Loe raamatut: «Das Abenteuer meiner Jugend», lehekülg 6

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Zwölftes Kapitel

Nicht nur durch das Tau­ben­su­chen, son­dern auch durch die alt­über­kom­me­nen Sit­ten man­cher Jah­res­ta­ge er­wei­ter­ten sich mit mei­ner Kennt­nis des Orts die der Be­woh­ner, die der Men­schen im All­ge­mei­nen und mei­ne Kennt­nis­se über­haupt. Vier Tage vor Os­tern, am Grün­don­ners­tag, war die gan­ze Ju­gend Ober-, Mit­tel- und Nie­der­salz­brunns in Be­we­gung. In klei­nen oder grö­ße­ren Scha­ren zo­gen sie, Bet­tel­sä­cke um­ge­hängt, von Ge­höft zu Ge­höft, von Haus zu Haus um durch einen über­aus kur­z­en Ge­sang Ga­ben von den Be­woh­nern her­aus­zu­lo­cken. Das uni­so­no ge­sun­ge­ne Lied­chen hieß im Dia­lekt: »Sein Se ge­ba­ta, sein Se ge­ba­ta im a gri­na Dons­tig.« Hoch­deutsch: »Sei­en Sie ge­be­ten um den Grün­don­ners­tag.«

Noch all­ge­mei­ner war am so­ge­nann­ten Som­mer­sonn­tag das bet­teln­de He­rum­zie­hen. Die hier­bei ge­sun­ge­nen Lie­der wa­ren et­was um­fang­rei­cher, und ei­nes lau­te­te:

Ich bin a klee­ner Pum­mer,

ich kum­me zum Sum­mer,

lußt mich ni zu lan­ge stiehn,

ich muss a Häus­la wei­ter giehn.

Noch an ein zwei­tes er­in­ne­re ich mich:

Rote Ro­sen, rote Ro­sen

bliehn uf eeem Sten­gel.

Der Herr ist scheen, der Herr ist scheen,

de Frau is wie a En­gel.

Der Herr, der hat ’ne hu­che Mit­ze,

er hat se voll Du­ka­ten sit­ze,

er werd sich woll be­den­ken,

zum Sum­mer uns was schen­ken.

Ich und auch Carl schlos­sen uns, von den El­tern un­ge­hin­dert, meist je­der ei­ner an­de­ren Grup­pe an und zo­gen stun­den­lang mit. Wir san­gen vor dem Hau­se des Fräu­leins von Ran­dow, dem Flam­men­den Stern des Mau­rer­meis­ters Schmidt, wir heims­ten Ge­schen­ke von dem Gast­hof Zur Son­ne, dem Gast­hof Zum Schwert, beim De­muth­bau­er, beim Ru­dolf­bau­er, beim Por­zellan­wa­ren­händ­ler Ger­titsch­ke ein. Wir san­gen aber nur ein­mal vor dem Hau­se der En­kes ne­ben­an, dem Eli­sen­hof, weil der Empfang kein gu­ter war. Im ers­ten Stock ward ein Fens­ter ge­öff­net, und der Be­sit­zer brüll­te uns an, er wer­de sei­nen Hund auf uns het­zen, wenn wir nicht mach­ten, dass wir fort­kämen. Un­se­re zah­men Raub­zü­ge gin­gen bis ins Nie­der­dorf, wo wir fast über­all, aber be­son­ders in klei­nen Leu­ten, wil­li­ge Ge­ber fan­den. Zu­wei­len lud man uns ins Haus, um uns mit But­ter­bro­ten und Milch zu trak­tie­ren. Haupt­säch­lich aber wa­ren es nach der Tra­di­ti­on Eier, die man uns gab und die wir in ziem­li­chen Men­gen heim­brach­ten. Erst bei die­ser Ge­le­gen­heit habe ich ei­gent­lich mit leich­tem Be­frem­den das Ei und sei­nen Nah­rungs­wert ken­nen­ge­lernt.

Um den Ge­hor­sam deut­lich zu ma­chen, den wir ihm zu leis­ten ge­wohnt wa­ren, er­zähl­te mein Va­ter spä­ter oft und mit Hei­ter­keit, wie Carl mit ei­nem Korb voll Eier, sei­ner Grün­don­ners­tags­beu­te, ins Zim­mer ge­tre­ten war und er ihn prompt und ohne zu über­le­gen zur Erde warf, als mein Va­ter ihn im Scherz mit den Wor­ten »Schmeiß sie weg!« an­ge­herrscht hat­te.

