Nicht nur durch das Taubensuchen, sondern auch durch die altüberkommenen Sitten mancher Jahrestage erweiterten sich mit meiner Kenntnis des Orts die der Bewohner, die der Menschen im Allgemeinen und meine Kenntnisse überhaupt. Vier Tage vor Ostern, am Gründonnerstag, war die ganze Jugend Ober-, Mittel- und Niedersalzbrunns in Bewegung. In kleinen oder größeren Scharen zogen sie, Bettelsäcke umgehängt, von Gehöft zu Gehöft, von Haus zu Haus um durch einen überaus kurzen Gesang Gaben von den Bewohnern herauszulocken. Das unisono gesungene Liedchen hieß im Dialekt: »Sein Se gebata, sein Se gebata im a grina Donstig.« Hochdeutsch: »Seien Sie gebeten um den Gründonnerstag.«
Noch allgemeiner war am sogenannten Sommersonntag das bettelnde Herumziehen. Die hierbei gesungenen Lieder waren etwas umfangreicher, und eines lautete:
Ich bin a kleener Pummer,
ich kumme zum Summer,
lußt mich ni zu lange stiehn,
ich muss a Häusla weiter giehn.
Noch an ein zweites erinnere ich mich:
Rote Rosen, rote Rosen
bliehn uf eeem Stengel.
Der Herr ist scheen, der Herr ist scheen,
de Frau is wie a Engel.
Der Herr, der hat ’ne huche Mitze,
er hat se voll Dukaten sitze,
er werd sich woll bedenken,
zum Summer uns was schenken.
Ich und auch Carl schlossen uns, von den Eltern ungehindert, meist jeder einer anderen Gruppe an und zogen stundenlang mit. Wir sangen vor dem Hause des Fräuleins von Randow, dem Flammenden Stern des Maurermeisters Schmidt, wir heimsten Geschenke von dem Gasthof Zur Sonne, dem Gasthof Zum Schwert, beim Demuthbauer, beim Rudolfbauer, beim Porzellanwarenhändler Gertitschke ein. Wir sangen aber nur einmal vor dem Hause der Enkes nebenan, dem Elisenhof, weil der Empfang kein guter war. Im ersten Stock ward ein Fenster geöffnet, und der Besitzer brüllte uns an, er werde seinen Hund auf uns hetzen, wenn wir nicht machten, dass wir fortkämen. Unsere zahmen Raubzüge gingen bis ins Niederdorf, wo wir fast überall, aber besonders in kleinen Leuten, willige Geber fanden. Zuweilen lud man uns ins Haus, um uns mit Butterbroten und Milch zu traktieren. Hauptsächlich aber waren es nach der Tradition Eier, die man uns gab und die wir in ziemlichen Mengen heimbrachten. Erst bei dieser Gelegenheit habe ich eigentlich mit leichtem Befremden das Ei und seinen Nahrungswert kennengelernt.
Um den Gehorsam deutlich zu machen, den wir ihm zu leisten gewohnt waren, erzählte mein Vater später oft und mit Heiterkeit, wie Carl mit einem Korb voll Eier, seiner Gründonnerstagsbeute, ins Zimmer getreten war und er ihn prompt und ohne zu überlegen zur Erde warf, als mein Vater ihn im Scherz mit den Worten »Schmeiß sie weg!« angeherrscht hatte.
Der Erlös unsrer Bettelei wurde von meiner Mutter in Eierspeisen nach unserm Wunsch verwandelt. Ich kann mich erinnern, dass Rührei mir aus irgendeinem Grund widerlich war, während mir Eierkuchen weniger widerstanden. Ich brachte wohl zum ersten Mal mit den fertigen Speisen ihr Rohmaterial in Zusammenhang.
Der Taubenkult konnte im wesentlichen als Spiel gelten, obgleich auch sachlicher Ernst damit verbunden war. Ich habe von der Liebe zu diesen Tieren eine Art Abneigung, Taubenfleisch zu genießen, zurückbehalten. Auch entrüstete ich mich mit Carl über das von den Weißsteiner reichen Bauern vielfach ausgeübte Vergnügen des Taubenschießens. Die Tierchen wurden in Käfigen auf den Schießplatz gebracht und zu Aberhunderten aus der Luft geschossen, wenn man sie freigelassen.
