Man muss nicht glauben, dass Maria-Theresia-Enke schüchtern oder gar furchtsam gewesen wäre, eher das Gegenteil war der Fall. Sie hatte sich aufgeschwungen zur Vorsteherin des Vaterländischen Frauenvereins und war als solche während des Krieges besonders hervorgetreten. Die ganze Gegend musste Scharpie zupfen und Verbandstoffe sammeln, die sie waggonweise an die Heeresverwaltung ablieferte.
Sie erhielt, was den Neid, die Scheelsucht, ja die Entrüstung des ganzen Waldenburger Kreises entfesselte, den Luisenorden dafür.
1 Als Ulanen, auch Uhlanen, bezeichnet man eine mit Lanzen bewaffnete Gattung der Kavallerie. <<<
Meine Mutter hatte um jene Zeit, nach dem Tode ihres Vaters, wohl allerlei zu verwinden, was den Dachrödenshof betraf. Das kleine Anwesen und sein Geist hatten aufgehört, der Mittelpunkt Ober-Salzbrunns zu sein. An ihrem Teil spürte das auch meine Mutter. Wer wurde der neue Brunneninspektor? Diese Frage ward viel erörtert.
Öfter als sonst erschien in Salzbrunn der Fürst.
Auch die Fürstin kam in diesem Sommer mehrere Male mit ihrem Viererzug von dem nahen Fürstenstein. Niemals begleitete sie der Gatte, sie hatte meist nur eine Hofdame neben sich. Es war jedes Mal ein Ereignis für den Badeort.
Schon die Erscheinung des Juckergespanns, dieser vier braunen, sich gehorsam zierlich tragenden Blutpferde mit dem nickenden Federschmuck über der Stirn, die leichte niedrige Halbchaise, durch Gummireifen lautlos gemacht, mit den Glanzlederschmutzflügeln und der graudamastenen Polsterung, war überaus eindrucksvoll, am meisten jedoch die hohe Frau.
Noch habe ich die Erscheinung dieser Fürstin in Erinnerung, wenn sie von dem niedrigen Trittbrett des Wagens die erste, nicht höhere Stufe der Freitreppe betrat, die zur Giebelfront der dorischen Wandelhalle emporführte. In leichte graubraune Foulardseide mit farbengleichen Brüsseler Kanten gehüllt, das verschleierte Haupt von einem ebenso garnierten großen Hut bedeckt, schritt sie dann in der Halle selbst aufmerksam von Auslage zu Auslage. Kein Kurgast, mochte er noch so aufdringlich sein, konnte von ihr auch nur einen Blick erhaschen.
Nie vergesse ich ihren Gang. Edel und gerade die hohe Gestalt emporgerichtet, fühlte sie langsam gelassenen Schrittes vor, Oberkörper und Haupt mit einer vornehmen Nickbewegung pfauenartig nachholend.
Die Verbindung zwischen dem Fürstenhaus Hochberg-Pleß und der Familie Straehler war Menschenalter hindurch schicksalhaft. Diese hatte Dienstleute und Beamte aller Art gestellt. Eine der schönsten Auswirkungen dieses Verhältnisses war die Stellung, die Ferdinand Straehler als Brunneninspektor einnehmen durfte. Damals war ich noch weit entfernt, die Wehmut der Mutter zu begreifen, darüber, dass dieses harmonische Leben und Wirken eines Mannes und seiner Familie, in dem auch sie wurzelte, nun doch zu Ende gegangen war.
Meinetwegen, es war ein Wirken im kleinen Kreis, aber der Großvater hatte doch in Freundschaft mit hochgebildeten Männern, unter anderen Geheimrat Zemplin und dem Maler Joseph Friedrich Raabe, einem zeitweiligen Hausgenossen und Berater Goethes, das Bad Ober-Salzbrunn fast aus dem Nichts aufbauen können. Die Elisenhalle, das Kurhaus, der Brunnensaal, der Annaturm, das Theater und die gesamten Parkanlagen zeugten davon.