Der Er­lös uns­rer Bet­te­lei wur­de von mei­ner Mut­ter in Eier­spei­sen nach un­serm Wunsch ver­wan­delt. Ich kann mich er­in­nern, dass Rührei mir aus ir­gend­ei­nem Grund wi­der­lich war, wäh­rend mir Eier­ku­chen we­ni­ger wi­der­stan­den. Ich brach­te wohl zum ers­ten Mal mit den fer­ti­gen Spei­sen ihr Roh­ma­te­ri­al in Zu­sam­men­hang.

Der Tau­ben­kult konn­te im we­sent­li­chen als Spiel gel­ten, ob­gleich auch sach­li­cher Ernst da­mit ver­bun­den war. Ich habe von der Lie­be zu die­sen Tie­ren eine Art Ab­nei­gung, Tau­ben­fleisch zu ge­nie­ßen, zu­rück­be­hal­ten. Auch ent­rüs­te­te ich mich mit Carl über das von den Weiß­stei­ner rei­chen Bau­ern viel­fach aus­ge­üb­te Ver­gnü­gen des Tau­ben­schie­ßens. Die Tier­chen wur­den in Kä­fi­gen auf den Schieß­platz ge­bracht und zu Aber­hun­der­ten aus der Luft ge­schos­sen, wenn man sie frei­ge­las­sen.

*

Am Ro­bin­son und am Le­der­strumpf, wie schon ge­sagt, habe ich le­sen ge­lernt. Da­ge­gen ist mein Ehr­geiz durch eine Ge­schich­te, »Das Step­pen­roß«, be­son­ders ent­facht wor­den. Ich nahm die­ses schnells­te der Ros­se in mei­ne Träu­me auf, be­stieg es selbst und be­sieg­te da­mit alle Ren­ner der Erde. Ob es da­mals in Deutsch­land Pfer­de­ren­nen ge­ge­ben hat, weiß ich nicht. Einst brach­te je­doch mein Va­ter ein Spiel nach Hau­se, wo in Blei ge­gos­se­ne Rei­ter, ven­tre à terre, be­mal­te Jock­eis auf Renn­pfer­den, auf eine als Renn­platz gra­du­ier­te Kar­te ge­stellt wur­den. Nach der Ent­schei­dung von Wür­fen aus dem Wür­fel­be­cher wur­de mit ih­nen vor­ge­rückt. Ein nie ge­se­he­nes Schau­spiel war mir da­durch na­he­ge­bracht und mei­ne Vor­stel­lungs­welt be­rei­chert.

Mo­ti­ve al­ler Art scho­ben sich durch­ein­an­der und in­ein­an­der – un­mög­lich, ihre Fül­le auf­zu­zäh­len. Man darf im­mer wie­der vor­aus­set­zen, dass ich ein Wild­ling war, zwar heim­lich von mei­nen El­tern ge­lenkt und ge­führt, aber von dem na­tur­ge­ge­be­nen Wunsch dau­ernd be­seelt, nichts von der Ur­sprungs­we­sen­heit auf­zu­ge­ben. Selbst schein­bar im Schlepp­tau von Carl, ver­folg­te ich im­mer noch ei­gens­te Wege.

Die großen Rund­flü­ge der Tau­ben im Blau, ihre blit­zen­den Schwen­kun­gen mach­ten mich un­zu­frie­den mit mei­ner Erd­ge­bun­den­heit. Ein Zau­ber­kas­ten mit Zau­ber­stab, den ich ge­schenkt er­hal­ten hat­te, Er­zäh­lun­gen von He­xen und Hexern, die das Ge­heim­nis be­sa­ßen, wie man durch die Luft flie­gen kann, brach­ten mich auf das Flug­pro­blem und sei­ne mög­li­chen Lö­sun­gen. Be­son­ders da ich im­mer wie­der des Nachts im Traum mich in Ge­gen­wart al­ler ohne alle Schwe­re und Schwie­rig­keit in die Luft er­hob mit ei­nem so über­zeu­gen­den Emp­fin­den von ver­ti­ka­ler Be­herr­schung des Raums, dass ich an eine Ver­gan­gen­heit, ein Vor­le­ben den­ken muss­te, wo mir die­se Be­we­gung ohne Schwe­re na­tür­lich ge­we­sen war.

