Ich könnte von diesen Dingen nicht mehr sprechen, wie ich es heute kann, wenn ich sie damals nicht registriert hätte. Wie alt ein achtjähriger Knabe sein kann, ahnen im Allgemeinen erwachsene Menschen nicht. Was mich zunächst am tiefsten überraschte und schmerzte, war das Verhältnis der Mutter zu dem Hause, ohne das ich mich und die Welt nicht zu denken vermochte. Diese schönen Säle, Bilder und Zimmer, diese rätselhaften Kammern unterm Dach, diese Treppen, Korridore und tausendfältigen Schlupfwinkel, die Welt Unterm Saal, der hallende Tunnel, der von dort in den Hintergarten ging, die bemoosten Dächer, der Taubenschlag: der geradezu einzigartige, unübertreffliche Schauplatz meines Werdens, meiner Spiele, meines Lebens überhaupt sollte in Wahrheit ein wohl auch kinderfressender, glühender Moloch sein, der das Lebensglück meiner Mutter vernichtet hatte? Meine Mutter selber behauptete das.
Ihr das zu glauben, ihren unbegreiflichen Irrtum, ihre Blindheit diesem Paradiese gegenüber auch nur zu entschuldigen, war für mich ein Ding der Unmöglichkeit. Und so stand ich auf Vaters Seite, als er sagte, dass nun einmal sein seliger Vater ihm dies Haus hinterlassen habe und er, selbst die Pietät gegen den mühsam errungenen Besitz seiner Eltern beiseitegesetzt, es keinesfalls gegen ein Butterbrot verschleudern könne.
Die peinliche Auseinandersetzung und ihre leidenschaftliche Maßlosigkeit kamen einem lokalen Erdbeben gleich, das den familiären Boden erschütterte. Niemals erlangte er mehr seine alte Festigkeit.
Mit diesen Erfahrungen war die Erkenntnis verknüpft, dass die selbstverständlichen Voraussetzungen meines bisherigen Daseins nicht durchaus standhielten. Mir gingen bestimmte Sätze und Worte meiner Mutter immer aufs neue durch den Sinn: »Du sitzt mit Gustav im Büro, ihr schreibt, ihr rechnet, ihr rechnet und schreibt, und wenn ihr noch so sehr rechnet und schreibt, ihr rechnet und schreibt die Schulden, die uns drücken, nicht weg und könnt die fälligen Zinsen nicht aufbringen.«
Auch meinen Geschwistern waren die schweren Krisen zwischen Vater und Mutter nicht verborgen geblieben. Seltsamerweise nahmen wir für den Vater und gegen den Dachrödenshof Partei. Aus dem erregten Gemunkel von Johanna und Carl und gelegentlich hingeworfenen Worten der Mutter ging mir nach und nach, gegen mein Widerstreben, auf, dass noch andere Menschen als wir Eigentumsrechte auf den Gasthof zur Krone hatten, was mich aufs schmerzlichste traf und entrüstete.
Im grellen und peinlichen Lichte dieser Tage erklärte sich mir ein Besuch im vergangenen Jahr, der mich damals eitel Freude und Wonne dünkte. Ein reizendes Mädchen, Toni, siebzehnjährig, Halbschwester meines Vaters und Schwester Onkel Gustavs, der im Hause war, tauchte plötzlich bei uns auf, sie und ihre ältere Schwester. Sie hatte ein großes Glück gemacht, wie es hieß, da ein reicher Industrieller aus Remscheid um sie geworben und ihr Jawort erhalten hatte. Ich war sogleich in Toni verliebt und genoss eine Menge Zärtlichkeiten von ihr, wie sie ein übermütiges und glückberauschtes Kind an einen Siebenjährigen ohne Gefahr verschwenden kann. Als nach einigen Tagen der Bräutigam erschien, war die Stimmung gedämpfter geworden. Und kurz und gut, Mijnheer Soundso – er trug sich wie ein Holländer –, ein Eisen- und Stahlwarenfabrikant, hatte beschlossen, den Vermögensanteil seiner Braut und im Auftrag den der anderen Halbschwestern um jeden Preis aus dem Gasthof herauszuziehen, und ließ sich durchaus nicht davon abbringen.