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Im Saale des Hotels Zur Sonne in Salzbrunn gab es nach Schluss der Sommersaison eine Veranstaltung mit musikalischen Vorträgen. Besucher waren vornehmlich die Salzbrunner selbst und einige Familien der Nachbarschaft. Als meine Mutter mit mir und meiner Schwester den Saal betrat, waren alle Plätze besetzt außer den Stühlen der ersten Reihe, auf denen Zettel mit dem Wort »Reserviert« lagen. Meine Mutter schob ganz einfach drei der Zettel hinweg, nahm selber Platz und hieß uns Platz nehmen. Was sollte das heißen? Wem sollten die Honoratiorenplätze zustehen, wenn nicht der Familie des Brunneninspektors?
Wir brachten den Winter von Einundsiebzig auf Zweiundsiebzig nicht im Gasthof zur Krone, sondern im Kursaal zu. Diese Zeit ist für mich überaus denkwürdig.
Mein Vater hatte, wie ich schon sagte, den Kursaal gepachtet. Ich nehme an, der Brunneninspektor hatte ihm das so benannte, dem Fürsten gehörige Badehotel, das mit dem Kurpark zusammenhing, seinerzeit in die Hand gespielt. Warum wir dahin für den Winter übergesiedelt sind? Es hatte wohl darin seinen Grund, dass mein Vater nun, durch die hohen Zinsen der neuen Hypotheken gedrängt, jede Möglichkeit, zu verdienen, ausnützen wollte, weshalb auch der Kursaal im Winter geöffnet blieb.
Die Kursaalexistenz war von einer gewissen Behaglichkeit, die jene in der Krone übertraf. Die Gasträume, die eigentlich nur sonnabends und sonntags von Schlittengästen besucht wurden, bestanden aus drei freundlichen Stuben im Parterre, die nur bei starkem Verkehr durch Öffnung eines der beiden Gesellschaftssäle ergänzt wurden.
Mochten wir nun aber auch die ganze Woche allein bleiben und der kleine Apparat nur für uns selber vorhanden sein, so waren wir doch nicht, wie in der Krone, von der Öffentlichkeit abgeschlossen, sondern mussten mit Überraschungen rechnen. Hatte doch jedermann grundsätzlich das Recht, bei uns einzukehren.
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In der Schule war unter einem ehemaligen Feldwebel, Großmann, Exerzieren eingeführt: Rechts um, links um! Augen rechts, Augen links! Vorwärts marsch! Eins, zwei, eins, zwei! Ganzes Bataillon halt! Kehrt! Stillgestanden! Rührt euch! Großmann war Kinderfreund und überaus gutmütig.
Die Dorfschule hatte sechs Trommeln gekauft: alles Martialische kam nach dem Kriege und Siege in Aufnahme. Das Glück war mir hold, und ich wurde einer der Trommler. Wir durften dreiviertel Stunden vor dem Ende des Unterrichts unsere Trommeln umschnallen, um uns zunächst für den Schulspaziergang einzuüben. Wer fasst es wohl heut, was dies uns Jungen bedeutet hat?
Uns führte immer der gleiche Weg hinter der Schule hügelan bis zu einem alten Birnbaum ins Feld hinaus. Dort erscholl das Kommando des Tambourmajors, der seinen betroddelten Stab mit sich führte. Und dann schlugen wir auf die Kalbfelle.
