Mein Vater war Jäger, hatte selbst eine Jagd gepachtet und wurde vielfach, so auch von der fürstlich-plessischen Jägerei, zu Jagden geladen. Seine Heldentaten, die ich ihn selbst nicht erzählen hörte, belebten immer aufs neue den Familienstolz. Eine Doublette in Hirschen, die er bei einet Verlappjagd in den Görbersdorfer Bergen, dem Revier Onkel Adolfs, im wahren Sinne des Wortes erzielt hatte, war der Höhepunkt. Dann kam ein erlegtes Hermelin, in der Nähe von Salzbrunn als Wunder empfunden. Mein Vater hatte geglaubt, ein Stück Papier zu sehen, das der Wind bald so, bald so hin und her bewegte. Eigentlich mehr aus Schießlust hielt er mit der Doppelflinte darauf, worauf der Papierfetzen seine Tänze einstellte. Was er aufnahm und als Trophäe heimbrachte, war, wie gesagt, ein Hermelin.
Zufällig eines Nachts war ich wach, als mein Vater sich für den Pirschgang zurechtmachte. Als er mit seinen Verrichtungen fertig war, zog es ihn in seiner vollen winterlichen Vermummung zum Abschied noch einmal an mein Bett, und er wollte mir zärtlich mit den Fingern durchs Haar fahren. Beim Dämmer des Nachtlichtchens aber geriet unversehens ein Finger mit heftigem Stoß in mein linkes Auge. Die Funken stoben aus meinen Wimpern.
Ich habe meinen Vater kaum je lieber gehabt als in diesem Augenblick. Noch größeren Schmerz hätte ich auf mich genommen, wenn ich den seinen und seinen Schreck damit hätte zu mildern vermocht. Er legte sogleich alle Jagdutensilien ab, und er und die Mutter machten mir nasse Umschläge. Erst als der Schmerz sich beruhigte und mein Auge sich als unbeschädigt erwiesen hatte, trat er, und zwar nur auf Zureden meiner Mutter, den Pirschgang doch noch an.
Ein ähnlicher Vorfall hat, wie ich fürchte, eine kleine Folge zurückgelassen. Eines Tages im Herbst erlaubte mein Vater mir, ihn zu begleiten, als er mit der Flinte ein wenig das Gelände absuchen wollte. Ich war erstaunt, wie er ohne Weg und Steg in jeder gewünschten Richtung über die Felder von Hinz und Kunz mit mir stapfen durfte. Ein Dutzend Schritte abseits von ihm, hörte ich ihn dann das Kommando »Duck dich!« rufen. Ich tat es, wobei ich das rechte Ohr nach oben wendete. An diesem ging sein Schuss, der leider den Hasen, auf den er zielte, fehlte, ich weiß nicht in welcher Entfernung vorbei.
Ob ich glaubte, getroffen zu sein? Das Ohr war jedenfalls taub geworden. Mein Vater muss keinen geringen Schreck gehabt haben, denn meine Benommenheit, die man auf alle mögliche Weise deuten konnte, dauerte eine lange Zeit. Selbst die schlimmste Vermutung war nicht ganz von der Hand zu weisen, nämlich dass mir ein Schrotkorn irgendwo eingedrungen sei.
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Ein Rätsel ist mir bis heut meines Vaters pädagogische Fähigkeit. Hätte er sie mir regelmäßig und dauernd zugewendet, die Anfangsgründe meiner Bildung wären solider ausgefallen. So lehrte er mich zum Beispiel durch eine kurze, einleuchtende Erörterung die Zeit von der Uhr ablesen, und so fort.
Eines Tages war ich verzweifelt, weil ich als der Kleinste eine Schlittenpartie zu Onkel Adolf nach Görbersdorf wieder einmal nicht mitmachen sollte. Ich ließ mich empört über diese Zurücksetzung und überhaupt meine Lage als Jüngster aus. »Gerhart«, sagte mein Vater, »sei ruhig, wir wollen uns schon amüsieren auf unsere Art!«
Worin bestand dieses Amüsement?