In diesem Besuch wirkten sich die Folgen der späten Heirat meines Großvaters Hauptmann aus, und mit ihm begann der stille Verzweiflungskampf meines Vaters, der den Verlust unsres Gasthofs und unseres Vermögens schließlich und endlich nicht abwenden konnte.
Gustav Hauptmann blieb im Haus, nie aber hat mein Vater eine seiner Halbschwestern von jener Zeit an wiedergesehen. Als die verwitwete Toni mit ihrem Sohn fast dreißig Jahre darauf vor der Tür seiner kleinen Villa in Warmbrunn stand, wurde sie nicht hereingelassen.
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Beim Tode meines Großvaters müssen meinem Vater die geschäftlichen Schwierigkeiten beinahe über den Kopf gewachsen sein. Es war ihm anscheinend noch nicht gelungen, die Hypotheken aufzutreiben, durch die er die Auszahlung seiner Halbgeschwister ermöglichen konnte. Sie alle drei, das heißt ihre Männer, bestanden auf ihrem Schein. Wir ahnten nicht, und auch meine Mutter ahnte wohl nicht, wie es um uns stand, als sie sich darüber aufregte, dass Vater ihr nicht genügend Vertrauen schenke. Wenn er die zum Ausgleich und zur Rettung nötigen Hypotheken nicht auftreiben konnte, so lagen wir mitten im Winter auf der Straße, und es brach ein Elend ohne Maß über uns herein. Er hatte recht, wenn er das verschwieg.
Der Brunneninspektor hatte bei der Verteilung seines nicht kleinen Barvermögens fast ausschließlich seine zwei unverheirateten Töchter, Elisabeth und Auguste, bedacht. Kein Wunder, dass der Gatte meiner Mutter Marie, dessen Schiff im Sturm auf Leben und Tod kämpfte, in einen Zustand geriet, in dem sich Erbitterung und Verzweiflung mischten, da ja eine gerechte Verteilung die Rettung seines Schiffes bewirkt hätte.
Nun, mein Vater rettete diesmal noch selbst sein Schiff. Und dass dies geschah und wir von da ab noch fast ein Jahrzehnt an Bord bleiben durften, war für die Entwicklung unsrer Familie von nicht zu überschätzender Wichtigkeit.
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Was ich von allen diesen Verhältnissen mehr ahnungsweise als wirklich wissend aufnahm, veränderte die äußeren Formen meines Betragens und meines Lebens nicht. Die neuen Beschwerungen konnten der Leichtigkeit und dem Schwunge meiner Bewegungen nichts anhaben. Ich habe erzählt, wie ich trotz allem und allem auf dem Karren voll goldenen Laubs im Posthof meine Jungens kutschierte, und zwar in vollendet heiterem Übermut, trotzdem mir der Stachel, dass ich dem Tode nicht entgehen könne, im Gemüte saß. Auch das neue Erlebnis, konnte ich es gleich nie endgültig abschütteln, trat während langer Zeiten, von neuesten Eindrücken überdeckt, in das Unterbewusstsein zurück.
Die Hilfe, die mein Vater um Neujahr erhalten haben musste, brachte ihm also Beruhigung; unser Leben konnte in alter Weise fortgehen. Die nationalen Vorgänge aber waren so unwiderstehlich aufschwunghaft, dass sich ihr Geist allem, auch unserm Vater, mitteilte. Am 18. Januar unvergesslichen Angedenkens wurde im Schloss zu Versailles König Wilhelm von Preußen zum Kaiser gekrönt.