Das Trommeln machte uns Freude, ganz gewiss, aber wie es nun einmal bei Jungens nicht anders ist, wir vergaßen es auch zuweilen. Wir entfernten uns gelegentlich weiter vom Ort und trafen einmal auf eine große Kröte. Plötzlich hatten wir alle den einen Gedanken, dass in ihr ein Feind, etwa der Feind Deutschlands, inkarniert wäre, und da man auf dem Gelände überall faustgroße Steine aufnehmen konnte, kam es sogleich zur Steinigung. Wir warfen die Steine mit einer Wut auf das hässliche Tier, die es in wenigen Augenblicken nach seinem letzten, menschlich erstaunten, menschlich protestierenden Gequiek zu Mus machte. Aber zu schleudern und immer wieder in sinnlosem Rasen Steine über Steine zu schleudern, hörten wir darum noch lange nicht auf. Am Ende ist von dem armen verwunschenen Gottesgeschöpf nichts irgend Kenntliches übriggeblieben.
Wie kamen wir nur zu diesem Ausbruch besinnungslos mörderischer Leidenschaft?
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Ein Flügel wurde die Woche über aus dem kleinen Kurhaussaal, damit er nicht von der Kälte leide, im Wirtschaftszimmer aufgestellt. Mein Vater spielte öfter als sonst seine gedämpfte Erinnerungsmarseillaise und Partien aus der von ihm besonders geliebten Lortzingschen Oper »Zar und Zimmermann«. Sogar meine Mutter saß mitunter, mich zur Seite, gleichsam verstohlen am Klavier und entschloss sich schamhaft, das »Gebet einer Jungfrau« halblaut anzuschlagen. Ich glaube nicht, dass aus den Musikstunden ihrer Mädchenjahre mehr übriggeblieben war.
Johanna spielte recht hübsch Klavier. Sie war aber diesen Winter nicht da, sondern in der schlesischen Kreisstadt Striegau in einer von adeligen Damen gehaltenen Pension untergebracht, wo sie den letzten gesellschaftlichen Schliff einer »höheren Tochter« bekommen sollte. Und was mich betraf, so waren Versuche eines Klavierunterrichts durch Lehrer Irrgang fehlgeschlagen.
Allein dieser Umstand verhinderte nicht, dass gerade ich die elfenbeinerne Klaviatur am meisten beanspruchte. Ich hatte mir »Die Wacht am Rhein« auf den Tasten zusammengesucht, dann aber auch eine Anzahl Choräle. Solche vor allem, die wie »Lasst mich gehen, lasst mich gehen, dass ich Jesum möge sehen!« an offenen Gräbern gesungen wurden. »Meine Seel ist voll Verlangen, ihn auf ewig zu umfangen«, so wiederholte ich im Geiste unzählige Male dies von frommer Inbrunst getragene Jenseits-Liebeslied, meine innere Stimme mühsam auf dem Klavier begleitend.
Und ich ging darüber hinaus.
Es war eine produktive Lust in mir, mich und gewisse dramatische Vorgänge aus dem Ringen des Menschen mit der Natur darzustellen. Ein Motiv dieser Art war der hoffnungslose Kampf, den ein Schiff im Seesturm kämpfte, in dem es dann schließlich mit Mann und Maus unterging. Der Sturm, der Orkan wurde mit Hilfe der Bässe ausgemalt, verlorene Hilferufe, Klänge rettungsloser Verlassenheit drückten sich aus im hohen Diskant. Es dauerte manchmal eine Stunde und länger, bis im Gewühle von Woge und Luft das Schifflein versank.
Nicht immer aber kam es so weit, oft hatte meine Mutter schon früher den endlosen Lärm überbekommen, und ein »Um Gottes willen, hör auf, Gerhart!« weckte mich unsanft und schloss meine Träumereien ab.
Die Hirschjagd war ein anderes Motiv, das ich immer wieder durchkomponierte. Hierbei malte ich den zwischen Bergen gelegenen rauschenden Forst, die Kavalkade1 der Herren und Damen, das Hallen und Widerhallen der Jagdhörner, Prinz und Prinzessin, ein junges Paar, das sich liebte und die Liebe verschweigt, die Angst des gehetzten Tieres, das mit herrlichem Schwunge den Bach und den umgestürzten Baum überspringt, das Rasen der Hunde, das brechende Auge des Wildes voller Anklage, sein Verenden und schließlich das Halali. Diesen »Hirschtod« genannten Hornruf der Jägerei konnte ich mir nie genug zu Gehör bringen.
