht landen.



Ohne sein Zutun gerät der 42jährige Schlichtkohl mitten in dieser Lebenskrise in einen gefährlichen Kleinkrieg zwischen seinem Freund, dem Chemie-Professor Gotthard Hasenklee, und einem großen Tierfutterkonzern. Katzenfan Hasenklee hat festgestellt, dass die industriell produzierte Katzenkost neben vielen extrem unappetitlichen Zutaten wie eingeschläferten Haustieren Sojahormone enthält, die für die Samtpfoten lebensbedrohlich sind. Er hat dem Konzern ein Ultimatum gestellt: Entweder das Gift verschwindet aus dem Futter oder die Presse erfährt von der krebserzeugenden Fracht. Als Folge wird sein Kater Leo ermordet und sowohl Hasenklee als auch Schlichtkohl geraten in Lebensgefahr.



Aber obwohl der Historiker seine Katze Sammi mit dem Wunsch nervt, sie möge ihm das Geheimnis ihres unerschöpflichen Haarwuchses verraten, unterstützen ihn seine Stubentiger – und mit ihnen alle anderen Katzen Hamburgs – auf vielfältige Weise im Kampf gegen die Futtermafia. Sie stoßen ihn mit der Nase auf Dinge, die er übersieht, retten Hasenklee und ihm das Leben und ermöglichen den beiden einen Sieg. Helfend greift auch Professor Li Ha ein, ein Sumerologe aus Seoul, der das r als l ausspricht, zeitweise auch das l als r.



Sammi, mit der Schlichtkohl per PC zu korrespondieren lernt, verrät ihm sogar das Rezept für ein Haarwuchsmittel – aber der Professor macht Anwendungsfehler und findet sich wenige Stunden vor seinem Keilschrift-Hauptseminar, bei dem er Mara erwartet, von Kopf bis Fuß behaart und getigert wieder.



Mithilfe der Katzen meistert er aber auch dieses Problem und viele andere Schwierigkeiten. Seine eigenen Haare wachsen wieder, er wird positiver, und er kommt der schönen Mara näher.



Gleichzeitig erkennt Schlichtkohl, wie bruchstückhaft sein Wissen über Katzen ist, und er informiert sich – mit erstaunlichen Ergebnissen. Hauskatzen, erkennt er, der zur Beruhigung Unsinnsgedichte a la »Jabberwocky« (Lewis Carroll) verfasst, haben zahlreiche Fähigkeiten, von denen die meisten Halter nichts wissen.



Im Verlauf des Buches erfährt er – und der Leser – alles Wissenswerte (und oft Unbekannte bzw. schwer Zugängliche) über die Pfoten und Krallen, das Fell (inklusive Putzen und Katzenallergie), die Schnurr- und Tasthaare und das Schnurren der Stubentiger.




Der Autor:



Gerd Schuster wurde im Juni 1946 in Limburg an der Lahn geboren, wo er schon als Gymnasiast Artikel für Zeitungen – u. a. die FAZ – schrieb. Nach dem Studium an den Universitäten Frankfurt und Mainz und dem Erwerb des akademischen Grades eines Diplomübersetzers zog Schuster 1972 nach London. Dort arbeitete er als Lexikograph bei George G. Harrap und ab 1974 als Redakteur für den deutschen Dienst der Washington Post und der Los Angeles Times. Nach zwei Jahren als Leiter des Dienstes ging er 1978 nach Bonn zur Nachrichtenagentur Reuters, wo er sehr erfolgreich unter eigenem Namen Wissenschafts-Features schrieb. Bei Reuter wurde Schuster slot man, Schichtleiter.



1983 wechselte er aus Überzeugung zum neugegründeten Umweltmagazin »natur« nach München, wo er bis zum Ausscheiden von Gründer und Chefredakteur Horst Stern blieb. Er schrieb weiter für die FAZ, unter anderem eine Reportage über den Flug mit einem Wetterflugzeug der NOAA-»Hurricane Hunters« durch das Auge des Mega-Hurrikans »Gilbert« (1985), mit dem er in die Endausscheidung des Kisch-Preises kam.



