Loe raamatut: «Das Abenteuer meiner Jugend», lehekülg 11

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Man muss nicht glau­ben, dass Ma­ria-The­re­sia-Enke schüch­tern oder gar furcht­sam ge­we­sen wäre, eher das Ge­gen­teil war der Fall. Sie hat­te sich auf­ge­schwun­gen zur Vor­ste­he­rin des Va­ter­län­di­schen Frau­en­ver­eins und war als sol­che wäh­rend des Krie­ges be­son­ders her­vor­ge­tre­ten. Die gan­ze Ge­gend muss­te Schar­pie zup­fen und Ver­band­stof­fe sam­meln, die sie wag­gon­wei­se an die Hee­res­ver­wal­tung ab­lie­fer­te.

Sie er­hielt, was den Neid, die Scheel­sucht, ja die Ent­rüs­tung des gan­zen Wal­den­bur­ger Krei­ses ent­fes­sel­te, den Lui­sen­or­den da­für.

1 Als Ula­nen, auch Uhla­nen, be­zeich­net man eine mit Lan­zen be­waff­ne­te Gat­tung der Ka­val­le­rie. <<<

Einundzwanzigstes Kapitel

Mei­ne Mut­ter hat­te um jene Zeit, nach dem Tode ih­res Va­ters, wohl al­ler­lei zu ver­win­den, was den Dachrö­dens­hof be­traf. Das klei­ne An­we­sen und sein Geist hat­ten auf­ge­hört, der Mit­tel­punkt Ober-Salz­brunns zu sein. An ih­rem Teil spür­te das auch mei­ne Mut­ter. Wer wur­de der neue Brun­nen­in­spek­tor? Die­se Fra­ge ward viel er­ör­tert.

Öf­ter als sonst er­schi­en in Salz­brunn der Fürst.

Auch die Fürs­tin kam in die­sem Som­mer meh­re­re Male mit ih­rem Vierer­zug von dem na­hen Fürs­ten­stein. Nie­mals be­glei­te­te sie der Gat­te, sie hat­te meist nur eine Hof­da­me ne­ben sich. Es war je­des Mal ein Er­eig­nis für den Ba­de­ort.

Schon die Er­schei­nung des Jucker­ge­spanns, die­ser vier brau­nen, sich ge­hor­sam zier­lich tra­gen­den Blut­pfer­de mit dem ni­cken­den Fe­der­schmuck über der Stirn, die leich­te nied­ri­ge Halb­chai­se, durch Gum­mi­rei­fen laut­los ge­macht, mit den Glanz­le­der­schmutz­flü­geln und der grau­da­mas­te­nen Pols­te­rung, war über­aus ein­drucks­voll, am meis­ten je­doch die hohe Frau.

Noch habe ich die Er­schei­nung die­ser Fürs­tin in Erin­ne­rung, wenn sie von dem nied­ri­gen Tritt­brett des Wa­gens die ers­te, nicht hö­he­re Stu­fe der Freitrep­pe be­trat, die zur Gie­bel­front der do­ri­schen Wan­del­hal­le em­por­führ­te. In leich­te grau­brau­ne Fou­lard­sei­de mit far­ben­glei­chen Brüs­se­ler Kan­ten gehüllt, das ver­schlei­er­te Haupt von ei­nem eben­so gar­nier­ten großen Hut be­deckt, schritt sie dann in der Hal­le selbst auf­merk­sam von Aus­la­ge zu Aus­la­ge. Kein Kur­gast, moch­te er noch so auf­dring­lich sein, konn­te von ihr auch nur einen Blick er­ha­schen.

Nie ver­ges­se ich ih­ren Gang. Edel und ge­ra­de die hohe Ge­stalt em­por­ge­rich­tet, fühl­te sie lang­sam ge­las­se­nen Schrit­tes vor, Ober­kör­per und Haupt mit ei­ner vor­neh­men Nick­be­we­gung pfau­en­ar­tig nach­ho­lend.

Die Ver­bin­dung zwi­schen dem Fürs­ten­haus Hoch­berg-Pleß und der Fa­mi­lie Straeh­ler war Men­schen­al­ter hin­durch schick­sal­haft. Die­se hat­te Dienst­leu­te und Be­am­te al­ler Art ge­stellt. Eine der schöns­ten Aus­wir­kun­gen die­ses Ver­hält­nis­ses war die Stel­lung, die Fer­di­nand Straeh­ler als Brun­nen­in­spek­tor ein­neh­men durf­te. Da­mals war ich noch weit ent­fernt, die Weh­mut der Mut­ter zu be­grei­fen, dar­über, dass die­ses har­mo­ni­sche Le­ben und Wir­ken ei­nes Man­nes und sei­ner Fa­mi­lie, in dem auch sie wur­zel­te, nun doch zu Ende ge­gan­gen war.

Mei­net­we­gen, es war ein Wir­ken im klei­nen Kreis, aber der Groß­va­ter hat­te doch in Freund­schaft mit hoch­ge­bil­de­ten Män­nern, un­ter an­de­ren Ge­heim­rat Zem­plin und dem Ma­ler Jo­seph Fried­rich Raa­be, ei­nem zeit­wei­li­gen Haus­ge­nos­sen und Be­ra­ter Goe­thes, das Bad Ober-Salz­brunn fast aus dem Nichts auf­bau­en kön­nen. Die Eli­sen­hal­le, das Kur­haus, der Brun­nen­saal, der An­na­turm, das Thea­ter und die ge­sam­ten Park­an­la­gen zeug­ten da­von.