Freilich spielte ich auch gelegentlich »O du lieber Augustin, alles ist hin!« oder »Lott’ ist tot, Lott’ ist tot, Jule liegt im Sterben!« oder weniger harmlose Gassenhauer, die ich auf der Straßenseite meines Doppellebens kennengelernt hatte.
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Tag für Tag begegnete ich meinem Bilde in einem ovalen Wandspiegel mit breitem Mahagonirahmen. Er hing ziemlich hoch, aber vornübergebeugt, sodass ich mich darin sehen konnte. Kam ich von meinen Streifereien durch alle Winkel der Anlagen des Ortes zurück, so stellte ich mich meist unter ihn, und jedes Mal stieg mir die Frage auf, ob ich das gestern auch schon getan, mich im Spiegel wie heute erblickt habe und das mir beweisen könne. Dann schien es mir immer, ich könne das nicht. Wenn ich es aber wirklich nicht konnte, so war es nicht sicher, ob ich am gestrigen Tage gelebt hatte. Heute aber, so schloss ich, lebte ich ganz gewiss.
Es war jedenfalls die Magie des Daseins, die mir damals ins Bewusstsein trat.
1 (bei einem festlichen Anlass auftretende) Gruppe von Reitern <<<
Der Gasthof Zur Sonne, dem Kurhausportal schräg gegenüber, wurde geführt von einem ehemaligen Schullehrer, der die Tochter des Pastors Booß an der evangelischen Kirche zu Nieder-Salzbrunn geheiratet hatte. Dieser Pastor Booß war ein älterer, kluger Mann und sehr wohlhabend. »Hörn Sie nur, hörn Sie nur!« war seine immer wiederkehrende, unvermeidliche Redensart.
Wenn er meine Eltern besuchte, geschah es auf einen Augenblick: »Hörn Sie nur, ich habe nur eine Sekunde Zeit, hörn Sie nur. Die Arbeit wächst mir über den Kopf, hörn Sie nur. Der Oberkirchenrat, hörn Sie nur, und, hörn Sie nur, alle die neuen Zustände! Wir bekommen auch noch die Zivilehe, hörn Sie nur! Es wird ja alles jetzt auf den Kopf gestellt.«
Aus der Sekunde, die Pastor Booß sich gestatten wollte, wurde erst eine viertel, dann eine halbe Stunde, zuletzt wurde eine Stunde, wurden zwei, drei, vier daraus: so gut hatte sich der alte Herr jedes Mal mit meinem Vater und meiner Mutter auseinandergesetzt. Dabei hörte er weniger ihnen als sie ihm die Beichte ab.
Ich weiß nicht, aus welchem Grunde der damalige Wirt der Sonne, Rudolf Beier, seinen Lehrberuf an den Nagel gehängt hatte. »Ich war nun nicht gerade ganz einverstanden, hörn Sie nur, hörn Sie nur«, erklärte des öftern der Pastor, »aber es war nicht recht zu machen mit ihm. Meine Tochter hat ihn geheiratet. Was sollte ich tun? Ich habe ihm also den Gasthof gekauft. Einverstanden war ich nicht gerade mit der Wahl meiner Tochter, hörn Sie nur, aber in solchen Fällen ist guter Rat teuer.«
Am Ende eines pastörlichen Kurhausbesuches waren oft manche leere Weinflaschen beiseite gestellt.
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Carl und ich teilten mit der Mutter ein Schlafzimmer. Fenster und Glastüren gingen auf eine breite Veranda hinaus. Darunter lag eine winters gespenstisch verödete Terrasse, an welche die Kurpromenaden und ‑anlagen grenzten. Wir Jungens besonders stellten uns vor, dass Einbrüche von der Terrasse über die Veranda in den niedrigen ersten Stock nicht umständlich sein müssten, wenn auch hie und da der Nachtwächter mit der Pfeife durch die Anlagen ging.