Bismarck und Moltke, Moltke und Bismarck waren in aller Munde. In der Schule sangen wir »Die Wacht am Rhein«, der alte Brendel selbst war festlich erregt. Die Hornhaut an den Kniebeln seiner Finger, die den Takt auf der Bank klopften, wurde immer dicker. Er holte sogar in jeder Gesangsstunde seine Schulmeistergeige hervor, was er früher nie getan hatte. Sozusagen mit Ächzen und Krächzen verjüngte er sich. Zwar noch immer fielen die Worte: »Ihr Bösewichter! Du Bösewicht!«, aber dann hörte man ihn auch wohl hinausseufzen: »Kinder, es ist eine große, gewaltige Zeit!« – »Es braust ein Ruf wie Donnerhall, wie Schwertgeklirr und Wogenprall!« sangen wir auf der Straße. Und überhaupt schwelgten wir Jungens in nationaler Begeisterung. Einen Spielkameraden hatten wir schon zu Anfang des Krieges rücksichtslos als Franzosen verfolgt, weil er mit einer Stürmermütze erschienen war, die an die Kopfbedeckung der Rothosen erinnerte. Wir kannten ihn und die Eltern des Jungen genau, wussten, dass es ein ebenso guter Deutscher war wie wir anderen. Wir stießen ihn trotzdem einstimmig aus und verfolgten ihn, wo er auftauchte.
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Die Tatkraft meines Vaters setzte nicht aus. Er war irgendwo mit Roon, dem Kriegsminister, in Verbindung gekommen. Der General hatte zu ihm gesagt: »Wenden Sie sich an mich, wenn Sie glauben, dass ich Ihnen einmal in irgendeiner Sache dienen könnte!« Das hatte mein Vater nun getan. Ober-Salzbrunn, hat er ihm geschrieben, ist ein hübscher und leistungsfähiger Badeort und besonders geeignet, Gefangene unterzubringen, Rekonvaleszenten oder Gesunde. Das Eintreffen eines Franzosentransportes wurde daraufhin vom Kriegsministerium meinem Vater für Februar angesagt.
Leider wurde nicht Wort gehalten. Mitten in Winter hob sich in den Logierhäusern ein Kehren, Waschen und Putzen an, das gleichsam die Zeit auf den Kopf stellte. Nachdem sich dies alles als überflüssig herausstellte und die Hoffnung auf Staatsvergütung und mancherlei sonstige Sensation zu Wasser geworden war, fiel der ganze Ort über meinen Vater her, als den, der das Unheil verursacht habe.
Trotz des Einspruchs meiner Mutter wurde im Hause wieder melioriert. Primitive Wasserspülungen wurden angelegt, ferner eine Luftheizung im Kleinen Saal. Im Orte wuchs der Mut und die Lust zur Geselligkeit, und mein Vater dachte daran, den Kleinen Saal auch im Winter für Kränzchen, Bälle, Hochzeiten der Eingesessenen auszunützen. Der die Luft erwärmende Ofen stand in der Kutscherstube Unterm Saal, und ich hatte immer schon als Knabe den Verdacht, dass die Luft, die ebenfalls von Unterm Saal durch den Schacht in die Höhe stieg, nicht die beste sein könne.
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Um Ostern war wieder ein Familientag, der sich, wie alle Feste in jener Zeit, zu einer Art Siegesfeier gestaltete. Onkel und Tanten, die wieder im Blauen und Großen Saal durcheinanderwimmelten, musizierend, schwatzend, lachend und patriotische Reden haltend, während wiederum draußen die Stare pfiffen, waren berauscht ohne Wein: aber dann tat auch er noch das Seine.
Bismarck, Bismarck, Bismarck war das Losungswort. Am 21. März war in Berlin der erste deutsche Reichstag eröffnet worden, wobei Bismarck den Fürstentitel erhielt. Er war der Schmied, er hatte auf seinem Amboss Pinkepank die deutsche Einheit zusammengeschweißt. Er war der Heros, er hatte die Kaiserkrone geschmiedet und König Wilhelm in die schon ergrauten Locken gedrückt.