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Am Robinson und am Lederstrumpf, wie schon gesagt, habe ich lesen gelernt. Dagegen ist mein Ehrgeiz durch eine Geschichte, »Das Steppenroß«, besonders entfacht worden. Ich nahm dieses schnellste der Rosse in meine Träume auf, bestieg es selbst und besiegte damit alle Renner der Erde. Ob es damals in Deutschland Pferderennen gegeben hat, weiß ich nicht. Einst brachte jedoch mein Vater ein Spiel nach Hause, wo in Blei gegossene Reiter, ventre à terre, bemalte Jockeis auf Rennpferden, auf eine als Rennplatz graduierte Karte gestellt wurden. Nach der Entscheidung von Würfen aus dem Würfelbecher wurde mit ihnen vorgerückt. Ein nie gesehenes Schauspiel war mir dadurch nahegebracht und meine Vorstellungswelt bereichert.
Motive aller Art schoben sich durcheinander und ineinander – unmöglich, ihre Fülle aufzuzählen. Man darf immer wieder voraussetzen, dass ich ein Wildling war, zwar heimlich von meinen Eltern gelenkt und geführt, aber von dem naturgegebenen Wunsch dauernd beseelt, nichts von der Ursprungswesenheit aufzugeben. Selbst scheinbar im Schlepptau von Carl, verfolgte ich immer noch eigenste Wege.
Die großen Rundflüge der Tauben im Blau, ihre blitzenden Schwenkungen machten mich unzufrieden mit meiner Erdgebundenheit. Ein Zauberkasten mit Zauberstab, den ich geschenkt erhalten hatte, Erzählungen von Hexen und Hexern, die das Geheimnis besaßen, wie man durch die Luft fliegen kann, brachten mich auf das Flugproblem und seine möglichen Lösungen. Besonders da ich immer wieder des Nachts im Traum mich in Gegenwart aller ohne alle Schwere und Schwierigkeit in die Luft erhob mit einem so überzeugenden Empfinden von vertikaler Beherrschung des Raums, dass ich an eine Vergangenheit, ein Vorleben denken musste, wo mir diese Bewegung ohne Schwere natürlich gewesen war.
An ein Vorleben dachte ich oft. Wie vielen, war mir gelegentlich so zumut, als ob ich alles mit und um den Gasthof zur Krone, mit und um meine Geschwister, Salzbrunn und seine Heilquellen schon einmal in der Tiefe der Zeiten Punkt für Punkt genau erlebt hätte. Das war nun der Gedanke einer ewigen Wiederkunft, den ich auch später naiverweise im Sinne des Lucretius Carus und seiner beschränkten Zahl von Atomen und ihren möglichen Kombinationen gedacht habe.
Der Zauberkasten machte mich vorübergehend zum Scharlatan. Ich übertrug die Versuche, Wunder mit dem Nimbus eines Zauberers vorzutäuschen, in mein Leben auf der Straße. Folgendes Stückchen, das ich vergessen hatte, wurde von Onkel Gustav Schubert auf Rittergut Lohnig beobachtet und mir später nicht ohne herzliches Vergnügen wiedererzählt.
Der Vorgang hatte sich, wie ich mich selbst entsinne, so abgespielt: Eine kleine Armee von Hofekindern wurde von Vetter Georg, der gewöhnlich mein Feldwebel war, und mir zu allerhand militärischen Aufzügen und sonstigen Übungen angeleitet und angeführt. Lebte man doch seit 1866 merklich zugleich in einer Nachkriegszeit und Vorkriegszeit. So vermehrte sich an jedem Geburtstag und jedem Weihnachten meine österreichisch-preußische Zinnsoldatenarmee. Schließlich war uns einmal das Militärische übergeworden, und wir dachten auf andere Unterhaltungen. Plötzlich aber, ich weiß nicht wie, behauptete ich, ich könne fliegen. Die Hofekinder sahen in uns beiden, dem Sohne des Gutsherrn und mir, Halbgötter. Sie zweifelten, aber waren glaubensbereit und forderten nun das Wunder zu sehen. Ich schämte mich innerlich meiner eitlen Aufschneiderei, ließ mich aber in ein Verfahren hineindrängen, von dem ich hoffte, es werde mir Gelegenheit geben, vor der Schlussprobe auszubrechen. Wenn das Wunder gelingen solle, behauptete ich, müsse vorher einer Reihe von mystischen Gebräuchen, und zwar aufs genaueste, entsprochen werden. Würden hierbei Fehler gemacht, so könne das Experiment nicht gelingen.