*

Im Saa­le des Ho­tels Zur Son­ne in Salz­brunn gab es nach Schluss der Som­mer­sai­son eine Ver­an­stal­tung mit mu­si­ka­li­schen Vor­trä­gen. Be­su­cher wa­ren vor­nehm­lich die Salz­brun­ner selbst und ei­ni­ge Fa­mi­li­en der Nach­bar­schaft. Als mei­ne Mut­ter mit mir und mei­ner Schwes­ter den Saal be­trat, wa­ren alle Plät­ze be­setzt au­ßer den Stüh­len der ers­ten Rei­he, auf de­nen Zet­tel mit dem Wort »Re­ser­viert« la­gen. Mei­ne Mut­ter schob ganz ein­fach drei der Zet­tel hin­weg, nahm sel­ber Platz und hieß uns Platz neh­men. Was soll­te das hei­ßen? Wem soll­ten die Ho­no­ra­tio­ren­plät­ze zu­ste­hen, wenn nicht der Fa­mi­lie des Brun­nen­in­spek­tors?

Wir brach­ten den Win­ter von Ein­und­sieb­zig auf Zwei­und­sieb­zig nicht im Gast­hof zur Kro­ne, son­dern im Kur­saal zu. Die­se Zeit ist für mich über­aus denk­wür­dig.

Mein Va­ter hat­te, wie ich schon sag­te, den Kur­saal ge­pach­tet. Ich neh­me an, der Brun­nen­in­spek­tor hat­te ihm das so be­nann­te, dem Fürs­ten ge­hö­ri­ge Ba­de­ho­tel, das mit dem Kur­park zu­sam­men­hing, sei­ner­zeit in die Hand ge­spielt. Wa­rum wir da­hin für den Win­ter über­ge­sie­delt sind? Es hat­te wohl dar­in sei­nen Grund, dass mein Va­ter nun, durch die ho­hen Zin­sen der neu­en Hy­po­the­ken ge­drängt, jede Mög­lich­keit, zu ver­die­nen, aus­nüt­zen woll­te, wes­halb auch der Kur­saal im Win­ter ge­öff­net blieb.

Die Kur­saa­l­exis­tenz war von ei­ner ge­wis­sen Be­hag­lich­keit, die jene in der Kro­ne über­traf. Die Ga­sträu­me, die ei­gent­lich nur sonn­abends und sonn­tags von Schlit­ten­gäs­ten be­sucht wur­den, be­stan­den aus drei freund­li­chen Stu­ben im Par­terre, die nur bei star­kem Ver­kehr durch Öff­nung ei­nes der bei­den Ge­sell­schafts­sä­le er­gänzt wur­den.

Moch­ten wir nun aber auch die gan­ze Wo­che al­lein blei­ben und der klei­ne Ap­pa­rat nur für uns sel­ber vor­han­den sein, so wa­ren wir doch nicht, wie in der Kro­ne, von der Öf­fent­lich­keit ab­ge­schlos­sen, son­dern muss­ten mit Über­ra­schun­gen rech­nen. Hat­te doch je­der­mann grund­sätz­lich das Recht, bei uns ein­zu­keh­ren.

*

In der Schu­le war un­ter ei­nem ehe­ma­li­gen Feld­we­bel, Groß­mann, Ex­er­zie­ren ein­ge­führt: Rechts um, links um! Au­gen rechts, Au­gen links! Vor­wärts marsch! Eins, zwei, eins, zwei! Gan­zes Ba­tail­lon halt! Kehrt! Still­ge­stan­den! Rührt euch! Groß­mann war Kin­der­freund und über­aus gut­mü­tig.

Die Dorf­schu­le hat­te sechs Trom­meln ge­kauft: al­les Mar­tia­li­sche kam nach dem Krie­ge und Sie­ge in Auf­nah­me. Das Glück war mir hold, und ich wur­de ei­ner der Tromm­ler. Wir durf­ten drei­vier­tel Stun­den vor dem Ende des Un­ter­richts un­se­re Trom­meln um­schnal­len, um uns zu­nächst für den Schul­spa­zier­gang ein­zuü­ben. Wer fasst es wohl heut, was dies uns Jun­gen be­deu­tet hat?

Uns führ­te im­mer der glei­che Weg hin­ter der Schu­le hü­gel­an bis zu ei­nem al­ten Birn­baum ins Feld hin­aus. Dort er­scholl das Kom­man­do des Tam­bour­ma­jors, der sei­nen be­trod­del­ten Stab mit sich führ­te. Und dann schlu­gen wir auf die Kalb­fel­le.