Ende 1988 verließ Schuster das zahnlos gewordene Öko-Blatt und ging am 1. Februar 1989 als Leiter eines neugegründeten Ressorts »Ökologie, Wissenschaft und Forschung« zum Magazin Stern nach Hamburg. Nach einem Jahr Verwaltungsarbeit wurde Schuster Reporter, was ihm mehr lag. Als produktiver Schreiber und »Edelfeder« zeichnete sich Schuster durch akribische Recherche und Wagemut aus. Neben riskanten Themen wie dem Krieg in Kuwait, dem amerikanischen Atomwaffentestgebiet Nevada Test Site, der Pestepidemie in Indien oder der Greenpeace-Aktion gegen die Atominsel Moruroa sowie lebensmittelchemischen Enthüllungsartikeln widmete sich Schuster immer mehr anspruchsvollen Tiergeschichten. Bis zu seinem Ausscheiden beim Stern Ende März 2006 verfasste Schuster rund siebzig solcher Reportagen, in denen er häufig Tierquälerei aufdeckte. Immer wieder kam es nach Veröffentlichung zu Gesetzesänderungen zugunsten der Tiere.



Für seine Arbeit wurde Schuster mehrfach ausgezeichnet, unter anderem vom Deutschen Tierschutzbund (2005). 2006 belegte er beim IUCN-Reuters-Wettbewerb für Umweltberichterstattung den zweiten Preis in der Kategorie Europa, 2007 wurde ihm der José-Lutzenberger-Preis für investigativen Journalismus verliehen.



Schuster ist Autor oder Ko-Autor von vier Büchern, darunter »Die Denker des Dschungels« (2007, Text von Schuster), das zum Bestseller wurde und bisher in drei Sprachen übersetzt worden ist. Außerdem hat Schuster Beiträge in rund fünfzig Büchern veröffentlicht.




Kapitel 1



Der Niesreiz zuckte durch die schlafende Gestalt im bunt gemusterten Tchibo-Bettzeug wie der Blitz durch eine regennasse Wäscheleine. Er katapultierte den nachtschlaffen Körper in eine stramme Sitzhaltung, warf seinen Kopf in den Nacken und kniff seine Augen, die sich gerade erschreckt geöffnet hatten, derb wieder zu.



Gleichzeitig sperrte er den Mund seines hilflosen Opfers, dessen magere Schultern spitze Beulen in seinen graublau gestreiften Pyjama stießen, so weit auf, wie es Kiefergelenke und Bänder erlaubten, blähte seine Nüstern und pumpte seine Lungen bis zum Bersten voll Luft.



Ein titanischer Nieser, dämmerte dem schlaftrunkenen Sebastian Schlichtkohl, hatte Besitz von ihm ergriffen und würde jeden Moment losbrechen. Der Professor bemühte sich, vollends aufzuwachen und seine Sinne zu sammeln; denn er wusste aus leidvoller Erfahrung, dass man sich verletzen konnte, wenn Arme oder Hände, beim nächtlichen Niesen in der Ekstase des Augenblicks ins Dunkel geschleudert, an eine Kante von Bettrahmen, Kopfteil oder Nachttisch krachten. Einen Unterarmgips hatte ihm das schon eingetragen.



Dennoch gab sich Schlichtkohl der Eruption, die sich in jeder Faser seines Körpers mit Urgewalt anbahnte, willig hin, würde sie doch das unerträgliche Kitzeln und Kribbeln fortblasen, das in seinem Nasen-Rachen-Raum tobte. Mit beiden Händen krallte er sich am Bettzeug aus dem Kaffeeladen fest. Beim Barte des alten Meskiaggascher, des Königs von Uruk: Es würde ein Donnerschlag werden, dem die Mauern von Jericho nicht hätten standhalten können! Eben ging es los! »Ha ...«



Da erstarb, verging, erlosch, ja: desertierte der Niesreiz. Urplötzlich war er einfach weg. Mit ihm verschwanden die am Gaumen hüpfenden und tanzenden Asseln, Ameisen und Aasfliegen, oder was immer dort kitzelte, als hätte es sie nie gegeben. »Ha-ha-ha ...!«hechelte der Forscher dem Nieser hinterher. Er kam sich betrogen vor, und das fand er albern.