So freundlich die an der Straße gelegene Vorderseite des Kursaals war, umso grusliger war des Nachts die Rückseite. Wenn der Sturm von den klappernden Gabeln der alten Bäume heulend oder wie eine Katze greinend die letzten Blätter riss und Gewölke über den Mond jagten, wäre niemand unter den Salzbrunnern ein Gang durch den Kurpark ratsam erschienen, der sommers tagtäglich ein bunter Festsaal war.
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Entlegene Tanzlokale sind in Schlesien volkstümlich, in Wäldern und auf Höhen gelegen doppelt beliebt. Da der Pächter von Wilhelmshöh wohl schwerlich hätte die Pacht zahlen können, wenn er nur mit dem Sommer und den Kaffeegästen des Bades zu rechnen gehabt hätte, besaß er die Konzession, zu gewissen Zeiten Tanzmusiken abzuhalten. Der von Maler Raabe im Geiste der Romantik burgartig errichtete Bau und Ausflugsort, schwebend über dem Industriebezirk, hatte die größte Eignung dafür. Das Publikum aber, das in den Sommer- und Winternächten auf und ab strömte, erforderte einen furchtlosen Wirt, wie den Müller von Wilhelmshöh, der nötigenfalls zu boxen entschlossen, ja unter Umständen zu noch anderm fähig war. Er ist einmal, wie man sagte, in einen Zweikampf mit einem Kohlenarbeiter, der blutig ausging, verwickelt worden.
Kein Wunder, dass solches und ähnliches unsere jungen Gemüter aufregte. Ich muss der Wahrheit gemäß erklären, weniger mich als den Bruder Carl. Nie ging er zu Bett, bevor er nicht alles abgeleuchtet und insonderheit festgestellt hatte, dass kein Einbrecher etwa versteckt unter einer Bettstelle lag. Man ließ ihn gewähren, da ja eine gewisse Vorsicht an sich nicht verwerflich ist, und suchte nur, ihr Übermaß abzudämpfen. Ich aber habe Carl einmal einen Schabernack gespielt. Ich machte, da ich gewöhnlich früher als er zu Bett geschickt wurde, aus Hose, Weste, Rock und Hut meines Vaters einen Popanz zurecht, den ich unter sein Bett legte. Ich hielt einen mit den Armen der Puppe verbundenen Bindfaden in der Hand, wachte in meinem Bette und wartete. Endlich kam mein Bruder herein, während ich mich schlafend stellte, und leuchtete mit einer Kerze alles ab.
Als er unter seine Bettstelle geblickt hatte, tat er es zum zweiten Male, worauf ich an meiner Schnur zupfte. Er stand erstarrt, hielt das Licht und regte sich nicht, bis er damit auf den Zehen gegen die Tür und aus dem Zimmer schlich.
Mit Doktor Straehler, meinem Vater und meiner Mutter kam er nach einiger Zeit zurück. Die Herren trugen jeder sein Billardqueue, meine Mutter lachte und nannte Carl einen dummen Kerl. Und nun ging’s an ein Unter-die-Betten-Gucken.
Ich hatte die Puppe fortgeräumt, als mein Bruder aus dem Zimmer war. Jetzt, bei der wachsenden Helle, spielte ich Aufwachen. Der Vater, die Mutter, der Onkel hatten jeder ein Licht in der Hand, und der Onkel glossierte die Handlung: »Nein, hier liegt der Halunke nicht! Hier ist die Canaille auch nicht vorhanden! Der Bube hat sich in Luft aufgelöst. Hier steht ein Gefäß aus Porzellan, gegen dessen Gegenwart nichts zu sagen ist.«
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Das Billardzimmer, aus dem die Herren und meine Mutter herkamen, bildete in seiner Wärme und durchleuchteten Behaglichkeit, seinem grünen Billardtuch und seinem Ecksofa einen Gegensatz zu dem ungemütlichen Schlafzimmer. Hier ahnte man von der wüsten Öde der hinterwärtigen Anlagen nichts. Wenn sich mein Vater mit dem Onkel Doktor bei einem Glase Grog im Billardspiele maß, saß meine Mutter in der Sofaecke und stichelte gemütlich an einer Weißnähterei.