Das Trom­meln mach­te uns Freu­de, ganz ge­wiss, aber wie es nun ein­mal bei Jun­gens nicht an­ders ist, wir ver­ga­ßen es auch zu­wei­len. Wir ent­fern­ten uns ge­le­gent­lich wei­ter vom Ort und tra­fen ein­mal auf eine große Krö­te. Plötz­lich hat­ten wir alle den einen Ge­dan­ken, dass in ihr ein Feind, etwa der Feind Deutsch­lands, in­kar­niert wäre, und da man auf dem Ge­län­de über­all faust­große Stei­ne auf­neh­men konn­te, kam es so­gleich zur Stei­ni­gung. Wir war­fen die Stei­ne mit ei­ner Wut auf das häss­li­che Tier, die es in we­ni­gen Au­gen­bli­cken nach sei­nem letz­ten, mensch­lich er­staun­ten, mensch­lich pro­tes­tie­ren­den Ge­quiek zu Mus mach­te. Aber zu schleu­dern und im­mer wie­der in sinn­lo­sem Ra­sen Stei­ne über Stei­ne zu schleu­dern, hör­ten wir dar­um noch lan­ge nicht auf. Am Ende ist von dem ar­men ver­wun­sche­nen Got­tes­ge­schöpf nichts ir­gend Kennt­li­ches üb­rig­ge­blie­ben.

Wie ka­men wir nur zu die­sem Aus­bruch be­sin­nungs­los mör­de­ri­scher Lei­den­schaft?

*

Ein Flü­gel wur­de die Wo­che über aus dem klei­nen Kur­haus­saal, da­mit er nicht von der Käl­te lei­de, im Wirt­schafts­zim­mer auf­ge­stellt. Mein Va­ter spiel­te öf­ter als sonst sei­ne ge­dämpf­te Erin­ne­rungs­mar­seil­lai­se und Par­ti­en aus der von ihm be­son­ders ge­lieb­ten Lort­zing­schen Oper »Zar und Zim­mer­mann«. So­gar mei­ne Mut­ter saß mit­un­ter, mich zur Sei­te, gleich­sam ver­stoh­len am Kla­vier und ent­schloss sich scham­haft, das »Ge­bet ei­ner Jung­frau« halb­laut an­zu­schla­gen. Ich glau­be nicht, dass aus den Mu­sik­stun­den ih­rer Mäd­chen­jah­re mehr üb­rig­ge­blie­ben war.

Jo­han­na spiel­te recht hübsch Kla­vier. Sie war aber die­sen Win­ter nicht da, son­dern in der schle­si­schen Kreis­stadt Strie­gau in ei­ner von ade­li­gen Da­men ge­hal­te­nen Pen­si­on un­ter­ge­bracht, wo sie den letz­ten ge­sell­schaft­li­chen Schliff ei­ner »hö­he­ren Toch­ter« be­kom­men soll­te. Und was mich be­traf, so wa­ren Ver­su­che ei­nes Kla­vier­un­ter­richts durch Leh­rer Irr­gang fehl­ge­schla­gen.

Al­lein die­ser Um­stand ver­hin­der­te nicht, dass ge­ra­de ich die el­fen­bei­ner­ne Kla­via­tur am meis­ten be­an­spruch­te. Ich hat­te mir »Die Wacht am Rhein« auf den Tas­ten zu­sam­men­ge­sucht, dann aber auch eine An­zahl Cho­rä­le. Sol­che vor al­lem, die wie »Lasst mich ge­hen, lasst mich ge­hen, dass ich Je­sum möge se­hen!« an of­fe­nen Grä­bern ge­sun­gen wur­den. »Mei­ne Seel ist voll Ver­lan­gen, ihn auf ewig zu um­fan­gen«, so wie­der­hol­te ich im Geis­te un­zäh­li­ge Male dies von from­mer In­brunst ge­tra­ge­ne Jen­seits-Lie­bes­lied, mei­ne in­ne­re Stim­me müh­sam auf dem Kla­vier be­glei­tend.

Und ich ging dar­über hin­aus.

Es war eine pro­duk­ti­ve Lust in mir, mich und ge­wis­se dra­ma­ti­sche Vor­gän­ge aus dem Rin­gen des Men­schen mit der Na­tur dar­zu­stel­len. Ein Mo­tiv die­ser Art war der hoff­nungs­lo­se Kampf, den ein Schiff im See­sturm kämpf­te, in dem es dann schließ­lich mit Mann und Maus un­ter­ging. Der Sturm, der Or­kan wur­de mit Hil­fe der Bäs­se aus­ge­malt, ver­lo­re­ne Hil­fe­ru­fe, Klän­ge ret­tungs­lo­ser Ver­las­sen­heit drück­ten sich aus im ho­hen Dis­kant. Es dau­er­te manch­mal eine Stun­de und län­ger, bis im Ge­wüh­le von Woge und Luft das Schiff­lein ver­sank.

Nicht im­mer aber kam es so weit, oft hat­te mei­ne Mut­ter schon frü­her den end­lo­sen Lärm über­be­kom­men, und ein »Um Got­tes wil­len, hör auf, Ger­hart!« weck­te mich un­sanft und schloss mei­ne Träu­me­rei­en ab.

Die Hir­sch­jagd war ein an­de­res Mo­tiv, das ich im­mer wie­der durch­kom­po­nier­te. Hier­bei mal­te ich den zwi­schen Ber­gen ge­le­ge­nen rau­schen­den Forst, die Ka­val­ka­de1 der Her­ren und Da­men, das Hal­len und Wi­der­hal­len der Jagd­hör­ner, Prinz und Prin­zes­sin, ein jun­ges Paar, das sich lieb­te und die Lie­be ver­schweigt, die Angst des ge­hetz­ten Tie­res, das mit herr­li­chem Schwun­ge den Bach und den um­ge­stürz­ten Baum über­springt, das Ra­sen der Hun­de, das bre­chen­de Auge des Wil­des vol­ler An­kla­ge, sein Ve­ren­den und schließ­lich das Ha­la­li. Die­sen »Hirschtod« ge­nann­ten Horn­ruf der Jä­ge­rei konn­te ich mir nie ge­nug zu Ge­hör brin­gen.