Frustriert japste er noch ein paar Mal, bis die Nachbeben der Eruption, die sich mitten in ihrer Ouvertüre davongestohlen hatten, abgeklungen waren. Er ließ die überschüssige Luft ab und wartete ergeben auf eine Rückkehr der Krabbeltiere und ihrer Kitzelorgie.

 



Man kannte das ja: Ein Nieser war keiner – besonders dann, wenn man eine Katze im Bett hatte, die Haare verlor wie eine Wunderkerze Funken. Wenn er auch wirklich keine zweite Fraktur wollte, würde er sich immer für den Stubentiger entscheiden, für die Niesattacken und den Gips, sollte er vor die Wahl gestellt werden zwischen heilen Knochen und herzerwärmender Katzen-Nähe.



Aber das Warten war vergeblich – nichts geschah. Schlichtkohl, der das ewig gleiche und doch immer wieder andere Spiel aus zahllosen nächtlichen Niesattacken kannte, wischte sich mit dem Ärmel der Schlafanzugsjacke die Tränen aus den Augen und ein paar Tropfen von der Nase. Obwohl ihn Bleigewichte ins Bett zurückzogen, zwang er sich, noch eine Weile sitzen zu bleiben und lauschte gähnend in sich hinein. Regte sich da etwas? Bereitete der Nieser einen neuen Raptus vor?



Fehlanzeige. Die Nase war überflutet, aber reizfrei. Sie triefte, aber nichts kitzelte. Ächzend ließ sich Schlichtkohl in die Kissen zurücksinken. Gerade hatte er seinen Schädel mit einem wohligen Seufzer auf das Kopfkissen gebettet und war dabei, den linken Arm unter der Decke wieder um seine Katze Sammuramat zu legen, als es ihn erneut überfiel. Er schoss in die Senkrechte zurück, saugte sich währenddessen mit Pressluft voll, klappte den Mund auf, um loszuprusten – und, »ha-ha-ha-ha!«, wurde wieder gefoppt.



Jetzt war der Professor wach genug, um zu bemerken, dass er hechelte wie ein fetter Etagendackel, der beim Spaziergang im Park ein Kaninchen gejagt und sich zu viel zugemutet hatte, und er fühlte, wie Verdruss in ihm aufkeimte. Er wartete nochmals ein wenig, ließ sich aber dann zum zweiten Mal in die Kissen fallen.



Er drehte sich nach links, reckte den Arm über die Katzenbeule im Bettzeug hinweg, knipste die Nachttischlampe an und versuchte ein Papiertaschentuch aus dem Spender zu ziehen, als es ihn ganz ohne Vorwarnung übermannte. Man könnte das, was sich abspielte, durchaus als nasale Frühzündung bezeichnen, denn Schlichtkohl hatte nicht einmal mehr die Möglichkeit, sich aufzusetzen: Die Detonation platzte mitten hinein in sein zwanghaftes Einatmen und kehrte die Luftströme in ihm gewaltsam um. Er röhrte ins Schlafzimmer und plumpste entkräftet ins Bett zurück.



Die Katze, die selig an seinem Bauch geschlafen hatte, als noch Ruhe herrschte, und trotz seines Gezappels neben seiner linken Hüfte ausgeharrt hatte, war bei dem Ausbruch, der sich weit unschöner angehört hatte als die gebräuchliche Lautmalerei »Hatschi!«, auf die Füße gesprungen. Aber sie stürmte nicht aus ihrer Höhle unter dem Plumeau und lief auf und davon, sondern begann sich hektisch zu putzen. Das Bett vibrierte im Rhythmus ihrer Kopfbewegungen, als schlüge in der Matratze ein großes Herz. Ihr Schwanz peitschte wild, aber weich über seine Oberschenkel.



Natürlich war Sammi sauer. Sie hasste jede Art der Ruhestörung beim Kuscheln, und sie verabscheute Niesen – wie alles, was mit Krach und Luftzug verbunden war. Dabei war sie an allem schuld.