Der Wein meines Vaters machte die Zungen der Onkels freigebig. Sie schworen, er habe mit Otto von Bismarck eine überraschende, frappante Ähnlichkeit. Vielleicht war etwas Wahres dran, besonders wenn man den gleichen Schnurrbart berücksichtigte. Nach seiner ganzen Art interessierte sich mein Vater gar nicht für eine solche Ähnlichkeit. Man stieß aber trotzdem begeistert auf ihn, gleichsam den Bismarck von Salzbrunn, an und ließ ihn mehrere Male hochleben.
Er war kein Spielverderber und nahm es hin.
Die Bismarckverehrung meines Vaters selbst war rückhaltlos, hatte er doch seine eigenen, vielfach zurückgestellten und verborgen gehaltenen Ideale von 1848 verwirklicht. Es lag aber auch ein Sieg des Gasthofs zur Preußischen Krone über den Dachrödenshof darin, der, inbegriffen den Oberamtmann Gustav Schubert auf Lohnig, die neue Zeit nicht von Herzen begrüßen konnte. Hie Bismarck, Deutsches Reich und deutscher Reichstag obendrein, dort Enge, Partikularismus, Konservativismus, kurz Dachrödenshof. In Bismarcks Größe und Erfolg lag meines Vaters Erfolg, Sieg und Rechtfertigung.
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Der Frühling kam, und er wurde es in einem noch ganz anderen Sinne als bisher. Die Nation war auf einmal da, die bis dahin trotz Krieg und Kriegsgeschrei keine wesentliche Substanz hatte. Ich selber wäre wohl noch zu jung gewesen, um national zu sein, aber auch Erwachsene zogen vor, dieses Gefühl, sofern es großdeutsch oder alldeutsch war, für sich zu behalten. Mit einem Male brach es nun aus und hervor und wurde zum frischtönenden, lebenspendenden Element, drin wir alle schwammen.
Für Deutschland hatte die Kaiserkrönung in Versailles den Wert eines Schöpfungsakts. Es kam über unser Volk ein Bewusstsein von sich selbst. Es hatte sich selbst sich selber bewiesen, denn es hatte eine Reihe großer Männer, mit Bismarck an der Spitze, hervorgebracht, auf denen die Augen der Welt mit Staunen und Grauen, vor allem jedoch mit Bewunderung ruhten. Der Stolz auf sie, auf ihre Siege, die Siege des Volkes, teilte sich jedem, auch mir kleinem Jungen, mit, und ich stand nicht an, meinem Blute einen Anteil, ein Mitverdienst an solchen Erfolgen zuzuschreiben. Es hatte das durchaus nichts mit dem Zupfen der Scharpie1 zu tun, eines Verbandstoffes für die Verwundeten, das ich unter der Aufsicht meiner Mutter in Gemeinschaft der sonstigen Hausgenossen geübt hatte.
Jedermann ahnte die nun kommende, ungeheure deutsche Aufschwungzeit, wenn er auch das Gnadengeschenk des kommenden, mehr als vierzigjährigen Friedens nicht voraussehen konnte.
Die Schweizerei mit ihren Wiesen und ihren Himmelsschlüsseln hatte ein ganz anderes Gesicht. Sie bestand aus einem Holzhaus im Berner oder Schwarzwälder Stil mit hölzernen Umgängen und dazugehörigem Weideland. Die Schafferin, eine saubere Frau, die der Fürst, wie gesagt, hineingesetzt hatte, war fröhlich aufgeregt, als wir eines Tages bei ihr einkehrten.
Mich traf auf dem Rückwege von dort ein Missgeschick, dessen Narbe ich noch am Finger trage, das aber nicht meinen Himmel verdüsterte.
Mein Bruder Carl rief einen kleinen Hund, den wir freigelassen hatten und dessen Leine mir überantwortet war, und er kam, zurückgeblieben, an mir vorbeigerast. Da warf ich ihm seine Leine über. Diese Dummheit, womit ich unbedacht das Tier fangen und aufhalten wollte, jagte mir den Karabiner, den Haken der Leine, in den rechten Zeigefinger hinein.