Gespannt, ein solches Wunder zu erleben, zeigte sich nun die Kinderschar von einer mich auf eine beunruhigende Weise ehrenden Willfährigkeit. Es wuchs meine Scham mit ihrem Glauben. Da es ein Zurück nicht gab, fing ich den traurigen Hokuspokus an.
Jedes Kind musste einen Stein gegen ein Scheunentor werfen, nach einiger Zeit musste es dreimal die Worte »Fliege, fliege, fliege!« ausrufen. War dies geschehen, ging es zur Pumpe, wo jeder der Teilnehmer ein Glas Wasser, ohne etwas davon zu verschütten, zu trinken hatte. Da ich einer großen Entlarvung entgegenging, zog ich diese angeblich unumgängliche Vorbereitung so lange wie möglich hin, ohne auf den Gedanken zu kommen, wegen eines angeblich gemachten Fehlers, den Versuch als gescheitert anzusagen. Endlich stieg ich fast verzweifelnd auf irgendeinen Vorbau der Gutsställe hinauf und sprang mit den wenig überzeugenden Worten »Ich fliege, ich fliege!« herunter.
Bei alledem hatte mich Onkel Schubert heimlich beobachtet.
Ein solcher Trieb, wenn er herrschend wird, macht den Hochstapler. Was ich tat, geschah zwar im Spiel, war aber schließlich auf einem übertriebenen Geltungsbedürfnis aufgebaut und dem Missbrauch der Unwissenheit meiner Gespielen: ich übte Betrug, wobei ich außerhalb der zwar ungeschriebenen, aber unverbrüchlichen kindlichen Spielregeln geriet, das Vertrauen brach und Verrat übte.
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Nach dem Eselgeschenk an den kleinen Georg, noch zu Lebzeiten des Großvaters, verbrachte ich auf Einladung der Verwandten meine Sommerferienzeit in Lohnig, in der ich mich außer durch das peinlich missratene Flugexperiment durch allerlei andere Heldentaten auszeichnete.
Nicht aber das ist bei dieser jugendlichen Loslösung meiner Person vom bisherigen Schauplatz meines Lebens und Verpflanzung auf einen anderen die Hauptsache, sondern eine damit verbundene allgemeine Erfrischung, Erholung und Erneuerung.
Es war Juli, ich kam in die Erntezeit. Tagein, tagaus schwankten die hochgetürmten Erntewagen über den Hof, wurden auf die lehmgestampften Tennen gerückt und rechts und links in die Bansen abgeladen. Ununterbrochen rauschten und zischten die Garben. Hühner in ungezählten Mengen machten sich über die Weizenkörner, die ausfielen, her, und ebenso zahlreiche Flüge weißer Tauben wussten bei der Fülle des Segens allenthalben nicht, wo sie zuerst die Kröpfe füllen sollten.
Tante Julie und Onkel Gustav residierten im kleinen Herrenhaus, wo Vetter Georg und ich abends von der resoluten Gutsfrau im gemeinsamen Zimmer zu Bett gebracht und morgens wieder daraus erlöst wurden, denn zu schlafen in dieser allbeglückenden Sommerszeit war für uns keine leichte Aufgabe. Man bedenke, dass uns beiden Knaben nicht nur ein Esel, sondern auch ein Wagen mit schöngeschirrten Ziegenböcken zur Verfügung stand, – dass wir draußen auf den Stoppeln, wo die Leiterwagen mit vollen Garben beladen wurden, langsam fortrückend, auf den Pferden saßen und schließlich oben, in luftiger Höhe der Ladung, und auf ihrem bequemen Bett heimschwankten, – dass wir uns überall als Kinder des Herrenhauses wohlgelitten tummeln durften nach Herzenslust. Wir jagten uns auf den Weizenmassen der Scheunen, durch die endlosen Stallungen der Rinder und Pferde, zwischen der nach vielen Hunderten zählenden Bevölkerung der großen Schäferei herum. Wir wussten, dass unserem Kommando die ganze Jugend der Gesindehäuser jederzeit folgte, und wir genossen eine Verpflegung, die mich, verglich ich sie mit der sowohl sommerlichen als winterlichen des Elternhauses, märchenhaft anmuten musste: Sogleich nach dem Aufwachen Kaffee mit dicker Sahne, frische Milch, mit Klumpen von Butter und Honig belegtes Weizengebäck; mittags Braten, Gemüse, Kompotte in Mengen und frische Früchte, frische Salate mit saurer Sahne angemacht, Käse, Butter und selbstgebackenes Roggenbrot. Zu alledem wieder Milch, so viel man wollte. Butter, Honig, Sahne wiederum zum Nachmittagskaffee. Nun, ich darf mir den Abend ersparen, er schloss sich den übrigen Mahlzeiten würdig an.