Die Seidenfusseln, die ihr grauer Kartäuser-Pelz myriadenfach ausspuckte, wurden von seiner Nasenspitze angezogen wie Eisenspäne von einem Magneten. Sobald er in Sammis Nähe war, ließen sich die Katzenhaare auf seinem Gesicht nieder. Wenn er die Katze streichelte, sie auf seinem Schoß saß oder in seinem Bett lag, dauerte es keine drei Minuten, und an – wahrscheinlich auch in – seiner Nase sprießte ein Rasen aus den grauen Flusen, aus dem schnell ein Gestrüpp wurde. Irgendwann ging dann die Nieserei los.



Gott sei Dank litt er nicht an einer Katzenallergie; schuld war schlicht und einfach der mechanische Kitzelreiz, hatte der Allergologe gesagt, nachdem er seinen Rücken mit Dutzenden von Nadeln traktiert hatte. Für den ergebnislosen Zehnminutentest hatte er später eine Rechnung über 215 Euro geschickt. Davon konnte man zwei Katzen ein Vierteljahr lang ernähren!



Wäre Sammuramat ein Angoraschaf, dachte der Professor weiter, während er ihr Zeit ließ, sich zu beruhigen, wären die wildesten Wunschträume der Gentechniker Wirklichkeit geworden – das Schaf mit dem unerschöpflichen Fell, eine Art goldenes Vlies der Moderne. Schluss wäre mit dem mühsamen Scheren und dem sich an die mittelalterliche und oft blutige Prozedur anschließenden stupiden zwölfmonatigem Warten, bis sich auf den nackten Schafen wieder ausreichend Locken kringelten! Man würde täglich Wolle ernten können – durch bloßes Bürsten!



Schlichtkohl seufzte. So stark, wie seine Katze beim Striegeln haarte, müsste sie längst nackt und kahl sein. Die Bürste war in Minutenschnelle mit samtigem grauem Gewölle so vollgepackt, dass sie kaum noch wirksam war, und die Luft war erfüllt mit einem Schneegestöber schwerelos schwebender Kräuselhaare, die ihm unweigerlich in die Augen gerieten und auf seiner fettigen Nasenspitze andockten.



Er konnte das Tier so lange bürsten, wie er wollte, Unmassen von Haaren aus seinem kurzen Fell jäten, aber nie wurde auch nur die kleinste schüttere Stelle im Stubentiger-Pelz sichtbar. Im Gegenteil, Sammis Katzennerz schien durch die Behandlung, die sie mit geschlossenen Augen langgestreckt auf der Seite liegend, laut schnurrend und voller Wohlbehagen die Vorderpfoten spreizend genoss, dichter und dichter zu werden.



Diese wunderbare Haar-Vermehrung war das exakte Gegenteil seines fortschreitenden Körperhaarverlustes. Er war am ganzen Körper kahl wie ein neugeborenes Kind, wurde, was die Dichte des Haupthaars anging, von jedem kahlen Säugling übertroffen, und jetzt hatte der Mottenfraß selbst seine Augenbrauen erfasst! Schlimmer noch: In den letzten Tagen hatte er neben den Brauenhaaren beunruhigend viele Wimpern im Waschbecken gefunden!



Es war eine Krankheit, die an sich harmlos war, an der niemand starb, die aber vielleicht mehr quälte als Leukämie. Sie war relativ häufig, aber so gut wie nie sah man ihre Opfer auf der Straße, weil sie sich ihrer Verunstaltung schämten und sich versteckten. Es war ein Gebrechen, das einsam machte. Als ob er nicht schon einsam genug war! Schlichtkohl stieß den schlimmsten sumerischen Fluch aus, der ihm einfiel – heftig, aber gedämpft, um die Katze nicht zu erschrecken.



Je mehr er unter seiner Kahlheit litt, für die der Hautarzt einen wissenschaftlichen Namen – Alopecia areata – hatte, aber keine Kur, desto stärker faszinierte ihn Sammis unerschöpfliches Fell: Er hatte sogar schon ein paar Mal bedauert, dass er Alte Geschichte lehrte und nicht Zoologie.



Wie toll wäre es, wenn er dienstlich dem Geheimnis dieses feliden Mega-Haarwuchses nachspüren könnte, statt sich bis zu seiner Pensionierung mit den Ackerbau- und Bewässerungstechniken der dritten Dynastie des sumerischen Stadtstaates Ur oder dem Ursprung der Sprache von Sumer befassen zu müssen! Die Lösung beider Forschungsgebiete lag tief unter dem Geröll der Geschichte verborgen.