Es bildete sich bei diesem Zusammensein ein heiter-familiärer Ton. Es erwärmte uns, dass der joviale, lebensfrohe und elegante Mann sich bei uns wohlfühlte. Aber es kam doch vor, dass mein Vater ihn zur Ordnung rief, weil er sich auf burschikose Art und Weise, wenn auch nicht ohne Humor, gehen ließ.
Man weiß, welche Art von Lustigkeit bei Billardspielern, die keine Berufsspieler sind, üblich ist. Sind die Elfenbeinbälle zu langsam, so wird ihnen zugeredet. Wenn sie zu schnell laufen, ruft man: »Halthalt!« Man schiebt gleichsam ächzend einen schweren Wagen durch die Luft, wenn sie, im Begriff, ihr Ziel zu erreichen, kraftlos werden. Eine durch Zufall geglückte Karambolage entfesselt den der Spannung entfahrenden Aufschrei: »Fuchs!«, oder man sagt: »Mehr Glück als Verstand.«
Der elegante Badearzt machte sich lang, er zog sich wie ein Fernrohr aus, wenn er die Bahn eines Balles verlängern wollte. Mein Vater, dessen gelassene Überlegenheit wir Kinder bewunderten, hatte seine Freude daran. Der Onkel Doktor hob das rechte, das linke Bein, wenn er sich über die Bande des Billards legte, er schnitt Grimassen, und so kam es einmal bis zu einer von ihm nicht gerade gewollten Steigerung, wo die Spaßhaftigkeit durch Detonation von unerlaubter Stelle durch ihn überschritten wurde.
Da er Vorwürfe meines Vaters im Hinblick auf meine gegenwärtige Mutter nur mit einem jungenshaften Lachen quittierte, blieb schließlich auch seiner Base nichts übrig, als einem solchen Vorfall mit dem auch ihr angeborenen Straehlerschen Humor zu begegnen.
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Das Offenhalten des Kurhauses den Winter über war dem pastörlichen Schwiegersohn und Sonnenwirt ganz gewiss nicht angenehm, wurde doch ein Gutteil seiner sonstigen Ausflugsgäste dahin abgelenkt. Er war meinem Vater überhaupt nicht grün, und dieser stand mitunter nicht an, sich über sein Käppi und seine Dienereien um die Schlitten und Wagen lustig zu machen.
Trotzdem fuhr ich die kleinen Beiers im Stuhlschlitten wohl verpackt herum und betreute sie wie ein Kindermädchen. Dieser Zug, der sich schon bei den Märchenerzählungen am Fuhrmann Krauseschen Ofen angemeldet hatte, wo Gustav und Ida Krause die Nutznießer waren, und der sich nun auf Agnes und Rudolf Beier übertrug, sollte mich lange durchs Leben begleiten.
Eigentlich wurden weniger die einstigen Gäste der Sonne als eine andere, neue Schicht von Gästen in den Kursaal gezogen. Bei einer Art Klub, der sich zwanglos gebildet hatte, stand zum Beispiel der Weißsteiner Gentleman-Bauer Karl Tschersich im Mittelpunkt. Sein Bedürfnis nach bäuerlichem Luxus richtete sich auf kostbare Pferde, Wagen und Schlitten, Pelze in Form von Jacketts, Mänteln und Pelzmützen, auf Schmuck und Stoffe für die Frau, auf luxuriöse Pferde- und Kuhställe, alle Sorten der teuersten und neuesten Jagdgewehre im Büchsenschrank, auf silberbeschlagene Geschirre und prächtiges Sattelzeug, dann aber auf reichliche und ausgesuchte Speisen und Getränke.