Wir saßen ein Stündchen in der Vier, und am Ende eines Geplauders, das mir Aufmerksamkeit und Spannung abnötigte, sagte ich Schillers Ballade »Der Taucher« von Anfang bis Ende her und habe sie bis heut im Kopfe behalten.
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Mein Vater schätzte Freimut als eine hohe menschliche Eigenschaft. Wenn das Eingeständnis einer Verfehlung aus Liebe zur Wahrheit geschah, konnte es die Schuld in seinen Augen aufheben. Von Beispielen solcher Handlungen brachte er immer dieses oder jenes vor, wenn er im gleichen Sinn auf uns einwirken wollte.
Groß war der Respekt, den mein Vater als Leiter des Gasthofs bei den Angestellten genoss, man darf sogar von der Furcht des Herrn reden, die überall von Kutscherstube zu Küche, von dort zu den Sälen und Zimmern vorhanden war. Hielt er seinen Nachmittagsschlaf, so trat eine Atempause ein. Aber alles war sogleich elektrisiert bei dem energischen Klingelzeichen aus seinem Zimmer, das sein Wiedererwachtsein ankündigte.
Seine Reserviertheit war den meisten Hotelgästen unheimlich. In der Tat besaß er nichts von der so vielen Gasthofbesitzern eigenen liebenswürdig-unterwürfigen Wesenheit, sondern trat selbst den Salzbrunn besuchenden hohen Persönlichkeiten nicht anders als gleich und gleich gegenüber.
Da mein Vater lange Zeit der einzige Sohn des Großvaters Hauptmann, eines vermögenden Mannes, gewesen ist, der mit Vorliebe alles an ihn wendete, ist er an eine gewisse Lebenshaltung gewöhnt worden. Niemals war er verschwenderisch, aber neben der Jagd, die er pachten durfte, billigte ihm der Vater ein Reitpferd zu und redete ihm ebensowenig drein, als er seine sportliche Liebhaberei mit Ein- und Zweispännern fortsetzte.
Alles dieses verbot sich eigentlich, als der Großvater nochmals heiratete und, im Alter schon über die Sechzig hinaus, den Segen eines Zuwachses von drei Töchtern und einem Sohn genoss. Es scheint jedoch, dass mein Vater sich von seinen noblen Passionen nicht sogleich trennen konnte. Er setzte sie sogar noch während meiner Kindheit fort und schob den ständigen Einspruch meiner sparsamen Mutter mit Achselzucken beiseite.
Unsere Pferde waren die schönsten im Ort. Der livrierte Kutscher und die modernen Wagen waren die Ursache, dass man den Vater hin und wieder bei Ausflügen mit »Herr Graf« oder wenigstens »Herr Baron« anredete. Die wunderliche Differenzierung meiner Wesenheit brachte es mit sich, dass mich, den leidenschaftlichen Straßenjungen, wenn wir in der Equipage1 saßen, ein Vornehmheitsdünkel überkam und ich den lauten Gesang der Geschwister, womit sie sich die Zeit vertrieben, mit Qualen verletzter Eitelkeit als unseren vornehmen Aufzug widerlegend und entlarvend empfand.
Wie ich richtig geahnt hatte, liebte Großvater Straehler meinen Vater nicht, und dieser, zurückhaltend von Natur, brauchte sich keine Mühe zu geben, gegenüber dem Schwiegervater den gleichen Mangel zu beschönigen. Und doch hatte mein Vater ein warmes Herz, was sich nicht nur uns Kindern gegenüber hie und da offenbarte, sondern vielfach an seinen Halbgeschwistern und neuerlich noch an Freunden erwies.
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Seinen Freund Beninde, den er mit einem gewissen Enthusiasmus liebte, hatte er sich als Kurhausdirektor herangeholt, als er dieses Hotel durch Vermittlung des Schwiegervaters vom Fürsten gepachtet hatte. Von diesem Onkel Beninde, wie wir Kinder ihn nannten, mag hier kurz die Rede sein.