An ein Vor­le­ben dach­te ich oft. Wie vie­len, war mir ge­le­gent­lich so zu­mut, als ob ich al­les mit und um den Gast­hof zur Kro­ne, mit und um mei­ne Ge­schwis­ter, Salz­brunn und sei­ne Heil­quel­len schon ein­mal in der Tie­fe der Zei­ten Punkt für Punkt ge­nau er­lebt hät­te. Das war nun der Ge­dan­ke ei­ner ewi­gen Wie­der­kunft, den ich auch spä­ter nai­ver­wei­se im Sin­ne des Lu­cre­ti­us Ca­rus und sei­ner be­schränk­ten Zahl von Ato­men und ih­ren mög­li­chen Kom­bi­na­tio­nen ge­dacht habe.

Der Zau­ber­kas­ten mach­te mich vor­über­ge­hend zum Schar­la­tan. Ich über­trug die Ver­su­che, Wun­der mit dem Nim­bus ei­nes Zau­be­rers vor­zutäu­schen, in mein Le­ben auf der Stra­ße. Fol­gen­des Stück­chen, das ich ver­ges­sen hat­te, wur­de von On­kel Gu­stav Schu­bert auf Rit­ter­gut Lohnig be­ob­ach­tet und mir spä­ter nicht ohne herz­li­ches Ver­gnü­gen wie­der­er­zählt.

Der Vor­gang hat­te sich, wie ich mich selbst ent­sin­ne, so ab­ge­spielt: Eine klei­ne Ar­mee von Ho­fe­kin­dern wur­de von Vet­ter Ge­org, der ge­wöhn­lich mein Feld­we­bel war, und mir zu al­ler­hand mi­li­tä­ri­schen Auf­zü­gen und sons­ti­gen Übun­gen an­ge­lei­tet und an­ge­führt. Leb­te man doch seit 1866 merk­lich zu­gleich in ei­ner Nach­kriegs­zeit und Vor­kriegs­zeit. So ver­mehr­te sich an je­dem Ge­burts­tag und je­dem Weih­nach­ten mei­ne ös­ter­rei­chisch-preu­ßi­sche Zinn­sol­da­ten­ar­mee. Schließ­lich war uns ein­mal das Mi­li­tä­ri­sche über­ge­wor­den, und wir dach­ten auf an­de­re Un­ter­hal­tun­gen. Plötz­lich aber, ich weiß nicht wie, be­haup­te­te ich, ich kön­ne flie­gen. Die Ho­fe­kin­der sa­hen in uns bei­den, dem Soh­ne des Guts­herrn und mir, Halb­göt­ter. Sie zwei­fel­ten, aber wa­ren glau­bens­be­reit und for­der­ten nun das Wun­der zu se­hen. Ich schäm­te mich in­ner­lich mei­ner eit­len Auf­schnei­de­rei, ließ mich aber in ein Ver­fah­ren hin­ein­drän­gen, von dem ich hoff­te, es wer­de mir Ge­le­gen­heit ge­ben, vor der Schluss­pro­be aus­zu­bre­chen. Wenn das Wun­der ge­lin­gen sol­le, be­haup­te­te ich, müs­se vor­her ei­ner Rei­he von mys­ti­schen Ge­bräu­chen, und zwar aufs ge­naues­te, ent­spro­chen wer­den. Wür­den hier­bei Feh­ler ge­macht, so kön­ne das Ex­pe­ri­ment nicht ge­lin­gen.

Ge­spannt, ein sol­ches Wun­der zu er­le­ben, zeig­te sich nun die Kin­der­schar von ei­ner mich auf eine be­un­ru­hi­gen­de Wei­se eh­ren­den Will­fäh­rig­keit. Es wuchs mei­ne Scham mit ih­rem Glau­ben. Da es ein Zu­rück nicht gab, fing ich den trau­ri­gen Ho­kus­po­kus an.

Je­des Kind muss­te einen Stein ge­gen ein Scheu­nen­tor wer­fen, nach ei­ni­ger Zeit muss­te es drei­mal die Wor­te »Flie­ge, flie­ge, flie­ge!« aus­ru­fen. War dies ge­sche­hen, ging es zur Pum­pe, wo je­der der Teil­neh­mer ein Glas Was­ser, ohne et­was da­von zu ver­schüt­ten, zu trin­ken hat­te. Da ich ei­ner großen Ent­lar­vung ent­ge­gen­ging, zog ich die­se an­geb­lich un­um­gäng­li­che Vor­be­rei­tung so lan­ge wie mög­lich hin, ohne auf den Ge­dan­ken zu kom­men, we­gen ei­nes an­geb­lich ge­mach­ten Feh­lers, den Ver­such als ge­schei­tert an­zu­sa­gen. End­lich stieg ich fast ver­zwei­felnd auf ir­gend­ei­nen Vor­bau der Guts­stäl­le hin­auf und sprang mit den we­nig über­zeu­gen­den Wor­ten »Ich flie­ge, ich flie­ge!« her­un­ter.