Den Karabiner aus dem Finger zu lösen war nicht leicht, und man sagte mir, dass ich immer wieder von den Fingergedärmeln gesprochen hätte, die herausquöllen. Es war auf dem Rückweg, und so mussten wir wieder zur Schweizerei zurückkehren.
Mein Instinkt, was die Wundbehandlung betraf, beriet mich gut. Ich habe wohl eine Stunde lang den Finger am Trog der Schweizerei unter den Strahl des immer fließenden Bergwassers gehalten. Von der hilfreichen Schafferin dann verbunden, ist er in wenigen Tagen zugeheilt.
Am Annenturm blühten wie immer die Leberblümchen. Wenn schon im Frühling alles Tote lebendig wird, diesmal zeigte sich all dieses Leben noch festlicher. Die Gartenarbeiter in den Anlagen riefen einander laute Scherze zu, die Gartenweiber mit ihren Karren und Besen desgleichen. Die Brunnenschöpfer mit ihren Bässen und Tenören dudelten »Die Wacht am Rhein« und andere Kriegslieder vor sich hin, wenn sie mit großen Gläsern an langen Stangen den Heilquell aus der Tiefe der granitenen Brunnenumfassung heraufholten. Kutschke mit seinem »Was kraucht dort in dem Busch herum, ich glaub’, es ist Napolium!« war eine allbeliebte Figur. Und Benedetti, des Kaisers Gesandter an König Wilhelm in Ems, nicht minder:
Da trat in sein Kabinette
eines Morgens Benedette,
den gesandt Napoleon.
Der fing zornig an zu kollern,
weil ein Prinz von Hohenzollern
sollt’ auf Spaniens Königsthron.
Aus diesen heiteren Elaboraten des Krieges schwirrten Zitate überall umher, im Sprachschatz der Menschen heimisch geworden.
Man war bei allergrößtem Humor und wusste kaum, wo man ihn lassen sollte.
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In der Festlichkeit dieses Frühjahrs und Frühsommers geschah alles Wiederbegegnen auf neue Art. So das im Stall mit einem feurigen Rotschimmel, den mein Vater bei Beginn des Krieges hatte hergeben müssen. Er war aus dem Todesritt der Brigade Bredow, Ulanen1 und Kürassiere, bei Vionville/Mars-la-Tour lebend hervorgegangen und wieder in unsern Stall gelangt. Er war für mich nun kein bloßes Pferd, sondern höchstens das eines Gottes oder eines Sankt Georgs, von heldischem Heroismus umwittert. Und besonders die Bilder im Großen Saal gewannen durch die allgemeine Festlichkeit an Festlichkeit. »Er blickt hinauf in Himmelsaun, wo Heldenväter niederschaun.« Die liebliche Raffaelische Madonna Sixtina gehörte ja dorthin. Und in dem anderen Bilde, der großen Kreuzabnahme von Rembrandt van Rijn, stellte sich mir irgendetwas von göttlich-menschlichem Opfertode des Krieges dar, dem ich minutenlang nachhängen konnte.
Eines Tages war dann die Kurkapelle aufgezogen und weckte mich zum ersten Male wieder um sieben Uhr früh mit ihrem Choral. Der Krause-Omnibus holte Menschen von der Bahnstation und schüttete sie im Hofe der Krone aus. Andere, nämlich die reicheren Leute, benützten Droschken und Lohnwagen. Nicht so sehr die von Osten kommenden als die von Nordosten, Norden, Nordwesten und Westen her eintreffenden Gäste waren erfüllt von dem neuen Geist, womöglich stärker erfüllt als wir.
Meine Mutter war und blieb Dachrödenshof. Nicht, dass sie irgendwie meinen oder irgendeinen Enthusiasmus gestört hätte, sie sah und hörte nur lächelnd zu. Sie stand noch immer, wenig berührt, in der alten Zeit und sah in der neuen etwas, das einen gesicherten, stillen Verlauf des Lebens durch einen dramatischen ersetzte, dessen Ende nicht abzusehen war.