Was war dagegen daheim selbst im Sommer die trockene Semmel und ein mühsam erkämpfter Morgenkaffee, mein mühsam erkämpftes, lieblos auf einem Teller zusammengekleckstes Mittagessen, zur Vesper mein Glas Wasser und etwas Himbeersaft, des Abends die dünnbestrichene Butterschnitte, eine Ernährungsweise, die ich, solange ich daheim war, als gottgewollt und selbstverständlich ohne alles Murren empfand.
Herrlich blüht noch heut die Erinnerung an eine solche Schlaraffenzeit, aus der ich gänzlich verändert, kerngesund und nicht ohne leises Bedauern nach Salzbrunn zurückkehrte. Zum ersten Mal empfand ich in dem ganzen Badebetrieb, inbegriffen mein Elternhaus, eine gewisse, mir eigentlich nicht entsprechende Künstlichkeit: noch konnte mir nicht zum Bewusstsein kommen, dass ich eigentlich immer von ihr fort mit unstillbarem Drang zur Natur strebte, wo sie unverbildet, ursprünglich und einfach ist.
Motive aller Art schoben sich durcheinander und ineinander, wurde gesagt. Wer dürfte versuchen, so innig Verwirrtes zu sondern!
Neben Feldzügen und Schlachten, die ich weitläufig in leeren Zimmern unter Benützung von Fußboden, Stühlen und Tischen mit meinen Zinnsoldaten durchführte, war ich immer noch Chingachgook, ritt das windschnelle Steppenroß und hatte außerdem Hamlet, den Dänen, in meinen Wachtraum aufgenommen. Der Bühneneindruck, durch den es geschah, steht in keinem Verhältnis zu seiner unauslöschlichen Dauer.
Ich lag krank an Mumps oder sonst einer Kinderkrankheit im Zimmer Numero Sieben am Ende des Flurs. Es war Winter, in einer Zeit, wo man um vier Uhr die Kerzen anzündet. Es brannte eine an meinem Bett. Da hatten Carl und Johanna den Gedanken gefasst, mir die Zeit zu vertreiben. Sie brachten ein kleines Kistchen herein, aus dem sie allerhand Dinge herausholten. Es waren kleine Kulissen aus Pappdeckel, die einen feierlich-gotischen Raum, das Innere eines Domes, vorzauberten. Was Prinz Hamlet mit diesem Dom zu tun hatte, wusste ich nicht. Er war eben da! In schöner Rüstung, mit gelbem Haar, ausgeschnitten aus Pappdeckel, unten mit einem Klötzchen versehen. Mir von Johanna und Carl als Prinz Hamlet vorgestellt und durch ihren Mund allerlei Worte hersagend, stand er jedoch nur kurze Zeit auf dem Holzklötzchen. Dann wurde er auf zwei Puppenstühlchen gelegt und lag dort, ich weiß nicht zu welchem Zweck, eine Weile ausgestreckt.
So blieb er mir in Erinnerung. Die Antwort auf die Frage weshalb wird nie erschöpfend zu geben sein. Eine Pappfigur, ein Theaterchen, das gewiss nicht mehr als acht Groschen kostete, und doch kam das Ganze der feierlichen Grundsteinlegung eines Baues gleich, der durch siebzig Jahre gewachsen ist. Das bedeutet der frühen Jugend Innengewalt, es bedeutet Voraussicht des Unbewussten, es bedeutet Wirksamwerden der Vorsehung, es bedeutet schöpferische Entwicklung.