Gelänge es ihm, zu klären, wo sich der Wachstums-Turbo von Sammis grauem Vließ verbarg, wäre das für ihn selber gleich in mehrfacher Hinsicht segensreich. Vielleicht hörten seine Körperhaare auf, sich von ihm zu verabschieden oder sprossen sogar wieder neu! Da das Patent einer derartigen Glatzenkur unermesslichen Wert besäße, könnte ihn Sammi zum wohlbehaarten Krösus machen!



Schaffte er es dagegen in jahrzehntelanger einsamer Fron, die linguistischen Wurzeln des Sumerischen zu entdecken, würden zwei oder drei Fachzeitschriften Beiträge von ihm erbitten und etwa genau so viele Monatsblätter über ihn schreiben. Es würden auch ein paar lobende Mails oder Briefe von Kollegen eintreffen, die wie er 5000 Jahre alten Staub schluckten. Vielleicht überreichte man ihm sogar einen Preis, den auf der Welt maximal fünfhundert Wissenschaftler kannten, und der statt mit Geld allein mit Ehre dotiert war.



Wenn er weiter die erste Hochsprache der Menschheit, die erstaunlicherweise, wie es schien, mit keiner anderen bekannten Sprache verwandt war, mit Baskisch, Bantu oder Burushaski verglich, würde er – das war schmerzhaft klar – kahl werden wie eine Billardkugel. Aber wollte er das? Nein, nein und nochmals nein!



Die Glatze war nicht tragisch, und die verschwundenen Bein-, Achsel- und Schamhaare sah keiner, oder man hielt ihn für gut rasiert. Aber bei Augenbrauen und Wimpern hörte der Spaß endgültig auf! Je mehr er davon verlor und das Aussehen eines Molches annahm, desto mehr würden seine Lehrveranstaltungen verwaisen, und seine Lieblingsstudentin Mara käme nicht unregelmäßig wie bisher, sondern überhaupt nicht mehr in sein Keilschrift-Hauptseminar, donnerstags um elf Uhr c. t. in Raum 107 im Institut am Allendeplatz 1.



Mit ihr würde er die einzige nicht-akademische Motivation verlieren, in die Hochschule zu pilgern, und seinen einzigen ein wenig lasziven Tagtraum. Wenn er sich nicht mehr auf den Donnerstagmorgen freuen konnte, bot der Job keinen einzigen Lichtblick mehr; denn die einstmals recht große Freude an der Lehre hatten ihm die Kollegen gründlich ausgetrieben. Dann blieben ihm nur Mobbing, Mühsal, Monotonie und Melancholie – eine Misere ohne Ende!



Wer wollte schon einen Dozenten, der aussah, als habe er stundenlang in Natronlauge gelegen? Sollte er seine Brauen aufmalen wie viele Frauen? Nein, erstens konnte er das nicht, und zweitens würde man ihn dann obendrein noch für schwul halten! Beim Hodenbruch des Enmerkar, Meskiaggaschers mißratenem erstgeborenem Sohn! Sein Leben war eine Sackgasse! Es war ein Gefängnis, ein Labyrinth behördengrauer Hochschul-Korridore und mit Keilschrifttafeln vollgepackter Museumskeller, aus dem es kein Entkommen gab.



Nicht einmal, was Katzen anbelangte, war ihm das Schicksal hold gewesen. Erst mit 37 hatte er erkannt, dass es Katzenhalter gab und vom Leben Benachteiligte. Dass Hunde Herrchen hatten, Katzen aber Bedienstete, und dass die geistigen Eigenschaften vieler Haustiere und ihr emotionales Potenzial von der Wissenschaft sträflich unterschätzt wurden.



Hätte er im ersten Semester die Bekanntschaft eines der Schlaf- und Lebenskünstler mit den Schnurrhaaren gemacht, wäre vielleicht alles anders gelaufen.



Aber er war mit Hunden aufgewachsen, Dackeln und einem Schäferhund. Das waren nette und treue Tiere gewesen, die er gern eine Minute hinter den Ohren gekrault hatte, und die manchmal neben ihm auf der Couch gelegen hatten, wenn er als Jugendlicher fernsah. Aber sie waren zu schmutzig gewesen und hatten zu sehr gestunken, um mit ihnen zu schmusen oder sie gar mit ins Bett zu nehmen. Er hatte sie gern gehabt, aber nicht geliebt wie Sammi.