Bei al­le­dem hat­te mich On­kel Schu­bert heim­lich be­ob­ach­tet.

Ein sol­cher Trieb, wenn er herr­schend wird, macht den Hoch­stap­ler. Was ich tat, ge­sch­ah zwar im Spiel, war aber schließ­lich auf ei­nem über­trie­be­nen Gel­tungs­be­dürf­nis auf­ge­baut und dem Miss­brauch der Un­wis­sen­heit mei­ner Ge­spie­len: ich übte Be­trug, wo­bei ich au­ßer­halb der zwar un­ge­schrie­be­nen, aber un­ver­brüch­li­chen kind­li­chen Spiel­re­geln ge­riet, das Ver­trau­en brach und Ver­rat übte.

*

Nach dem Esel­ge­schenk an den klei­nen Ge­org, noch zu Leb­zei­ten des Groß­va­ters, ver­brach­te ich auf Ein­la­dung der Ver­wand­ten mei­ne Som­mer­fe­ri­en­zeit in Lohnig, in der ich mich au­ßer durch das pein­lich miss­ra­te­ne Flug­ex­pe­ri­ment durch al­ler­lei an­de­re Hel­den­ta­ten aus­zeich­ne­te.

Nicht aber das ist bei die­ser ju­gend­li­chen Los­lö­sung mei­ner Per­son vom bis­he­ri­gen Schau­platz mei­nes Le­bens und Ver­pflan­zung auf einen an­de­ren die Haupt­sa­che, son­dern eine da­mit ver­bun­de­ne all­ge­mei­ne Er­fri­schung, Er­ho­lung und Er­neue­rung.

Es war Juli, ich kam in die Ern­te­zeit. Ta­gein, tag­aus schwank­ten die hoch­ge­türm­ten Ern­te­wa­gen über den Hof, wur­den auf die lehm­ge­stampf­ten Ten­nen ge­rückt und rechts und links in die Ban­sen ab­ge­la­den. Un­un­ter­bro­chen rausch­ten und zisch­ten die Gar­ben. Hüh­ner in un­ge­zähl­ten Men­gen mach­ten sich über die Wei­zen­kör­ner, die aus­fie­len, her, und eben­so zahl­rei­che Flü­ge wei­ßer Tau­ben wuss­ten bei der Fül­le des Se­gens al­lent­hal­ben nicht, wo sie zu­erst die Kröp­fe fül­len soll­ten.

Tan­te Ju­lie und On­kel Gu­stav re­si­dier­ten im klei­nen Her­ren­haus, wo Vet­ter Ge­org und ich abends von der re­so­lu­ten Guts­frau im ge­mein­sa­men Zim­mer zu Bett ge­bracht und mor­gens wie­der dar­aus er­löst wur­den, denn zu schla­fen in die­ser all­be­glücken­den Som­mers­zeit war für uns kei­ne leich­te Auf­ga­be. Man be­den­ke, dass uns bei­den Kna­ben nicht nur ein Esel, son­dern auch ein Wa­gen mit schön­ge­schirr­ten Zie­gen­bö­cken zur Ver­fü­gung stand, – dass wir drau­ßen auf den Stop­peln, wo die Lei­ter­wa­gen mit vol­len Gar­ben be­la­den wur­den, lang­sam fort­rückend, auf den Pfer­den sa­ßen und schließ­lich oben, in luf­ti­ger Höhe der La­dung, und auf ih­rem be­que­men Bett heim­schwank­ten, – dass wir uns über­all als Kin­der des Her­ren­hau­ses wohl­ge­lit­ten tum­meln durf­ten nach Her­zens­lust. Wir jag­ten uns auf den Wei­zen­mas­sen der Scheu­nen, durch die end­lo­sen Stal­lun­gen der Rin­der und Pfer­de, zwi­schen der nach vie­len Hun­der­ten zäh­len­den Be­völ­ke­rung der großen Schä­fe­rei her­um. Wir wuss­ten, dass un­se­rem Kom­man­do die gan­ze Ju­gend der Ge­sin­de­häu­ser je­der­zeit folg­te, und wir ge­nos­sen eine Ver­pfle­gung, die mich, ver­glich ich sie mit der so­wohl som­mer­li­chen als win­ter­li­chen des El­tern­hau­ses, mär­chen­haft an­mu­ten muss­te: So­gleich nach dem Auf­wa­chen Kaf­fee mit di­cker Sah­ne, fri­sche Milch, mit Klum­pen von But­ter und Ho­nig be­leg­tes Wei­zen­ge­bäck; mit­tags Bra­ten, Ge­mü­se, Kom­pot­te in Men­gen und fri­sche Früch­te, fri­sche Sala­te mit sau­rer Sah­ne an­ge­macht, Käse, But­ter und selbst­ge­ba­cke­nes Rog­gen­brot. Zu al­le­dem wie­der Milch, so viel man woll­te. But­ter, Ho­nig, Sah­ne wie­der­um zum Nach­mit­tags­kaf­fee. Nun, ich darf mir den Abend er­spa­ren, er schloss sich den üb­ri­gen Mahl­zei­ten wür­dig an.