Frei­lich spiel­te ich auch ge­le­gent­lich »O du lie­ber Au­gus­tin, al­les ist hin!« oder »Lot­t’ ist tot, Lot­t’ ist tot, Jule liegt im Ster­ben!« oder we­ni­ger harm­lo­se Gas­sen­hau­er, die ich auf der Stra­ßen­sei­te mei­nes Dop­pel­le­bens ken­nen­ge­lernt hat­te.

*

Tag für Tag be­geg­ne­te ich mei­nem Bil­de in ei­nem ova­len Wand­spie­gel mit brei­tem Ma­ha­go­ni­rah­men. Er hing ziem­lich hoch, aber vorn­über­ge­beugt, so­dass ich mich dar­in se­hen konn­te. Kam ich von mei­nen Strei­fe­rei­en durch alle Win­kel der An­la­gen des Or­tes zu­rück, so stell­te ich mich meist un­ter ihn, und je­des Mal stieg mir die Fra­ge auf, ob ich das ges­tern auch schon ge­tan, mich im Spie­gel wie heu­te er­blickt habe und das mir be­wei­sen kön­ne. Dann schi­en es mir im­mer, ich kön­ne das nicht. Wenn ich es aber wirk­lich nicht konn­te, so war es nicht si­cher, ob ich am gest­ri­gen Tage ge­lebt hat­te. Heu­te aber, so schloss ich, leb­te ich ganz ge­wiss.

Es war je­den­falls die Ma­gie des Da­seins, die mir da­mals ins Be­wusst­sein trat.

1 (bei ei­nem fest­li­chen An­lass auf­tre­ten­de) Grup­pe von Rei­tern <<<

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Der Gast­hof Zur Son­ne, dem Kur­haus­por­tal schräg ge­gen­über, wur­de ge­führt von ei­nem ehe­ma­li­gen Schul­leh­rer, der die Toch­ter des Pas­tors Booß an der evan­ge­li­schen Kir­che zu Nie­der-Salz­brunn ge­hei­ra­tet hat­te. Die­ser Pas­tor Booß war ein äl­te­rer, klu­ger Mann und sehr wohl­ha­bend. »Hörn Sie nur, hörn Sie nur!« war sei­ne im­mer wie­der­keh­ren­de, un­ver­meid­li­che Re­dens­art.

Wenn er mei­ne El­tern be­such­te, ge­sch­ah es auf einen Au­gen­blick: »Hörn Sie nur, ich habe nur eine Se­kun­de Zeit, hörn Sie nur. Die Ar­beit wächst mir über den Kopf, hörn Sie nur. Der Ober­kir­chen­rat, hörn Sie nur, und, hörn Sie nur, alle die neu­en Zu­stän­de! Wir be­kom­men auch noch die Zi­vilehe, hörn Sie nur! Es wird ja al­les jetzt auf den Kopf ge­stellt.«

Aus der Se­kun­de, die Pas­tor Booß sich ge­stat­ten woll­te, wur­de erst eine vier­tel, dann eine hal­be Stun­de, zu­letzt wur­de eine Stun­de, wur­den zwei, drei, vier dar­aus: so gut hat­te sich der alte Herr je­des Mal mit mei­nem Va­ter und mei­ner Mut­ter aus­ein­an­der­ge­setzt. Da­bei hör­te er we­ni­ger ih­nen als sie ihm die Beich­te ab.

Ich weiß nicht, aus wel­chem Grun­de der da­ma­li­ge Wirt der Son­ne, Ru­dolf Bei­er, sei­nen Lehr­be­ruf an den Na­gel ge­hängt hat­te. »Ich war nun nicht ge­ra­de ganz ein­ver­stan­den, hörn Sie nur, hörn Sie nur«, er­klär­te des öf­tern der Pas­tor, »aber es war nicht recht zu ma­chen mit ihm. Mei­ne Toch­ter hat ihn ge­hei­ra­tet. Was soll­te ich tun? Ich habe ihm also den Gast­hof ge­kauft. Ein­ver­stan­den war ich nicht ge­ra­de mit der Wahl mei­ner Toch­ter, hörn Sie nur, aber in sol­chen Fäl­len ist gu­ter Rat teu­er.«

Am Ende ei­nes pa­stör­li­chen Kur­haus­be­su­ches wa­ren oft man­che lee­re Wein­fla­schen bei­sei­te ge­stellt.

*

Carl und ich teil­ten mit der Mut­ter ein Schlaf­zim­mer. Fens­ter und Gla­stü­ren gin­gen auf eine brei­te Ve­ran­da hin­aus. Dar­un­ter lag eine win­ters ge­spens­tisch ver­öde­te Ter­ras­se, an wel­che die Kur­pro­me­na­den und ‑an­la­gen grenz­ten. Wir Jun­gens be­son­ders stell­ten uns vor, dass Ein­brü­che von der Ter­ras­se über die Ve­ran­da in den nied­ri­gen ers­ten Stock nicht um­ständ­lich sein müss­ten, wenn auch hie und da der Nacht­wäch­ter mit der Pfei­fe durch die An­la­gen ging.