Die Vorgänge um die Testamentseröffnung hatten mich unter anderem gelehrt, wie wichtig es war, dass der Gasthof gut besucht wurde. Seltsam und nicht ganz menschenwürdig erschien es mir schon als Kind, wenn überall vor den Speisehäusern mit lautem Glockengeschell sozusagen zur Fütterung gerufen wurde. Eine solche Glocke führte die Krone nicht. Die Sorge aber, die ich jetzt für den Bestand der geliebten Krone hatte, bewog mich, auf der Lauer, die Gäste zu zählen, die trotz des fehlenden Rufes eintraten.
Es schienen mir immer zu wenig zu sein: kleine Gruppen und Grüppchen, die vom Kronenberg über die Freitreppe der Terrasse an den Arrangements südlicher Pflanzen vorüber in den Großen und Kleinen Saal einbogen. Wehe, wer hier vorüberging und den Berg weiterstieg, um im Elisenhof einzukehren!
Meine Mutter konnte nicht um Geld bitten, was überhaupt immer eine peinliche Sache ist. Sie erzog sich lieber zu einer fast sträflichen Anspruchslosigkeit. Nach der Erbschaft jedoch wurde ihr von meinem Vater der Erlös aus dem Verkauf des ausgekochten Suppenfleisches zugebilligt. In Würfel geschnitten, wurde es von meiner Mutter an arme Leute für ein Geringes weggegeben.
Das solchermaßen verdiente Taschengeld meiner Mutter eröffnete ihr und mir wieder und wieder das Kurtheater. Ob sie im Todesjahr ihres Vaters hineingegangen ist, weiß ich nicht, ich möchte es aber für möglich halten, da sie Äußerlichkeiten, also zur Schau getragener Trauer, abhold war, und außerdem trieb sie, wenn sie ins Theater ging, einen ihrer Mutter geltenden Erinnerungskult: sie war eine geborene Stentzel, diese Mutter, in Breslau gebürtig und von Kind an auferzogen im Hause eines Fräuleins von Stutterheim. Vieles wurde von ihr erzählt und ihrer Theaterleidenschaft, besonders in einer Zeit, wo das Theater in Breslau florierte und alle Welt aus der Provinz tagelange Wagenfahrten nicht scheute, um einer Vorstellung beizuwohnen.
Meine Großmutter Straehler muss eine freie, lebenslustige und keineswegs frömmelnde Persönlichkeit gewesen sein. Ein kluger, weltlicher, reger Geist mag bei ihr überwogen haben.
»Die schöne Galathea«, im Sperrsitz neben meiner Mutter genossen, machte einen großen Eindruck auf mich: ein fantastisches Bildwerk, ein Weib, in das sich sein Meister verliebt, das lebendig wird und das er verzweifelt wieder zerschlägt, weil es ihn durch Untreue unglücklich macht. Vielleicht geht meine spätere Liebe zur Plastik in etwas auf dieses Werk von Suppé zurück.
Ein anderes Stück, das ich sah, hieß »Der alte Dessauer«, »Der Landwehrmann und die Pikarde« ein drittes, wo die gemütliche Art jener Zeit, welche die Kampfhandlung wesentlich auf den Soldaten beschränkte, anschaulich wurde. Auch an »Die Geier-Wally«, die unter dem Namen der Birch-Pfeiffer lief, erinnere ich mich; wenn sie, angeseilt und den Abgrund hinuntergelassen, dem Lämmergeier das geraubte Kind aus dem Neste nimmt, so war dies wohl heldenhaft und aufregend.
Ein Fragment vom Faust, zum Benefiz des Direktors Stegemann, der den Mephisto spielte, ist mir ebenfalls durch das Taschengeld der Mutter, stammend aus in Würfel geschnittenem Suppenfleisch, eröffnet worden. Welche Ursache, welche Wirkung!