Wo er auftauchte – und er war Tag für Tag unterwegs –, wusste man: Karl Tschersich spart mit dem Gelde nicht! So musste sich auch mein Vater für den Tschersich-Kreis ganz besonders vorbereiten. Fässchen mit Austern kamen aus den Seestädten, lebende Hummer und Kaviar, und der Champagner durfte nicht ausgehen.
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Ungeheuer war für mich und Carl die Sensation, als es hieß, dass die Auster lebendig gegessen würde. Wir trugen diese unglaubliche Neuigkeit unter die Schuljugend und sprachen mehrere Wochen nur immer davon. Auch war der Versuch, eine Auster zu essen, mit uns Jungen gemacht worden, aber mit dem bekannten Erfolge, den man Erbrechen nennt.
Dagegen wurden über Karl Tschersich Wunderdinge in dieser Beziehung berichtet: er schluckte Dutzende dieser Tiere hinunter und hörte nur ungern auf, weil er unersättlich war.
Ich zweifle nicht, dass in diesem Kreise bei geschlossenen Türen gejeut wurde. Irgendwie an die Bildfläche traten wir Brüder bei solchen Gelegenheiten nicht. Wir waren gebannt in unsere Privatzimmer. Dort steckten wir die Köpfe zusammen und tuschelten über die unter uns in den Gasträumen sich begebenden spannenden Dinge. Ein Kaufmann Lachs, der sein Schnittwarengeschäft am Ringe der Kreisstadt Waldenburg hatte, hielt meistens die Bank. Was das bedeutete, wussten wir, wir hatten es längst aus den Gesellschaftsspielen gelernt und aus dem Hantieren mit Spielmarken. Der märchenhafte Reichtum des Bauern beschäftigte uns, und wir glaubten, die Goldstücke klingeln zu hören.
Eines Nachts oder Abends, gegen halb elf, wurde es plötzlich sehr laut unter uns. Stühle wurden gerückt, Tische fielen um, und irgendetwas Gläsernes ging mit Geschmetter in tausend Scherben. Da sich nun etwas mit Gebrüll von Zimmer zu Zimmer gegen den Ausgang bewegte, traten wir an die Fenster, die grade überm Portale lagen, und sahen nun jemand – es war der Kaufmann Lachs – wie aus der Pistole geschossen ins Freie stürzen. Hinter ihm drein Tschersich mit einem Billardqueue – man weiß, sie sind unten mit Blei gefüllt –, das er mit dem Schwung seiner ganzen Bärenkraft hinter dem Flüchtigen herschleuderte. Er fehlte ihn, Gott sei Dank traf er ihn nicht, sonst wären wir vielleicht Zeugen eines Totschlags geworden.
Hatte nun Lachs vorher zu viel Geld gewonnen? Jedenfalls war die Katastrophe nur durch eine kleine Unachtsamkeit ausgelöst worden. Er schmeckte eine große Bowle ab und goss sein Glas, nachdem er gekostet hatte, in das Bowlengefäß zurück. Hierauf wurde Tschersich blaurot im Gesicht, stieß einige Tische und Stühle um, ergriff mit beiden Händen die Bowle und schmetterte sie auf die Erde, dann rannte er nach dem Billardqueue, zugleich aber Lachs nach der anderen Seite, sodass ein Abstand zwischen ihn und den Großbauern kam, als dieser das Queue wie eine Keule gepackt hatte.
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Das Weihnachtsfest rückte wiederum näher. Es kündigte sich an in dem Beschlusse des Vaterländischen Frauenvereins, die Armenbescherung des Jahres im Kursaal abzuhalten. Da Madame Enke Vorsitzende des Vereins war, so hatte mein Vater mit ihr und Diakonus Spahner Besprechungen.