Mag sein, bei dem einzigen Zuschauer, der ich war, haben einige Fiebergrade mitgespielt. Es hat die nächtliche, vielleicht auch stürmische Stunde der Äquinoktialtage mitgespielt. Das ganze Haus mit den langen Fluren übereinander, seinen kalten, leeren, gespensterbewohnten Zimmern – auch Hamlets Geist erlebte ich einen Augenblick – hat mitgespielt. Die weiten, leeren, eisigen Säle mit ihren Bildern, dem Leichnam, den man vom Kreuze nimmt, haben mitgespielt. Sie waren mit Nacht gleichsam vollgestopft und haben vielleicht im Sturme gezittert. Mit Finsternis vollgestopft waren die Küchen, die Vorräume, die Büfettstube. Die verlassenen Galerien des großen Saals waren mit Finsternis vollgestopft. Durch all das seufzte vielleicht der Wind. Er fauchte, er ächzte, er krächzte und rasselte. Gegen alles das, was einem schwarzen Universum vergleichbar mich einkerkerte, kämpfte der kleine Schein eines Lichts, das ein Achtgroschentheater mit einem gotischen Dom beleuchtete, der nicht mehr als zwei Pfennige gekostet haben kann.
Aber was wurde mir dieser Dom, diese unterirdische, in die Schwärze des Nichts versenkte Kathedrale! Ich muss an Westminster Abbey denken, wenn ich einen schwächeren Abglanz davon haben will. Sie war gehüllt in schwarzes Nichts als leuchtendes Mysterium. Wo hatte man freilich bei späterem Wiedersehen mit diesem düsteren Dichterwerk die gleiche Begleitmusik?
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Welch ein groteskes Nebeneinander beherbergt ein Knabenhirn! Neben dem Hamlet, der in einer Art von Heiligenschrein aufbewahrt wurde, rumorte in mir die Gestalt eines anthropoiden Affen. Ein andres Theater, das Kurtheater, war die Ursache. Manches hatte es mich inzwischen gelehrt, dieses Haus.
Wenn ich nun auf dem Heimgang von der Schule verstohlen, wie oft geschah, ins dunkle Parterre schlüpfte, hatte ich längst begriffen, dass hier, selbst am Schluss eines Trauerspiels, niemand getötet und auch der Tod nur gespielt wurde. Das gesprochene Wort wurde im Freien kaum gehört, meist war es daher Musik, die uns Kinder in die Sperrsitze lockte, mitunter aus überheller, glühender Sonnenwelt in den kühlen Dämmer einer von künstlichem Licht beschienenen künstlichen.
Ja, die Griechen, die sind klassisch,
doch so klassisch nicht wie wir!
war der Refrain, den eine Soubrette immer wieder, akkompagniert von der Kurkapelle, herausschmetterte, wobei sie sich fesch auf den Schenkel schlug.
Eines Abends hatte mich dann meine Mutter in eine Gastvorstellung mitgenommen. Der Gast war ein Akrobat, der, in braunen Filz eingenäht, einen Menschenaffen darstellte. Er hatte sich, oder man hatte ihn, in einer Pflanzerfamilie, vielleicht auf Borneo, heimisch gemacht. Es war ein missverstandenes Tier, glaube ich, das wegen unguter Eigenschaften, hauptsächlich wohl von dem Pflanzer, rau behandelt wurde. Aber da kam der den Orang-Utan glorifizierende Augenblick. Die einsame Farm geriet in Brand, die Flammen loderten um ein Schlafzimmer, in dem hoffnungslos verloren ein Säugling und, ich glaube, noch ein kleines Mädchen zurückgeblieben waren. Man hörte die Farmersleute vergeblich jammern. Da aber, im Augenblick der höchsten Gefahr, erschien mit leichtem Schwunge der Affe, der Retter, im Qualm der bengalischen Flammen auf der Fensterbank. Sorgfältig hob er den Säugling aus dem Bett und entfernte sich mit ihm durch das Fenster, kam wieder und entriss auch das Mädchen den Flammen. Ich glaube, er trug sie huckepack, als er sie wiederum durch das Fenster mit sich nahm, um sie den Eltern zu übergeben. Sogleich bewies auch ihr Freudengeschrei, dass es geschehen war.
Dieser Affe bewegte sich dann noch zwei- und vierhändig auf der Balustrade des ersten Ranges außerhalb der Bühne herum, ja machte auf einem hölzernen Zweirad, wie dem des Kapellmeisters, zuletzt unglaubliche Kunststücke.