Es war tiefer Winter, als ich kleiner Junge unvermittelt Beninde in einem Zimmer des Kurhauses gegenüberstand. Das Hotel war geschlossen und bis auf die Zimmer Benindes unbewohnt. Wer diese aufräumte und seine Verpflegung in der Hand hatte, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass ich einen schönen und vornehmen Mann wie ihn und Wohnräume wie die seinen nicht gekannt hatte. Vor allem aber setzte mich seine Beschäftigung in Verwunderung, da sie mir mit einem solchen Kavalier unvereinbar schien. Er stichelte nämlich an einer Stickerei, die mit schönen Farben und Bildern, soweit sie vollendet war, seine Knie bedeckend zur Erde fiel.
Die warmen Räume aber und zunächst der, in dem er saß, wurden von mir sofort in ihrer wohligen Eigenart und als Neuheit gefühlt. Der eigensinnig-feine Geschmack eines künstlerisch begabten und verwöhnten Junggesellen hatte sie eingerichtet. Den Boden bedeckten Teppiche, ausgesuchte orientalische Stücke, wie ich später erfuhr. Das Meublement vor den mit weinroten Brokaten verkleideten Wänden, Spiegel, Vitrinen, Tisch und Fauteuils, hatte ein Sammler und Kenner zusammengestimmt. Ich spürte genau, dass bei dem allem eine mir neue Fähigkeit im Spiele war und der Ausdruck besonderer Ansprüche.
Da er Carls und meine Gesellschaft in seiner von ihm bevorzugten, fast völligen Zurückgezogenheit gelegentlich nicht als störend zu empfinden schien und sich manchmal mit uns befasste, verdanken wir ihm allerlei Spielwerk, das, weil er es selbst ersann und auch herstellte, mit dem sonst üblichen nicht vergleichbar war. So schnitzte er uns einen Fitschepfeil, den wir mittels einer Art Peitsche in unendliche Höhe schießen konnten. Er fertigte kunstgerechte Wurfspieße, die einem Polynesier Ehre gemacht hätten. Und immer wieder von Zeit zu Zeit beschenkte uns unter dem Wohlklang seiner weichen, gutturalen Stimme des schönen Einsiedlers kunstreiche Hand.
Onkel Beninde schwand, wie er auftauchte. Der immerhin wohl kleine Sommerhotelbetrieb bedeutete für einen Mann seines Schlages keinen genügenden Wirkungskreis. Er wurde später bei dem großen Borsig Privatsekretär und ist es bis an sein Ende gewesen.
Die Vorstellung Benindes ist für mich mit den nackten, wintersturmbewegten Bäumen auf den Promenaden verknüpft, auf die man durch seine Fenster blickte. Seine Zimmer waren gleichsam der stille Sieg über Öde und Schnee. So ist mir dies Nest intimen Daseins, intimer Kunst eine Erinnerung.
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Eines Tages wurde ein zweiter Onkel Gustav, der Halbbruder meines Vaters, unser Hausgenosse. Die Namen Gustav und Adolf, die wohl auf Gustav Adolf, König von Schweden, zurückgehen, waren damals unter den Protestanten besonders beliebt. Der neue Onkel – er zählte wohl schon über dreißig Jahr – wurde von seinem Bruder, meinem Vater, wie ein Angestellter behandelt, also mehr sachlich als brüderlich. Unser, der Kinder, Herzen flogen ihm zu.
Es hatte sich die Ansicht verbreitet, dass er ein schwacher Charakter sei. Seine Einstellung in den Hotelbetrieb war wiederum ein Versuch, ihn zu einem brauchbaren Menschen zu machen. Er war dicklich und trug sich gern in karierten Wollstoffen. Sein Auge, glaub’ ich, war etwas fad. Rötliche Brauen und rötliches Haar machten ihn Onkel Gustav Schubert ähnlich, trotzdem eine Blutsverwandtschaft nicht bestand.
Unser Gustav war ein Stotterer. Seine Schwäche, die wir Kinder ihm mit Liebe vergalten, war unüberwindliche Gutmütigkeit. So konnte er seinerseits als Vizewirt und Personalchef sich nur schwer in Respekt setzen. Uns Kindern etwas abzuschlagen, was wir sehnlich begehrten, vermochte er nicht. Fünf Silbergroschen, zehn Silbergroschen, die er von ihm erhalten hatte, zeigte mir Carl aller Augenblicke.