Was war da­ge­gen da­heim selbst im Som­mer die tro­ckene Sem­mel und ein müh­sam er­kämpf­ter Mor­gen­kaf­fee, mein müh­sam er­kämpf­tes, lieb­los auf ei­nem Tel­ler zu­sam­men­ge­klecks­tes Mit­ta­ges­sen, zur Ve­s­per mein Glas Was­ser und et­was Him­beer­saft, des Abends die dünn­be­stri­che­ne But­ter­schnit­te, eine Er­näh­rungs­wei­se, die ich, so­lan­ge ich da­heim war, als gott­ge­wollt und selbst­ver­ständ­lich ohne al­les Mur­ren emp­fand.

Herr­lich blüht noch heut die Erin­ne­rung an eine sol­che Schla­raf­fen­zeit, aus der ich gänz­lich ver­än­dert, kern­ge­sund und nicht ohne lei­ses Be­dau­ern nach Salz­brunn zu­rück­kehr­te. Zum ers­ten Mal emp­fand ich in dem gan­zen Ba­de­be­trieb, in­be­grif­fen mein El­tern­haus, eine ge­wis­se, mir ei­gent­lich nicht ent­spre­chen­de Künst­lich­keit: noch konn­te mir nicht zum Be­wusst­sein kom­men, dass ich ei­gent­lich im­mer von ihr fort mit un­still­ba­rem Drang zur Na­tur streb­te, wo sie un­ver­bil­det, ur­sprüng­lich und ein­fach ist.

Dreizehntes Kapitel

Mo­ti­ve al­ler Art scho­ben sich durch­ein­an­der und in­ein­an­der, wur­de ge­sagt. Wer dürf­te ver­su­chen, so in­nig Ver­wirr­tes zu son­dern!

Ne­ben Feld­zü­gen und Schlach­ten, die ich weit­läu­fig in lee­ren Zim­mern un­ter Benüt­zung von Fuß­bo­den, Stüh­len und Ti­schen mit mei­nen Zinn­sol­da­ten durch­führ­te, war ich im­mer noch Ching­ach­gook, ritt das wind­schnel­le Step­pen­roß und hat­te au­ßer­dem Ham­let, den Dä­nen, in mei­nen Wachtraum auf­ge­nom­men. Der Büh­nen­ein­druck, durch den es ge­sch­ah, steht in kei­nem Ver­hält­nis zu sei­ner un­aus­lösch­li­chen Dau­er.

Ich lag krank an Mumps oder sonst ei­ner Kin­der­krank­heit im Zim­mer Nu­me­ro Sie­ben am Ende des Flurs. Es war Win­ter, in ei­ner Zeit, wo man um vier Uhr die Ker­zen an­zün­det. Es brann­te eine an mei­nem Bett. Da hat­ten Carl und Jo­han­na den Ge­dan­ken ge­fasst, mir die Zeit zu ver­trei­ben. Sie brach­ten ein klei­nes Kist­chen her­ein, aus dem sie al­ler­hand Din­ge her­aus­hol­ten. Es wa­ren klei­ne Ku­lis­sen aus Papp­de­ckel, die einen fei­er­lich-go­ti­schen Raum, das In­ne­re ei­nes Do­mes, vor­zau­ber­ten. Was Prinz Ham­let mit die­sem Dom zu tun hat­te, wuss­te ich nicht. Er war eben da! In schö­ner Rüs­tung, mit gel­bem Haar, aus­ge­schnit­ten aus Papp­de­ckel, un­ten mit ei­nem Klötz­chen ver­se­hen. Mir von Jo­han­na und Carl als Prinz Ham­let vor­ge­stellt und durch ih­ren Mund al­ler­lei Wor­te her­sa­gend, stand er je­doch nur kur­ze Zeit auf dem Holz­klötz­chen. Dann wur­de er auf zwei Pup­pen­stühl­chen ge­legt und lag dort, ich weiß nicht zu wel­chem Zweck, eine Wei­le aus­ge­streckt.