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Täglich nahm der Direktor Stegemann im Hotel zur Krone, also im ersten des Orts, meistens am Tisch meines Vaters, den Frühschoppen, der in je einer halben Flasche Bordeaux vor der anderen oder nach ihr bestand. Dieser schlanke Bonvivant, der ein halbes Jahrhundert und mehr auf dem Kerbholz hatte, sah ohne Maske bereits wie Mephisto aus. Er wusste genau, wenn Kaviar oder Hummer hereingekommen war, und es lag dann für ihn nicht fern, von diesen Delikatessen zu einer Flasche Champagner – es gab damals keinen deutschen Sekt – fortzuschreiten. Wenn er bei meinem Vater saß und sich Doktor Straehler aus dem Kometen dazugesellte, war es ein Kleeblatt, auf das ich nicht ohne Stolz und Neid hinblickte.
Irgendwann einmal mochte die Sitzung des Trios so gut gelaunt sein, dass mich mein Vater rief und an die Frau Direktor abordnete. Sie wohnte ein wenig entfernt im Niederdorf, und Mephisto selbst beschrieb mir genau den Weg; dabei hatte er mit einer bestrickenden Väterlichkeit die Hand auf meinen Scheitel gelegt und dankte mir freundlich im Voraus, wie ein Gentleman dem anderen, für meine Bemühung. Er käme, sollte ich melden, durch etwas Wichtiges aufgehalten, später als sonst nach Haus, man möge nicht mit dem Essen auf ihn warten.
Als ich die besten Häuser im beginnenden Niederdorf abgesucht hatte und von keiner Direktorin Stegemann etwas zu erfahren war, gab man mir endlich einen Fingerzeig, den ich indes nicht für Ernst nehmen wollte. Man wies mich in ein nach meinen Begriffen nur von besonders ärmlichen Proletariern bewohntes Hinterhaus, an dessen Tür ich ungläubig anklopfte. Es schollen streitende Stimmen, Kindergeschrei, Klatschgeräusche und jederart Lärm heraus. Vielleicht dass das Innere des Gebäudes ein wenig besser erschien, als das Äußere vermuten ließ, sowie sich die Tür öffnete. Aber die Frau ohne Busentuch, in der Nachtjacke, mit zerzaustem Haar, der ich gegenüberstand, alle Sorten von schmutzigen Kindern um sie, darunter einige, die auf Nachtgeschirren herumflennten, waren nicht von der Art, dass ich den Anhang des direktorialen Bonvivants in ihnen vermuten konnte. Eine solche Häuslichkeit mit Speiseresten, Milchflaschen, Spülicht und ungewaschenem Küchengeschirr, und was dem Geruchssinn geboten wurde, brauchte ich nicht weiter auszumalen, wenn sich mir nicht alles und schließlich noch das wegwerfende Geschrei der Frau über ihren Mann im Gegensatz zu dem Bilde in der Preußischen Krone so tief eingeprägt hätte. Dort sprach man von Bismarck, Moltke, Roon, von Napoleon, der in Kassel gefangen saß, vom Frieden zu Frankfurt, von Straßburg, das wieder deutsch geworden war, von den fünf Milliarden Franken, die Frankreich an Deutschland zu zahlen hatte. Von alledem war hier nichts hingedrungen.
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Der Elisenhof über uns, dem ich keine Tischgäste gönnen wollte, gehörte einer Madame Enke, die verwitwet war und dort mit ihren Söhnen und deren Erzieher, Diakonus Spahner, hauste. Die Hintergärten der Krone und des Elisenhofs grenzten aneinander, aber trotzdem oder gerade deshalb bestand ein Verkehr zwischen uns und den Enkes nicht. Vielleicht war es früher anders gewesen. Die Spukgeschichte meines Vaters mit dem unaufgeklärten Rufe »Robert! Robert!«, die sich auf einen jungen Enke bezog, sprach dafür. Den Abbruch der Beziehungen hatte ein Volk von Enten bewirkt, das durch Zaunlücken in den Enkeschen Garten gewechselt war, dort als gute Prise genommen und im Keller vom Hausknecht geschlachtet wurde. Nur unter dem alten Enke, der damals noch lebte, konnte etwas dergleichen vorkommen. Als er sich aber kurze Zeit darauf mit dem Hausknecht veruneinte und ihn aus dem Hause warf, erschien dieser bei meinem Vater und verriet den Sachverhalt.