Unser Vater war ihm weit mehr als irgendjemandem im Hotel Achtungsperson. Man kann wohl sagen, er fürchtete ihn und ging, wo er konnte, ihm aus dem Weg.
Er führte die Bücher, hatte die Lohnauszahlung und den Keller unter sich, ging gelegentlich mit dem Vater auf Jagd oder fuhr mit ihm, wohl auch allein, nach der Kreisstadt Waldenburg, um einzukaufen oder Lieferungsabkommen für den Gasthof zu treffen.
Dass er gern in den kleinen Bierstuben allzu seßhaft war, trug ihm Rüffel und manchmal die heftigsten Vorwürfe meines Vaters ein, der gelegentlich drohte, ihn vor die Tür zu setzen, wie es hieß, und sich nicht mehr um ihn zu kümmern.
Mein Vater liebte seinen Halbbruder und hatte sich löblicherweise in den Kopf gesetzt, ihn aus der Gefahrenzone des Verlodderns herauszureißen.
Eines Tages drückte mir Onkel Gustav, der mich Framper nannte, ein Fünfgroschenstück in die Hand, eine Summe, wie ich sie nie besessen hatte. Ich war völlig berauscht, als ich sie plötzlich in der Hand fühlte. Ich ließ sie mir fünf Minuten später im kleinen Kramladen der Witwe Müller, mit deren Sohn ich oft stundenlang Tüten klebte, in Kupferdreier umwechseln. Was zwanzig Stück dieser Geldsorte ausmachten! Nun erst war ich befriedigt mit meinem, wie ich glaubte, unerschöpflichen Reichtum in der Faust.
Eine Stunde später hatte ich Zeit und Veranlassung, über die Vergänglichkeit eines so ungeheuerlichen Schatzes nachzudenken. Ich hatte vor meinen Myrmidonen und Spielkameraden damit herumgeprahlt und mir schließlich Dreier für Dreier abbetteln lassen.
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Doktor Straehler, ein Vetter meiner Mutter, dessen Vater also der Bruder meines Großvaters Straehler war, bewohnte im Grünen, nicht fern von uns, ein selbstgebautes hübsches Haus, das er seltsamerweise Zum Kometen genannt hatte. Ein Bauer, der ihn als Arzt konsultieren wollte, hatte mit den Worten nach ihm gefragt: »Wu gieht’s denn hie zum Dukter Strehlinger eis Komitee?«, was immer wieder erzählt und belacht wurde.
Ich könnte nicht sagen, wie es mit seinem ärztlichen Wissen beschaffen gewesen ist, aber er war ein schöner und eleganter Mann, der schönste vielleicht unter den Badeärzten.
In seinem Hause herrschte, von meiner Tante Straehler ausgehend, eine beinah schemenhafte, kühle Gütigkeit. Die Natur meines Onkels war voll guter Laune und Lebenslust. Beides in seinen vier Wänden auszutoben, hatte er keine Gelegenheit, nicht weil es ihm seine Gattin verbot, sondern weil er es um ihretwillen sich selbst versagte. Anders war dies in unserm Kreise, wo Vater und Mutter seinen Humoren alles Verständnis entgegenbrachten und sich von ihnen belebt fühlten.
Diesem Onkel, der wie mein Großvater mit dem Vornamen Hermann hieß, konnte man anmerken, dass er sich wohlfühlte. Man verzieh dem eleganten und schönen Mann, wenn er selbst in Gesellschaft von vornehmen Damen gelegentlich Schwarz schwarz, Weiß weiß und gewisse physiologische Funktionen mit lutherisch-deutschen Kernworten nannte. Mit einem liebenswürdigen Lachen der Unschuld wurden desfalls erteilte Rügen von ihm überhört.
Das Hauswesen dieses Onkels ruhte auf einem Grunde gesicherten Wohlstandes, den er der Gattin zu verdanken hatte.