So freund­lich die an der Stra­ße ge­le­ge­ne Vor­der­sei­te des Kur­saals war, umso grus­li­ger war des Nachts die Rück­sei­te. Wenn der Sturm von den klap­pern­den Ga­beln der al­ten Bäu­me heu­lend oder wie eine Kat­ze grei­nend die letz­ten Blät­ter riss und Ge­wöl­ke über den Mond jag­ten, wäre nie­mand un­ter den Salz­brun­nern ein Gang durch den Kur­park rat­sam er­schie­nen, der som­mers tag­täg­lich ein bun­ter Fest­saal war.

*

Ent­le­ge­ne Tanz­lo­ka­le sind in Schle­si­en volks­tüm­lich, in Wäl­dern und auf Hö­hen ge­le­gen dop­pelt be­liebt. Da der Päch­ter von Wil­helms­höh wohl schwer­lich hät­te die Pacht zah­len kön­nen, wenn er nur mit dem Som­mer und den Kaf­fee­gäs­ten des Ba­des zu rech­nen ge­habt hät­te, be­saß er die Kon­zes­si­on, zu ge­wis­sen Zei­ten Tanz­mu­si­ken ab­zu­hal­ten. Der von Ma­ler Raa­be im Geis­te der Ro­man­tik burg­ar­tig er­rich­te­te Bau und Aus­flugs­ort, schwe­bend über dem In­dus­trie­be­zirk, hat­te die größ­te Eig­nung da­für. Das Pub­li­kum aber, das in den Som­mer- und Win­ter­näch­ten auf und ab ström­te, er­for­der­te einen furcht­lo­sen Wirt, wie den Mül­ler von Wil­helms­höh, der nö­ti­gen­falls zu bo­xen ent­schlos­sen, ja un­ter Um­stän­den zu noch an­derm fä­hig war. Er ist ein­mal, wie man sag­te, in einen Zwei­kampf mit ei­nem Koh­len­ar­bei­ter, der blu­tig aus­ging, ver­wi­ckelt wor­den.

Kein Wun­der, dass sol­ches und ähn­li­ches un­se­re jun­gen Ge­mü­ter auf­reg­te. Ich muss der Wahr­heit ge­mäß er­klä­ren, we­ni­ger mich als den Bru­der Carl. Nie ging er zu Bett, be­vor er nicht al­les ab­ge­leuch­tet und in­son­der­heit fest­ge­stellt hat­te, dass kein Ein­bre­cher etwa ver­steckt un­ter ei­ner Bett­stel­le lag. Man ließ ihn ge­wäh­ren, da ja eine ge­wis­se Vor­sicht an sich nicht ver­werf­lich ist, und such­te nur, ihr Über­maß ab­zu­dämp­fen. Ich aber habe Carl ein­mal einen Scha­ber­nack ge­spielt. Ich mach­te, da ich ge­wöhn­lich frü­her als er zu Bett ge­schickt wur­de, aus Hose, Wes­te, Rock und Hut mei­nes Va­ters einen Po­panz zu­recht, den ich un­ter sein Bett leg­te. Ich hielt einen mit den Ar­men der Pup­pe ver­bun­de­nen Bind­fa­den in der Hand, wach­te in mei­nem Bet­te und war­te­te. End­lich kam mein Bru­der her­ein, wäh­rend ich mich schla­fend stell­te, und leuch­te­te mit ei­ner Ker­ze al­les ab.

Als er un­ter sei­ne Bett­stel­le ge­blickt hat­te, tat er es zum zwei­ten Male, wor­auf ich an mei­ner Schnur zupf­te. Er stand er­starrt, hielt das Licht und reg­te sich nicht, bis er da­mit auf den Ze­hen ge­gen die Tür und aus dem Zim­mer schlich.

Mit Dok­tor Straeh­ler, mei­nem Va­ter und mei­ner Mut­ter kam er nach ei­ni­ger Zeit zu­rück. Die Her­ren tru­gen je­der sein Bil­lard­queue, mei­ne Mut­ter lach­te und nann­te Carl einen dum­men Kerl. Und nun ging’s an ein Un­ter-die-Bet­ten-Gu­cken.

Ich hat­te die Pup­pe fort­ge­räumt, als mein Bru­der aus dem Zim­mer war. Jetzt, bei der wach­sen­den Hel­le, spiel­te ich Auf­wa­chen. Der Va­ter, die Mut­ter, der On­kel hat­ten je­der ein Licht in der Hand, und der On­kel glos­sier­te die Hand­lung: »Nein, hier liegt der Ha­lun­ke nicht! Hier ist die Ca­nail­le auch nicht vor­han­den! Der Bube hat sich in Luft auf­ge­löst. Hier steht ein Ge­fäß aus Por­zel­lan, ge­gen des­sen Ge­gen­wart nichts zu sa­gen ist.«

*

Das Bil­lard­zim­mer, aus dem die Her­ren und mei­ne Mut­ter her­ka­men, bil­de­te in sei­ner Wär­me und durch­leuch­te­ten Be­hag­lich­keit, sei­nem grü­nen Bil­lard­tuch und sei­nem Eck­so­fa einen Ge­gen­satz zu dem un­ge­müt­li­chen Schlaf­zim­mer. Hier ahn­te man von der wüs­ten Öde der hin­ter­wär­ti­gen An­la­gen nichts. Wenn sich mein Va­ter mit dem On­kel Dok­tor bei ei­nem Gla­se Grog im Bil­lard­spie­le maß, saß mei­ne Mut­ter in der So­fae­cke und sti­chel­te ge­müt­lich an ei­ner Weiß­näh­te­rei.