So blieb er mir in Erin­ne­rung. Die Ant­wort auf die Fra­ge wes­halb wird nie er­schöp­fend zu ge­ben sein. Eine Papp­fi­gur, ein Thea­ter­chen, das ge­wiss nicht mehr als acht Gro­schen kos­te­te, und doch kam das Gan­ze der fei­er­li­chen Grund­stein­le­gung ei­nes Bau­es gleich, der durch sieb­zig Jah­re ge­wach­sen ist. Das be­deu­tet der frü­hen Ju­gend In­nen­ge­walt, es be­deu­tet Voraus­sicht des Un­be­wuss­ten, es be­deu­tet Wirk­sam­wer­den der Vor­se­hung, es be­deu­tet schöp­fe­ri­sche Ent­wick­lung.

Mag sein, bei dem ein­zi­gen Zuschau­er, der ich war, ha­ben ei­ni­ge Fie­ber­gra­de mit­ge­spielt. Es hat die nächt­li­che, viel­leicht auch stür­mi­sche Stun­de der Äqui­nok­ti­al­ta­ge mit­ge­spielt. Das gan­ze Haus mit den lan­gen Flu­ren über­ein­an­der, sei­nen kal­ten, lee­ren, ge­spens­ter­be­wohn­ten Zim­mern – auch Ham­lets Geist er­leb­te ich einen Au­gen­blick – hat mit­ge­spielt. Die wei­ten, lee­ren, ei­si­gen Säle mit ih­ren Bil­dern, dem Leich­nam, den man vom Kreu­ze nimmt, ha­ben mit­ge­spielt. Sie wa­ren mit Nacht gleich­sam voll­ge­stopft und ha­ben viel­leicht im Stur­me ge­zit­tert. Mit Fins­ter­nis voll­ge­stopft wa­ren die Kü­chen, die Vor­räu­me, die Bü­fett­stu­be. Die ver­las­se­nen Ga­le­ri­en des großen Saals wa­ren mit Fins­ter­nis voll­ge­stopft. Durch all das seufz­te viel­leicht der Wind. Er fauch­te, er ächz­te, er krächz­te und ras­sel­te. Ge­gen al­les das, was ei­nem schwar­zen Uni­ver­sum ver­gleich­bar mich ein­ker­ker­te, kämpf­te der klei­ne Schein ei­nes Lichts, das ein Acht­gro­schen­thea­ter mit ei­nem go­ti­schen Dom be­leuch­te­te, der nicht mehr als zwei Pfen­ni­ge ge­kos­tet ha­ben kann.

Aber was wur­de mir die­ser Dom, die­se un­ter­ir­di­sche, in die Schwär­ze des Nichts ver­senk­te Ka­the­dra­le! Ich muss an West­mins­ter Ab­bey den­ken, wenn ich einen schwä­che­ren Ab­glanz da­von ha­ben will. Sie war gehüllt in schwar­zes Nichts als leuch­ten­des Mys­te­ri­um. Wo hat­te man frei­lich bei spä­te­rem Wie­der­se­hen mit die­sem düs­te­ren Dich­ter­werk die glei­che Begleit­mu­sik?

*

Welch ein gro­tes­kes Ne­ben­ein­an­der be­her­bergt ein Kna­ben­hirn! Ne­ben dem Ham­let, der in ei­ner Art von Hei­li­gen­schrein auf­be­wahrt wur­de, ru­mor­te in mir die Ge­stalt ei­nes an­thro­poi­den Af­fen. Ein andres Thea­ter, das Kur­thea­ter, war die Ur­sa­che. Man­ches hat­te es mich in­zwi­schen ge­lehrt, die­ses Haus.