Die Kinder des Doktor Straehlerschen Ehepaares – damals sind nur Arthur und Gertrud in mein Bewusstsein getreten – wurden nach ganz anderen Grundsätzen aufgezogen als wir kleinen Hauptleute: hier Abhärtung, dort Verzärtelung. Es war nicht zu denken, dass Arthur im Winter etwa mit mir stundenlang oder überhaupt den Pappelberg hätte hinunterrodeln dürfen. Solche allfällig gefährlichen Unternehmungen, und noch dazu unter lärmenden und krakeelenden Gassenjungen, konnten für ihn nicht in Betracht kommen.
Es kamen bei diesem Wintervergnügen gelegentlich wirklich Unfälle vor. Ein Knabe, der bei vereister Bahn, den Kopf voran, auf dem Schlitten lag, fuhr gegen einen Pappelstamm und wurde bewusstlos fortgetragen.
Vielleicht war Gertrud wirklich ein zu schönes und zartes Kind, um robusten Vergnügungen dieser Art geneigt und gewachsen zu sein, und bedurfte eben der Pflege, wie sie ihr von den Eltern zuteil wurde. Bei Arthur schien es uns und meinem Vater und meiner Mutter, man ginge in ängstlicher Sorgfalt zu weit.
Wir Kinder besuchten einander gelegentlich, nicht aber so, dass wir im Kometen und sie im Gasthof zur Krone ungemeldet aus und ein gingen. Die Vorbesprechungen zwischen den Eltern dauerten tagelang. Man musste nicht nur im Kometen auf unser Erscheinen vorbereitet sein, sondern Arthur und Gertrud kosteten noch weit größere Umstände, wenn sie zu uns herübergebracht werden sollten. Was sie tun und nicht tun durften, wurde angesagt, was sie essen und vermeiden, welche Wärme die Zimmer brauchten und so fort.
Pünktlich wurden sie dann vom Hausdiener des Kometen, vermummt bis über die Augen, mit Fußsäcken ausgestattet und im reichverzierten Stuhlschlitten, angebracht. Und doch war der Weg vom Kometen bis zu uns in zwei Minuten zurückzulegen.
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Im späten Herbst und zeitigen Frühjahr, wenn keine Gäste mehr oder noch keine da waren, fand gelegentlich ein größerer Kreis von Verwandten den Weg zu uns und genoss die freie und herzliche Gastlichkeit meines Vaters.
Ich kann mich erinnern, wie bei einer solchen Gelegenheit ein entfernter Onkel und älterer Mann wie ein Hanswurst mit den Worten »Der Matschker kommt!« ins Zimmer sprang und mich kleinen Jungen, ohne davon eine Ahnung zu haben, für ihn gleichsam erröten machte. Mein Gefühl für Würde, am Beispiel meines Vaters gereift, konnte ein solches Betragen nur mit innerlichem Entsetzen hinnehmen.
Der Jüngste unter den Söhnen des Brunneninspektors war Onkel Karl, in Kaufungen Gutsinspektor. Er und sein Bruder, Onkel Paul, waren die Humoristen der Familie, aber Gott sei Dank nicht im Sinne von »Der Matschker kommt!«
Ein solcher improvisierter Familientag, um Ostern, konnte köstlich sein. Tante Julie sang im Blauen Saal, vom Organisten des Orts begleitet. Nach dem Garten standen die Glastüren offen, und mit der erwärmten sonnigen Luft drang das Pfeifen und Schnabelklappern der Stare herein. Das bucklige Täntchen Auguste war da, Onkel Paul aus Breslau, der seine Braut, die Tochter eines Juweliers, die dazu noch Gold in der Kehle hatte, mitbrachte. Zwischen ihren Koloraturen und dem herrlichen Alt der Oberamtmännin Schubert gab es einen Sängerstreit. Mein Bruder Georg und sein Freund Waldemar Goldstein waren da, die den losgebundenen Feriengeist von Sekundanern mitbrachten. Selbst meine Mutter war aufgeräumt. Kalte Küche wurde herumgereicht. Eigenhändig entkorkte mein Vater Weinflaschen. Indem sich mir ein bestimmter Ostermorgen wieder enthüllt, erinnere ich mich allerdings auch einer beinahe unappetitlichen Zärtlichkeit Onkel Pauls gegenüber seiner Braut, die später mit Recht allseitig gerügt wurde.