Vielleicht waren die Hunde daran schuld gewesen, dass ihn Zoologie früher nicht gereizt hatte. Aber heute hatte er erkannt, dass es – ganz abgesehen von den möglicherweise lukrativen Geheimnissen seiner Katze – Vorteile für Universitätslehrer haben konnte, wenn ihr Lehrstoff keine 5000 Jahre auf dem Buckel hatte und die Studienobjekte nicht zu Staub zerfallen waren, sondern lebten wie Sammuramat.



Sebastian Schlichtkohl schlug mit größter Vorsicht das dünne Sommer-Federbett zurück. Maximale Behutsamkeit war angesagt; denn wurde die Decke zu rasch aufgeklappt, verstand Sammi das als rüde Aufforderung, das Bett sofort zu räumen und rannte in wilder Wut davon. Dabei trampelte sie nicht selten mit Pfoten, die spitz, eisenhart und bleischwer waren und sich wie die Pfennigabsätze einer dicken Frau anfühlten, über ihn hinweg, bohrte ihm dabei die eine oder andere Kralle ins Fleisch und plumpste wie ein Kartoffelsack auf den Boden.



Wie die kleine Katze es anstellte, sich so schwer zu machen, und wie sie ihre Samtpfoten in stählerne Stößel verwandeln konnte, waren zwei weitere ihrer vielen Geheimnisse.



Sammi tat so, als bemerke sie nicht, dass die Decke gelüftet wurde. Den Professor konnte sie aber nicht täuschen: Schlichtkohl sah, dass sie ihren Rücken mit der beinahe verbissenen Konzentration putzte, die Katzen bei der Fellreinigung besonders dann aufbrachten, wenn sie damit eine Emotion wie Ärger, Unsicherheit oder Scham tarnen wollten.



Sie warf den nach hinten gedrehten Kopf mit Schwung in die Luft, riss mit lautem Schmatzen den Rachen auf und ließ die Zunge auf das Fell niedersausen wie Bauern im Mittelalter ihre Dreschflegel auf angehäufte Getreideähren.



Es sah anstrengend aus, strapaziös für Skelett, Muskeln, Bänder und Sehnen, und war es wohl auch. »Entschuldige, meine Süße!«, sagte Schlichtkohl sanft, »ich wollte dich nicht wecken. Es waren wieder mal deine Kitzelhaare an meiner Nase, weißt du! Du müsstest es ja langsam kennen!«

 



Sammi unterbrach die Fellpflege einige Sekunden lang und schaute zu Schlichtkohl auf. Ihre wegen des Lampenlichts zu Schlitzen verengten flaschengrünen Augen blitzten ihn verdrießlich an. »Queck!«, sagte sie – und putzte weiter. Es klang tadelnd und gleichzeitig schnippisch. »Queck«, wusste der Professor, war ein Laut mäßigen Grolls, eine Art milden Verweises; ein Katzenwort, das etwa »Unerhört!«, »Muss das sein?« oder »Immer dieser Ärger!« bedeutete. Sammi war nicht wirklich böse, meinte aber, so tun zu müssen.



Wenn sie nicht gerade zusammengerollt auf einem Sessel, seinem Bett oder dem Sofa schlief und keine »Sprechstunde« hatte, antwortete die Katze so gut wie immer, wenn er sie ansprach. Sie war eine kleine Plaudertasche, und das war ein Segen, denn der Kater Utnapischtim – wahrscheinlich lag er unter dem Bett im Gästezimmer und bewachte seinen Hort von Plastiktüten – sagte kein Sterbenswörtchen. Er ließ sich nicht einmal anfassen, und zu sehen bekam man ihn nur zur Fütterung, wenn er Hochsprung und Fliegen übte oder wenn ihn das sehr seltene Gelüst überkam, in einem seiner Aldi- oder Spar-Beutel geschaukelt zu werden. Nach dem, war er durchgemacht hatte, war seine Scheu aber kein Wunder.