Es bil­de­te sich bei die­sem Zu­sam­men­sein ein hei­ter-fa­mi­li­ärer Ton. Es er­wärm­te uns, dass der jo­via­le, le­bens­fro­he und ele­gan­te Mann sich bei uns wohl­fühl­te. Aber es kam doch vor, dass mein Va­ter ihn zur Ord­nung rief, weil er sich auf bur­schi­ko­se Art und Wei­se, wenn auch nicht ohne Hu­mor, ge­hen ließ.

Man weiß, wel­che Art von Lus­tig­keit bei Bil­lard­spie­lern, die kei­ne Be­rufs­s­pie­ler sind, üb­lich ist. Sind die El­fen­bein­bäl­le zu lang­sam, so wird ih­nen zu­ge­re­det. Wenn sie zu schnell lau­fen, ruft man: »Hal­thalt!« Man schiebt gleich­sam äch­zend einen schwe­ren Wa­gen durch die Luft, wenn sie, im Be­griff, ihr Ziel zu er­rei­chen, kraft­los wer­den. Eine durch Zu­fall ge­glück­te Ka­ram­bo­la­ge ent­fes­selt den der Span­nung ent­fah­ren­den Auf­schrei: »Fuchs!«, oder man sagt: »Mehr Glück als Ver­stand.«

Der ele­gan­te Ba­de­arzt mach­te sich lang, er zog sich wie ein Fern­rohr aus, wenn er die Bahn ei­nes Bal­les ver­län­gern woll­te. Mein Va­ter, des­sen ge­las­se­ne Über­le­gen­heit wir Kin­der be­wun­der­ten, hat­te sei­ne Freu­de dar­an. Der On­kel Dok­tor hob das rech­te, das lin­ke Bein, wenn er sich über die Ban­de des Bil­lards leg­te, er schnitt Gri­mas­sen, und so kam es ein­mal bis zu ei­ner von ihm nicht ge­ra­de ge­woll­ten Stei­ge­rung, wo die Spaß­haf­tig­keit durch De­to­na­ti­on von un­er­laub­ter Stel­le durch ihn über­schrit­ten wur­de.

Da er Vor­wür­fe mei­nes Va­ters im Hin­blick auf mei­ne ge­gen­wär­ti­ge Mut­ter nur mit ei­nem jun­gens­haf­ten La­chen quit­tier­te, blieb schließ­lich auch sei­ner Base nichts üb­rig, als ei­nem sol­chen Vor­fall mit dem auch ihr an­ge­bo­re­nen Straeh­ler­schen Hu­mor zu be­geg­nen.

*

Das Of­fen­hal­ten des Kur­hau­ses den Win­ter über war dem pa­stör­li­chen Schwie­ger­sohn und Son­nen­wirt ganz ge­wiss nicht an­ge­nehm, wur­de doch ein Gut­teil sei­ner sons­ti­gen Aus­flugs­gäs­te da­hin ab­ge­lenkt. Er war mei­nem Va­ter über­haupt nicht grün, und die­ser stand mit­un­ter nicht an, sich über sein Käp­pi und sei­ne Die­ne­rei­en um die Schlit­ten und Wa­gen lus­tig zu ma­chen.

Trotz­dem fuhr ich die klei­nen Bei­ers im Stuhl­schlit­ten wohl ver­packt her­um und be­treu­te sie wie ein Kin­der­mäd­chen. Die­ser Zug, der sich schon bei den Mär­chen­er­zäh­lun­gen am Fuhr­mann Krau­se­schen Ofen an­ge­mel­det hat­te, wo Gu­stav und Ida Krau­se die Nutz­nie­ßer wa­ren, und der sich nun auf Ag­nes und Ru­dolf Bei­er über­trug, soll­te mich lan­ge durchs Le­ben be­glei­ten.

Ei­gent­lich wur­den we­ni­ger die eins­ti­gen Gäs­te der Son­ne als eine an­de­re, neue Schicht von Gäs­ten in den Kur­saal ge­zo­gen. Bei ei­ner Art Klub, der sich zwang­los ge­bil­det hat­te, stand zum Bei­spiel der Weiß­stei­ner Gent­le­man-Bau­er Karl Tscher­sich im Mit­tel­punkt. Sein Be­dürf­nis nach bäu­er­li­chem Lu­xus rich­te­te sich auf kost­ba­re Pfer­de, Wa­gen und Schlit­ten, Pel­ze in Form von Jacketts, Män­teln und Pelz­müt­zen, auf Schmuck und Stof­fe für die Frau, auf lu­xu­ri­öse Pfer­de- und Kuh­stäl­le, alle Sor­ten der teu­ers­ten und neues­ten Jagd­ge­weh­re im Büch­sen­schrank, auf sil­ber­be­schla­ge­ne Ge­schir­re und präch­ti­ges Sat­tel­zeug, dann aber auf reich­li­che und aus­ge­such­te Spei­sen und Ge­trän­ke.