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Ward im Herbst von meinem Vater und Onkel Gustav Wein abgezogen, so musste ich wohl behilflich sein. Es war nicht ganz leicht, volle Flaschen auf dem unebenen Steinboden des Kellers aufzustellen, die ich dem vor dem Fasse sitzenden Onkel abzunehmen hatte. Mein Vater ging dabei ab und zu und mahnte mich zu Sorgfalt und Ruhe. Obgleich ich nicht ohne Geschick und mit wahrem Vergnügen bei der Sache war, passierte es einmal, dass ich oder besser eine der Flaschen das Gleichgewicht nicht mehr halten konnte und eine ganze Reihe anderer Flaschen mit sich riss. Ich wurde ausgescholten und, was die größte Strafe war, als noch zu dumm und zu klein für ein solches Geschäft fortgeschickt.
Unterm Saal wurden Flaschen gewaschen. Die Reinigung geschah durch Wasser und Schrot. In Löchern auf langen Brettern wurden dann die Flaschen, Mündung nach unten, hingestellt.
Irgendwie hatte das Weinabfüllen auch für uns Kinder etwas Festliches, und mitunter ging es, wie durch Zufall, auch für die Erwachsenen in etwas dergleichen, nämlich eine Weinprobe, aus. Einmal hatten sich dazu ein Dutzend Menschen im Keller und um die Kellertür zusammengefunden. Man trank, wo man gerade ging und stand, im dämmrigen Vorflur oder im Raume hinter der Eingangstür, wo frühjahrs der Mann mit den Muscheln erschien und wo das rasende Hündchen sein Ende gefunden hatte. Ein Postsekretär, ein altes Fräulein, der Polizeiverwalter des Ortes, ein hinkender Prokurist aus dem Industriebezirk, Doktor Straehler, meine Mutter und Schwester und dieser und jener aus den gebildeten Kreisen Ober-Salzbrunns waren darunter. Es scheint, dass mein Vater mit viel eigenem Vergnügen eine solche Gelegenheit beim Schopfe nahm.
Damals trugen die Postsekretäre noch Uniform und den Degen an der Seite. Der unsre galt als Original und mag vielleicht ein den Jugendfreunden Goethes, Merck oder Behrisch, verwandter Typus gewesen sein. Ich vergesse nicht, wie er, als endlich seine Amtsstunde schlug, den Rembrandthut des alten Fräuleins und Blaustrumpfs auf dem Kopf, mit gezogenem Degen hinaus, über den Platz, in die leere Elisenhalle und seinem Büro entgegen stiefelte.
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Gemeinsame Schlittenpartien waren ein schönes Vergnügen der guten alten Zeit. Ich habe sie noch mit Augen gesehen und mitgemacht. Herrlich, wenn einige Dutzend Schlitten, die Pferde mit nickenden bunten Federbüschen, mit tosendem Schellengeläute hintereinander herfuhren. Man landete über der böhmischen Grenze irgendwo, wo man mit Kaffee, Kuchen und Tokaier1 das Tanzvergnügen eröffnete. So hielt es das alte übermütige Schlesien, das nicht mehr vorhanden ist.
Zwischen Weihnachten und Neujahr lud mein Vater befreundete Jugend Salzbrunns zu einer Veranstaltung, die er selbst erfunden hatte. Chinesische Lampions beleuchteten in kalter Mondnacht von oben bis unten und zu beiden Seiten den Kronenberg. Dreißig bis vierzig Handschlitten waren zusammengeborgt worden und wurden an ebenso viele Paare junger Herren und Damen verteilt. Auf der Steinterrasse vor dem Großen Saal, an der die Schlitten, jeder mit einem vergnügten Paar, vorbeirutschten, wurden heiße Getränke, Grog, Glühwein, Tee und Kaffee, bereitgehalten und an die immer lustiger werdenden Rodler gereicht. Ein Teil der Vorbereitungen zu solch einem Fest, nämlich das Zusammenholen der Handschlitten, wurde uns Kindern überlassen. Auch das bereicherte vielfach meinen Vorstellungskreis.
1 süßer, aus Ungarn stammender Dessertwein von hellbrauner Farbe <<<