Schlichtkohl wartete eine Putzpause ab und streichelte ganz vorsichtig Sammis Bauch. An vorlesungsfreien Tagen sprach manchmal überhaupt niemand mit ihm – von Sammi abgesehen. Busfahrer, Verkäufer und Kassiererinnen, mit denen man aus purer Notwendigkeit Worte wechselte, zählten nicht. Das war, wenn es hoch kam, Informationsaustausch, aber kein Zwiegespräch. Danach sehnte er sich aber wie jeder Mensch.



»Komm, leg dich wieder hin!«, bat Schlichtkohl. »Lass uns weiterschlafen! Ich hab morgen Vormittag ein Seminar.« Er streichelte sanft über Kopf und Rücken der Katze und fasste prompt in ein paar spuckefeuchte Stellen. Aber das störte ihn nicht. Wie konnte man sich vor Katzenspeichel ekeln, wenn er als Putzmittel für derart blütenweiße Pfoten und ein ebensolches Lätzchen sorgte und die Mieze nicht nur säuberte, sondern ihr noch dazu einen Geruch verlieh wie frisch gelüftete Wäsche? Das war noch ein Wunder. Hatte je ein Biochemiker die Enzyme in der Katzenspucke untersucht?



Er drückte sanft auf den seidenweichen Rücken, um seinen Worten Gewicht zu verleihen. Aber das mochte Sammi nicht – natürlich. Zur Abwehr der Bevormundung machte sie einen Buckel, stemmte ihre Beine so steif wie die stählernen Pfeiler einer Bohrinsel ins Laken und starrte ihn tadelnd an.



Schlichtkohl seufzte wieder. Zwar war es sicherlich korrekt, dass es Katzenhalter gab und vom Leben Benachteiligte; aber diese schliefen bestimmt besser. Als Herrchen war man aber den extremen Rhythmen des Katzenschlafes ausgesetzt: Einmal – besonders im Winter – lag Sammi die ganze Nacht wie ein warmes Samtkissen an seinem Bauch. Dann wieder sprang sie schon nach fünf Minuten aus dem Bett, kehrte nach einiger Zeit zurück, piepste um Einlass, stupste ihn mit ihrer feuchten Nase an oder kitzelte ihn mit ihren Schnurrhaaren wach.



Sie schmiegte sich an ihn und erbebte vor Schnurren, machte aber bald den nächsten Ausflug, weil irgendein kätzisches Bedürfnis sie dazu trieb, bat zehn Minuten später piepsend um Öffnung der Decke, und so weiter. Es war ein nächtliches Kommen und Gehen wie in einem Puff in der Herbertstraße.



In typischer Katzenart verfolgte das nachtaktive Kleinraubtier skrupellos die eigenen Wünsche und Ziele und scherte sich nicht um seinen Schlummer. Und drehte er sich einmal im Tiefschlaf »falsch« im Bett um und drückte die Katze oder gab ihr einen Rippenstoß, biss sie ihn. Manchmal schleppte er sich morgens wie gerädert, mit roten Zahnabdrücken an Unter- und Oberarmen und verschorften Kratzwunden am restlichen Körper, in die Universität, während Sammi in den Kissen seines Betts in den Tagestiefschlaf fiel. So waren Katzen eben, und so ungerecht waren Arbeit, Muße und Schlaf auf dieser Welt verteilt.



In der letzten Nacht hatte sie ihn einmal geweckt, indem sie ihn aus nächster Nähe angestarrt hatte. Er war plötzlich aufgewacht und hatte direkt in ihre Smaragdaugen geschaut, die nur fünf Zentimeter von seiner Nase entfernt gewesen waren und ihn mühlradgroß, ernst und nachdenklich fixiert hatten. Sammi hatte bei der Inspektion, dem Hypnoseversuch oder der telepathischen Séance, was immer es gewesen war, keinen Laut von sich gegeben.



Wie lange hatte sie in sein Schläfergesicht geschaut? War es möglich, dass ihn eine Katze wach-denken konnte? Wie kam sie auf eine solche Idee? Und wie war es zu erklären, dass sich die Feliden ständig neue Überraschungen einfallen ließen?



»Na los, Sammimaus!«, sagte der Professor eine Spur energischer. »Ich hab di