Wo er auf­tauch­te – und er war Tag für Tag un­ter­wegs –, wuss­te man: Karl Tscher­sich spart mit dem Gel­de nicht! So muss­te sich auch mein Va­ter für den Tscher­sich-Kreis ganz be­son­ders vor­be­rei­ten. Fäss­chen mit Aus­tern ka­men aus den See­städ­ten, le­ben­de Hum­mer und Ka­vi­ar, und der Cham­pa­gner durf­te nicht aus­ge­hen.

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Un­ge­heu­er war für mich und Carl die Sen­sa­ti­on, als es hieß, dass die Aus­ter le­ben­dig ge­ges­sen wür­de. Wir tru­gen die­se un­glaub­li­che Neu­ig­keit un­ter die Schul­ju­gend und spra­chen meh­re­re Wo­chen nur im­mer da­von. Auch war der Ver­such, eine Aus­ter zu es­sen, mit uns Jun­gen ge­macht wor­den, aber mit dem be­kann­ten Er­fol­ge, den man Er­bre­chen nennt.

Da­ge­gen wur­den über Karl Tscher­sich Wun­der­din­ge in die­ser Be­zie­hung be­rich­tet: er schluck­te Dut­zen­de die­ser Tie­re hin­un­ter und hör­te nur un­gern auf, weil er un­er­sätt­lich war.

Ich zweifle nicht, dass in die­sem Krei­se bei ge­schlos­se­nen Tü­ren ge­jeut wur­de. Ir­gend­wie an die Bild­flä­che tra­ten wir Brü­der bei sol­chen Ge­le­gen­hei­ten nicht. Wir wa­ren ge­bannt in un­se­re Pri­vat­zim­mer. Dort steck­ten wir die Köp­fe zu­sam­men und tu­schel­ten über die un­ter uns in den Ga­sträu­men sich be­ge­ben­den span­nen­den Din­ge. Ein Kauf­mann Lachs, der sein Schnitt­wa­ren­ge­schäft am Rin­ge der Kreis­stadt Wal­den­burg hat­te, hielt meis­tens die Bank. Was das be­deu­te­te, wuss­ten wir, wir hat­ten es längst aus den Ge­sell­schaftss­pie­len ge­lernt und aus dem Han­tie­ren mit Spiel­mar­ken. Der mär­chen­haf­te Reich­tum des Bau­ern be­schäf­tig­te uns, und wir glaub­ten, die Gold­stücke klin­geln zu hö­ren.

Ei­nes Nachts oder Abends, ge­gen halb elf, wur­de es plötz­lich sehr laut un­ter uns. Stüh­le wur­den ge­rückt, Ti­sche fie­len um, und ir­gen­det­was Glä­ser­nes ging mit Ge­schmet­ter in tau­send Scher­ben. Da sich nun et­was mit Ge­brüll von Zim­mer zu Zim­mer ge­gen den Aus­gang be­weg­te, tra­ten wir an die Fens­ter, die gra­de überm Por­ta­le la­gen, und sa­hen nun je­mand – es war der Kauf­mann Lachs – wie aus der Pis­to­le ge­schos­sen ins Freie stür­zen. Hin­ter ihm drein Tscher­sich mit ei­nem Bil­lard­queue – man weiß, sie sind un­ten mit Blei ge­füllt –, das er mit dem Schwung sei­ner gan­zen Bä­ren­kraft hin­ter dem Flüch­ti­gen her­schleu­der­te. Er fehl­te ihn, Gott sei Dank traf er ihn nicht, sonst wä­ren wir viel­leicht Zeu­gen ei­nes Tot­schlags ge­wor­den.

Hat­te nun Lachs vor­her zu viel Geld ge­won­nen? Je­den­falls war die Ka­ta­stro­phe nur durch eine klei­ne Unacht­sam­keit aus­ge­löst wor­den. Er schmeck­te eine große Bow­le ab und goss sein Glas, nach­dem er ge­kos­tet hat­te, in das Bow­len­ge­fäß zu­rück. Hier­auf wur­de Tscher­sich blau­rot im Ge­sicht, stieß ei­ni­ge Ti­sche und Stüh­le um, er­griff mit bei­den Hän­den die Bow­le und schmet­ter­te sie auf die Erde, dann rann­te er nach dem Bil­lard­queue, zu­gleich aber Lachs nach der an­de­ren Sei­te, so­dass ein Ab­stand zwi­schen ihn und den Groß­bau­ern kam, als die­ser das Queue wie eine Keu­le ge­packt hat­te.

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Das Weih­nachts­fest rück­te wie­der­um nä­her. Es kün­dig­te sich an in dem Be­schlus­se des Va­ter­län­di­schen Frau­en­ver­eins, die Ar­men­be­sche­rung des Jah­res im Kur­saal ab­zu­hal­ten. Da Ma­da­me Enke Vor­sit­zen­de des Ver­eins war, so hat­te mein Va­ter mit ihr und Dia­ko­nus Spah­ner Be­spre­chun­gen.