Zwei gewaltige Christbäume, von deren obersten Lichtern die Decke sich anschwärzte, waren im kleineren Kurhaussaal aufgestellt. Auf weißgedeckter Hufeisentafel lagen die Geschenke portionsweise. Während der Festlichkeit stand jeder der armen Menschen, alte Weibchen, alte Männchen, verhärmte Frauen, vor seiner Portion. Sie standen da und schämten sich. Sie getrauten sich kaum, zum Gesang den Mund zu öffnen, zumal die beiden strahlenden Bäume ihren leibhaftigen Jammer ins grellste Licht setzten.
Wir, mein Vater und meine Mutter, sahen dieses uns neue Schauspiel mit Abneigung. Die alte Menzel, eine verschämte Arme, war bei uns untergekrochen; das Weibchen kam aus dem Zittern nicht heraus.
Diakonus Spahner ergriff die für ihn seltene Gelegenheit, seine Predigergabe leuchten zu lassen, wobei die Beschenkten ihre Portionen immer noch nicht berühren, sondern nur mit den Augen verschlingen durften. Die Predigt dauerte doppelt so lange als nötig war. Dann aber, endlich, schien man zur Sache zu kommen.
Madame Enke erhob sich, auf der pompösen Brust den Luisenorden, jeder Zoll Maria-Theresia.
Ihr bedeutender Kopf mit der runden Nase und zwei schwarzen, feurigen Augen gehörte eher der slawischen als der deutschen Rasse an. Sie hatte die schönsten Stücke, Ohrgehänge, Broschen, Halsketten, aus dem Familienschmuck der Hindemith angelegt, ganz dem festlichen Abend angemessen. Und, wie gesagt: den Luisenorden, eine Dekoration, die von ihr am meisten geschätzt und von allen am meisten beneidet wurde.
Hatten das Kindlein in der Krippe, Maria und Joseph, Ochs und Eselein aber je solche Worte gehört und in solchem Ton, wie sie aus dem Munde der Trägerin des Luisenordens nun hervorgingen? Schon die ersten Verlautbarungen der wohltätigen Dame schienen den Bartflaum, den sie auf der Oberlippe trug, gewissermaßen zu rechtfertigen.
»Ihr wisst, dass ihr von mildtätigen Menschen hier beschenkt werdet«, hieß es ungefähr, »und ich setze voraus, dass ihr das anerkennt und dankbar seid.« Es klang resolut, und man wusste sofort, mit Frau Enke anbinden würde viel Energie erfordern. Sie schüttete dann, sich mehrfach bis zu Kommandotönen steigernd, eine Fülle moralischer Forderungen aus, die nun noch von den verwirrten Gästen des Christkindes verarbeitet werden mussten, bevor sie ihre Portionen ergreifen durften.
Und plötzlich vernahm man zu allgemeinem Erstaunen und Befremden etwas wie einen wütenden Wortwechsel. Man erkannte dann, dass er einseitig war, dass nämlich Madame Enke ein hohlwangiges Bergarbeiterweib aufs schrecklichste öffentlich abkanzelte: man hatte ihm, hieß es, im vorigen Jahr Kinderkleider und dergleichen einbeschert, die sie nicht verwendet, sondern verkauft habe. »Eigentlich gehören Sie gar nicht hierher, Sie verdienen gar nicht, aufs neue beschenkt zu werden. Aber merken Sie sich: es ist heute das letzte Mal, falls Sie sich wiederum solcher Begünstigung unwürdig zeigen!«
Es war wohl der äußerste Tiefstand, auf den die gemütischen Eigenschaften der Madame Enke je gesunken waren.
Dieses Erlebnis, im hohen Grade roh, entrüstend und anstößig, ist mir als ein Paradigma solcher Veranstaltungen, wie sie nicht sein sollen, bis heute nachgegangen. Madame Enke hatte auf meiner Bühne ausgespielt.