Wenn ich nun auf dem Heim­gang von der Schu­le ver­stoh­len, wie oft ge­sch­ah, ins dunkle Par­terre schlüpf­te, hat­te ich längst be­grif­fen, dass hier, selbst am Schluss ei­nes Trau­er­spiels, nie­mand ge­tö­tet und auch der Tod nur ge­spielt wur­de. Das ge­spro­che­ne Wort wur­de im Frei­en kaum ge­hört, meist war es da­her Mu­sik, die uns Kin­der in die Sperr­sit­ze lock­te, mit­un­ter aus über­hel­ler, glü­hen­der Son­nen­welt in den küh­len Däm­mer ei­ner von künst­li­chem Licht be­schie­ne­nen künst­li­chen.

Ja, die Grie­chen, die sind klas­sisch,

doch so klas­sisch nicht wie wir!

war der Re­frain, den eine Sou­bret­te im­mer wie­der, ak­kom­pa­gniert von der Kur­ka­pel­le, her­aus­schmet­ter­te, wo­bei sie sich fesch auf den Schen­kel schlug.

Ei­nes Abends hat­te mich dann mei­ne Mut­ter in eine Gast­vor­stel­lung mit­ge­nom­men. Der Gast war ein Akro­bat, der, in brau­nen Filz ein­ge­näht, einen Men­schen­af­fen dar­stell­te. Er hat­te sich, oder man hat­te ihn, in ei­ner Pflan­zer­fa­mi­lie, viel­leicht auf Bor­neo, hei­misch ge­macht. Es war ein miss­ver­stan­de­nes Tier, glau­be ich, das we­gen un­gu­ter Ei­gen­schaf­ten, haupt­säch­lich wohl von dem Pflan­zer, rau be­han­delt wur­de. Aber da kam der den Orang-Utan glo­ri­fi­zie­ren­de Au­gen­blick. Die ein­sa­me Farm ge­riet in Brand, die Flam­men lo­der­ten um ein Schlaf­zim­mer, in dem hoff­nungs­los ver­lo­ren ein Säug­ling und, ich glau­be, noch ein klei­nes Mäd­chen zu­rück­ge­blie­ben wa­ren. Man hör­te die Far­mers­leu­te ver­geb­lich jam­mern. Da aber, im Au­gen­blick der höchs­ten Ge­fahr, er­schi­en mit leich­tem Schwun­ge der Affe, der Ret­ter, im Qualm der ben­ga­li­schen Flam­men auf der Fens­ter­bank. Sorg­fäl­tig hob er den Säug­ling aus dem Bett und ent­fern­te sich mit ihm durch das Fens­ter, kam wie­der und ent­riss auch das Mäd­chen den Flam­men. Ich glau­be, er trug sie hucke­pack, als er sie wie­der­um durch das Fens­ter mit sich nahm, um sie den El­tern zu über­ge­ben. So­gleich be­wies auch ihr Freu­den­ge­schrei, dass es ge­sche­hen war.

Die­ser Affe be­weg­te sich dann noch zwei- und vier­hän­dig auf der Ba­lus­tra­de des ers­ten Ran­ges au­ßer­halb der Büh­ne her­um, ja mach­te auf ei­nem höl­zer­nen Zwei­rad, wie dem des Ka­pell­meis­ters, zu­letzt un­glaub­li­che Kunst­stücke.

Dies mach­te ich ihm in der Fol­ge nicht nach, da­für aber war sein ge­sam­tes äf­fi­sches Ge­ba­ren zwangs­läu­fig auf mich über­ge­gan­gen: die ei­gen­tüm­li­chen Kehl­lau­te des Tie­res, die nach In­nen ge­bo­ge­nen Fin­ger­spit­zen, die ein Ge­hen auf den Knie­beln1 er­mög­lich­ten, und schließ­lich sei­ne ei­gen­tüm­li­che Be­weg­lich­keit. Der Er­folg mei­nes Nach­ah­mungs­triebs lock­te selbst mei­nem Va­ter, der da­mals noch kaum aus dem Rah­men sei­nes stei­fen Erns­tes trat, eine Art Bei­fall ab, der sich al­ler­dings nur durch ein Her­bli­cken und eine kaum merk­li­che Ver­än­de­rung des be­herrsch­ten Ge­sichts aus­drück­te.

Die im Sti­le der Birch-Pfeif­fer ge­dach­te thea­tra­li­sche Af­fen­ge­stalt über­trug sich also, ähn­lich wie Ching­ach­gook, von in­ne­rer in äu­ßer­li­che Wirk­lich­keit, und zum ers­ten Mal war da­bei Kunst als neu­er­wor­be­nes Kön­nen im Spie­le.