Mein Vater ließ alles zu Protokoll nehmen und übergab dieses dem öffentlichen Ankläger.
Nachdem die erste Verhandlung vorüber war, mit dem beharrlich leugnenden Enke auf der Anklagebank, legten sich Waldenburger Kreise ins Mittel und mit ihnen mein Vater und meine Mutter selbst, worauf die Sache im Sande verlief.
Enkes waren im Ort nicht beliebt. Ob sie selbst die Gesellschaft mieden oder ob sie gemieden wurden, war nicht ohne weiteres festzustellen. Aber es schwebte immer eine Düsternis um den Elisenhof, die ihn in eine Art Verruf brachte.
Die Suppenfleischwürfel meiner Mutter erlaubten ihr, mich gelegentlich im nächtlichen Dunkel der Promenaden mit einer Portion Vanilleeis zu beglücken. Wir saßen dann lange an einem versteckten Tisch der Konditorei und redeten allerlei miteinander. Da sie von Kind auf in Salzbrunn gelebt hatte, wusste sie über die Chronik des Ortes Bescheid und so auch über gewisse dunkle Punkte, von welchen die seltsame Isolierung der Enkes sich herschreiben mochte.
Der mysteriöse Elisenhof gehörte früher einem Herrn Hindemith. Er war ein reicher Hagestolz, der die spätere Madame Enke, ursprünglich die Tochter einer Grünzeugfrau, im Backfischalter adoptiert hatte. Er verliebte sich in das Kind, erwies ihm öffentlich eine viel belachte, aber mehr noch Anstoß erregende Zärtlichkeit und quälte sie außerdem durch Eifersucht.
Er machte das von ihm und seiner Adoptivtochter bewohnte vornehm düstere alte Haus zum Hotel Elisenhof. Ein gewisser Enke wurde als Leiter, als Maître d’hôtel und Oberkellner eingesetzt. Es fand sich die von ihm und der Tochter des Hauses bald gemeinsam und heiß ersehnte Gelegenheit. Sie waren hinter dem Rücken des Alten einig geworden.
Der alte Hindemith wurde krank. Er lag zu Bett und konnte nicht aufstehen. Im gleichen Zimmer schlief auch die Adoptivtochter. Er beanspruchte ihre Pflege und wachte tyrannisch über sie.
Aber wann wäre eine noch so scharfe Bewachung und Trennung von Liebesleuten erfolgreich gewesen? Niemand vermag ohne Schlaf zu leben, und so war es mit dem alten Hindemith. Gegen schlechten Schlaf aber gibt es Schlafmittel. Von Krankheit und Eifersucht geplagt, trotzdem er in ihm die geschäftliche Stütze hatte, jagte er Enke eines Tages Knall und Fall auf die Straße hinaus.
Der so Getroffene heuchelte Gleichgültigkeit. Unter den Fenstern des Kranken wurden seine Koffer verladen, der Kutscher schlug auf die Gäule ein, und die quälende Episode schien abgetan. In Wahrheit saßen Enke und das nun wohl schon um die Dreißig alte Fräulein Hindemith am Abend wie immer in einer abgelegenen Kammer des Elisenhofs beieinander. So blieb es bis zu des Alten Tod.
Ich habe vergessen, wie lange Enke als verborgener Hausgenosse auf den Tod des alten Hindemith lauern musste. Kaum war er gestorben, als Elise Hindemith mit dem einstigen Oberkellner Hochzeit feierte: ein wüstes Fest, das immer wieder von meiner Mutter geschildert wurde.
Das Unerlaubte dieser Vorgänge überlagerte den Elisenhof. Schließlich starb dann auch Enke, während Diakonus Spahner schon im Hause war. Die Salzbrunner setzten keinen Zweifel in die Art des Verhältnisses, das Madame Enke, eine Erscheinung jetzt wie Maria Theresia, mit dem jungen und schönen Theologen verband.