Dies machte ich ihm in der Folge nicht nach, dafür aber war sein gesamtes äffisches Gebaren zwangsläufig auf mich übergegangen: die eigentümlichen Kehllaute des Tieres, die nach Innen gebogenen Fingerspitzen, die ein Gehen auf den Kniebeln1 ermöglichten, und schließlich seine eigentümliche Beweglichkeit. Der Erfolg meines Nachahmungstriebs lockte selbst meinem Vater, der damals noch kaum aus dem Rahmen seines steifen Ernstes trat, eine Art Beifall ab, der sich allerdings nur durch ein Herblicken und eine kaum merkliche Veränderung des beherrschten Gesichts ausdrückte.
Die im Stile der Birch-Pfeiffer gedachte theatralische Affengestalt übertrug sich also, ähnlich wie Chingachgook, von innerer in äußerliche Wirklichkeit, und zum ersten Mal war dabei Kunst als neuerworbenes Können im Spiele.
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Eine andere Kunst hatte sich damals ohne mein Zutun in mir ausgebildet. Mein dauerndes Leben in freier Natur, besonders vom frühen Frühjahr bis zum späten Herbst, Jahreszeiten, die ich vom ersten Leberblümchen, Himmelsschlüssel und Maiglöckchen bis zur letzten Aster auskostete, machte mich zum Schüler der Singvögel. Seltsamerweise gab es Nachtigallen in Salzbrunn nicht, aber sonst alle möglichen Arten. Um ein Rotkehlchen oder sonst einen Sänger nachzuahmen, bedurfte ich keines Instruments als einer Membrane von Birkenrinde. Langgezogene Laute, Geschmetter und endlose Triller brachte ich mit der Kehle hervor, so täuschend, dass eine Gruppe von Badegästen hin und wieder andächtig stehenblieb, wenn ich meine mich selbst beglückende Kunst im Dämmer des Abends, in einem Gebüsch versteckt, ausübte. Ich hatte damit, wo ich mich herauswagte, bei einfachen Leuten des Orts, auch bei Apotheker Linkes, nicht in der eigenen Familie, eine Art Berühmtheit erlangt und wurde nicht selten gebeten, mich hören zu lassen.
Sinn für die Welt der Vögel und Liebe zu ihr hatte ich allenthalben gewonnen. Mochten es die Scharen von Sperlingen sein, die damals weit zahlreicher als heut Höfe und Straßen mit ihrem lustig frechen Wesen bevölkerten, oder in der Schusterwerkstatt die sprechende Dohle und das Rotkehlchen oder die Stare, die frühjahrs pfeifend ihre alten Starkästen in Besitz nahmen, oder die sommerlichen Singvögel oder bei Fräulein von Randow im Kurländischen Hof der Papagei. Oder in den Glasschränken des Müllers von Wilhelmshöh ausgestopft alle erdenklichen, selten gesehenen heimischen Arten. Oder die Rebhuhnfamilie, die ebenso wie ein balzender Auerhahn, in großen Glaskästen untergebracht, den Eingangsraum unseres Gasthofs schmückte.
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Wer war dieser Müller von Wilhelmshöh? Ein älterer, schweigsamer Mann in grünem Rock, der Wilhelmshöh, einen Ausflugsort, von der Badeverwaltung gepachtet hatte. Wer den Müller von Wilhelmshöh erwähnte, meinte einen geheimnisumwobenen Mann, dem man mancherlei ungewöhnliche Dinge zutraute. Wilhelmshöh war umgeben von Wald. Nie anders als im grünen Rock, die kurze Pfeife im Munde, traf ihn, wer nachmittags dort seinen Kaffee trank. In dem romanisch-gotischen Bau des Vergnügungslokals war seine ornithologische Sammlung untergebracht, auch eine Eiersammlung war dabei, und man konnte modernste Jagdflinten in einem Glasschrank bewundern.
War er ein Freischütz, der Müller von Wilhelmshöh? Gerüchte um ihn, Gemunkel, Geflüster wollten nicht aufhören. Wo kam er her? Wahrscheinlich hatte er eine Farmer- und Pelzjägerschule in der Neuen Welt hinter sich. Auch auf uns Kinder wirkte er als ein Mensch, der in den kleinen Rahmen von Salzbrunn nicht hineinpasste.
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