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Eine an­de­re Kunst hat­te sich da­mals ohne mein Zu­tun in mir aus­ge­bil­det. Mein dau­ern­des Le­ben in frei­er Na­tur, be­son­ders vom frü­hen Früh­jahr bis zum spä­ten Herbst, Jah­res­zei­ten, die ich vom ers­ten Le­ber­blüm­chen, Him­mels­schlüs­sel und Maiglöck­chen bis zur letz­ten As­ter aus­kos­te­te, mach­te mich zum Schü­ler der Sing­vö­gel. Selt­sa­mer­wei­se gab es Nach­ti­gal­len in Salz­brunn nicht, aber sonst alle mög­li­chen Ar­ten. Um ein Rot­kehl­chen oder sonst einen Sän­ger nach­zuah­men, be­durf­te ich kei­nes In­stru­ments als ei­ner Mem­bra­ne von Bir­ken­rin­de. Lang­ge­zo­ge­ne Lau­te, Ge­schmet­ter und end­lo­se Tril­ler brach­te ich mit der Keh­le her­vor, so täu­schend, dass eine Grup­pe von Ba­de­gäs­ten hin und wie­der an­däch­tig ste­hen­blieb, wenn ich mei­ne mich selbst be­glücken­de Kunst im Däm­mer des Abends, in ei­nem Ge­büsch ver­steckt, aus­üb­te. Ich hat­te da­mit, wo ich mich her­aus­wag­te, bei ein­fa­chen Leu­ten des Orts, auch bei Apo­the­ker Lin­kes, nicht in der ei­ge­nen Fa­mi­lie, eine Art Berühmt­heit er­langt und wur­de nicht sel­ten ge­be­ten, mich hö­ren zu las­sen.

Sinn für die Welt der Vö­gel und Lie­be zu ihr hat­te ich al­lent­hal­ben ge­won­nen. Moch­ten es die Scha­ren von Sper­lin­gen sein, die da­mals weit zahl­rei­cher als heut Höfe und Stra­ßen mit ih­rem lus­tig fre­chen We­sen be­völ­ker­ten, oder in der Schus­ter­werk­statt die spre­chen­de Doh­le und das Rot­kehl­chen oder die Sta­re, die früh­jahrs pfei­fend ihre al­ten Star­käs­ten in Be­sitz nah­men, oder die som­mer­li­chen Sing­vö­gel oder bei Fräu­lein von Ran­dow im Kur­län­di­schen Hof der Pa­pa­gei. Oder in den Glas­schrän­ken des Mül­lers von Wil­helms­höh aus­ge­stopft alle er­denk­li­chen, sel­ten ge­se­he­nen hei­mi­schen Ar­ten. Oder die Reb­huhn­fa­mi­lie, die eben­so wie ein bal­zen­der Au­er­hahn, in großen Glas­käs­ten un­ter­ge­bracht, den Ein­gangs­raum un­se­res Gast­hofs schmück­te.

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Wer war die­ser Mül­ler von Wil­helms­höh? Ein äl­te­rer, schweig­sa­mer Mann in grü­nem Rock, der Wil­helms­höh, einen Aus­flugs­ort, von der Ba­de­ver­wal­tung ge­pach­tet hat­te. Wer den Mül­ler von Wil­helms­höh er­wähn­te, mein­te einen ge­heim­ni­sum­wo­be­nen Mann, dem man man­cher­lei un­ge­wöhn­li­che Din­ge zu­trau­te. Wil­helms­höh war um­ge­ben von Wald. Nie an­ders als im grü­nen Rock, die kur­ze Pfei­fe im Mun­de, traf ihn, wer nach­mit­tags dort sei­nen Kaf­fee trank. In dem ro­ma­nisch-go­ti­schen Bau des Ver­gnü­gungs­lo­kals war sei­ne or­ni­tho­lo­gi­sche Samm­lung un­ter­ge­bracht, auch eine Eier­samm­lung war da­bei, und man konn­te mo­d­erns­te Jagd­flin­ten in ei­nem Glas­schrank be­wun­dern.

War er ein Frei­schütz, der Mül­ler von Wil­helms­höh? Gerüch­te um ihn, Ge­mun­kel, Ge­flüs­ter woll­ten nicht auf­hö­ren. Wo kam er her? Wahr­schein­lich hat­te er eine Far­mer- und Pelz­jä­ger­schu­le in der Neu­en Welt hin­ter sich. Auch auf uns Kin­der wirk­te er als ein Mensch, der in den klei­nen Rah­men von Salz­brunn nicht hin­ein­pass­te.

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Žanrid ja sildid
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