Zwei ge­wal­ti­ge Christ­bäu­me, von de­ren obers­ten Lich­tern die De­cke sich an­schwärz­te, wa­ren im klei­ne­ren Kur­haus­saal auf­ge­stellt. Auf weiß­ge­deck­ter Huf­eis­en­ta­fel la­gen die Ge­schen­ke por­ti­ons­wei­se. Wäh­rend der Fest­lich­keit stand je­der der ar­men Men­schen, alte Weib­chen, alte Männ­chen, ver­härm­te Frau­en, vor sei­ner Por­ti­on. Sie stan­den da und schäm­ten sich. Sie ge­trau­ten sich kaum, zum Ge­sang den Mund zu öff­nen, zu­mal die bei­den strah­len­den Bäu­me ih­ren leib­haf­ti­gen Jam­mer ins grells­te Licht setz­ten.

Wir, mein Va­ter und mei­ne Mut­ter, sa­hen die­ses uns neue Schau­spiel mit Ab­nei­gung. Die alte Men­zel, eine ver­schäm­te Arme, war bei uns un­ter­ge­kro­chen; das Weib­chen kam aus dem Zit­tern nicht her­aus.

Dia­ko­nus Spah­ner er­griff die für ihn sel­te­ne Ge­le­gen­heit, sei­ne Pre­di­ger­ga­be leuch­ten zu las­sen, wo­bei die Be­schenk­ten ihre Por­tio­nen im­mer noch nicht be­rüh­ren, son­dern nur mit den Au­gen ver­schlin­gen durf­ten. Die Pre­digt dau­er­te dop­pelt so lan­ge als nö­tig war. Dann aber, end­lich, schi­en man zur Sa­che zu kom­men.

Ma­da­me Enke er­hob sich, auf der pom­pö­sen Brust den Lui­sen­or­den, je­der Zoll Ma­ria-The­re­sia.

Ihr be­deu­ten­der Kopf mit der run­den Nase und zwei schwar­zen, feu­ri­gen Au­gen ge­hör­te eher der sla­wi­schen als der deut­schen Ras­se an. Sie hat­te die schöns­ten Stücke, Ohr­ge­hän­ge, Bro­schen, Hals­ket­ten, aus dem Fa­mi­li­en­schmuck der Hin­de­mith an­ge­legt, ganz dem fest­li­chen Abend an­ge­mes­sen. Und, wie ge­sagt: den Lui­sen­or­den, eine De­ko­ra­ti­on, die von ihr am meis­ten ge­schätzt und von al­len am meis­ten be­nei­det wur­de.

Hat­ten das Kind­lein in der Krip­pe, Ma­ria und Jo­seph, Ochs und Ese­lein aber je sol­che Wor­te ge­hört und in sol­chem Ton, wie sie aus dem Mun­de der Trä­ge­rin des Lui­sen­or­dens nun her­vor­gin­gen? Schon die ers­ten Ver­laut­ba­run­gen der wohl­tä­ti­gen Dame schie­nen den Bart­flaum, den sie auf der Ober­lip­pe trug, ge­wis­ser­ma­ßen zu recht­fer­ti­gen.

»Ihr wisst, dass ihr von mild­tä­ti­gen Men­schen hier be­schenkt wer­det«, hieß es un­ge­fähr, »und ich set­ze vor­aus, dass ihr das an­er­kennt und dank­bar seid.« Es klang re­so­lut, und man wuss­te so­fort, mit Frau Enke an­bin­den wür­de viel Ener­gie er­for­dern. Sie schüt­te­te dann, sich mehr­fach bis zu Kom­man­do­tö­nen stei­gernd, eine Fül­le mo­ra­li­scher For­de­run­gen aus, die nun noch von den ver­wirr­ten Gäs­ten des Christ­kin­des ver­ar­bei­tet wer­den muss­ten, be­vor sie ihre Por­tio­nen er­grei­fen durf­ten.

Und plötz­lich ver­nahm man zu all­ge­mei­nem Er­stau­nen und Be­frem­den et­was wie einen wü­ten­den Wort­wech­sel. Man er­kann­te dann, dass er ein­sei­tig war, dass näm­lich Ma­da­me Enke ein hohl­wan­gi­ges Berg­ar­bei­ter­weib aufs schreck­lichs­te öf­fent­lich ab­kan­zel­te: man hat­te ihm, hieß es, im vo­ri­gen Jahr Kin­der­klei­der und der­glei­chen ein­be­schert, die sie nicht ver­wen­det, son­dern ver­kauft habe. »Ei­gent­lich ge­hö­ren Sie gar nicht hier­her, Sie ver­die­nen gar nicht, aufs neue be­schenkt zu wer­den. Aber mer­ken Sie sich: es ist heu­te das letz­te Mal, falls Sie sich wie­der­um sol­cher Be­güns­ti­gung un­wür­dig zei­gen!«

Es war wohl der äu­ßers­te Tief­stand, auf den die ge­mü­ti­schen Ei­gen­schaf­ten der Ma­da­me Enke je ge­sun­ken wa­ren.

Die­ses Er­leb­nis, im ho­hen Gra­de roh, ent­rüs­tend und an­stö­ßig, ist mir als ein Pa­ra­dig­ma sol­cher Ver­an­stal­tun­gen, wie sie nicht sein sol­len, bis heu­te nach­ge­gan­gen. Ma­da­me Enke hat­te auf mei­ner Büh­ne aus­ge­spielt.

Žanrid ja sildid
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961 lk 2 illustratsiooni
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9783962818746
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