Loe raamatut: «Das Abenteuer meiner Jugend», lehekülg 8

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Fünfzehntes Kapitel

Mein Va­ter war Jä­ger, hat­te selbst eine Jagd ge­pach­tet und wur­de viel­fach, so auch von der fürst­lich-ples­si­schen Jä­ge­rei, zu Jag­den ge­la­den. Sei­ne Hel­den­ta­ten, die ich ihn selbst nicht er­zäh­len hör­te, be­leb­ten im­mer aufs neue den Fa­mi­li­en­stolz. Eine Doublet­te in Hir­schen, die er bei ei­net Ver­lappjagd in den Gör­bers­dor­fer Ber­gen, dem Re­vier On­kel Adolfs, im wah­ren Sin­ne des Wor­tes er­zielt hat­te, war der Hö­he­punkt. Dann kam ein er­leg­tes Her­me­lin, in der Nähe von Salz­brunn als Wun­der emp­fun­den. Mein Va­ter hat­te ge­glaubt, ein Stück Pa­pier zu se­hen, das der Wind bald so, bald so hin und her be­weg­te. Ei­gent­lich mehr aus Schieß­lust hielt er mit der Dop­pel­flin­te dar­auf, wor­auf der Pa­pier­fet­zen sei­ne Tän­ze ein­stell­te. Was er auf­nahm und als Tro­phäe heim­brach­te, war, wie ge­sagt, ein Her­me­lin.

Zu­fäl­lig ei­nes Nachts war ich wach, als mein Va­ter sich für den Pirsch­gang zu­recht­mach­te. Als er mit sei­nen Ver­rich­tun­gen fer­tig war, zog es ihn in sei­ner vol­len win­ter­li­chen Ver­mum­mung zum Ab­schied noch ein­mal an mein Bett, und er woll­te mir zärt­lich mit den Fin­gern durchs Haar fah­ren. Beim Däm­mer des Nacht­licht­chens aber ge­riet un­ver­se­hens ein Fin­ger mit hef­ti­gem Stoß in mein lin­kes Auge. Die Fun­ken sto­ben aus mei­nen Wim­pern.

Ich habe mei­nen Va­ter kaum je lie­ber ge­habt als in die­sem Au­gen­blick. Noch grö­ße­ren Schmerz hät­te ich auf mich ge­nom­men, wenn ich den sei­nen und sei­nen Schreck da­mit hät­te zu mil­dern ver­mocht. Er leg­te so­gleich alle Jag­du­ten­si­li­en ab, und er und die Mut­ter mach­ten mir nas­se Um­schlä­ge. Erst als der Schmerz sich be­ru­hig­te und mein Auge sich als un­be­schä­digt er­wie­sen hat­te, trat er, und zwar nur auf Zu­re­den mei­ner Mut­ter, den Pirsch­gang doch noch an.

Ein ähn­li­cher Vor­fall hat, wie ich fürch­te, eine klei­ne Fol­ge zu­rück­ge­las­sen. Ei­nes Ta­ges im Herbst er­laub­te mein Va­ter mir, ihn zu be­glei­ten, als er mit der Flin­te ein we­nig das Ge­län­de ab­su­chen woll­te. Ich war er­staunt, wie er ohne Weg und Steg in je­der ge­wünsch­ten Rich­tung über die Fel­der von Hinz und Kunz mit mir stap­fen durf­te. Ein Dut­zend Schrit­te ab­seits von ihm, hör­te ich ihn dann das Kom­man­do »Duck dich!« ru­fen. Ich tat es, wo­bei ich das rech­te Ohr nach oben wen­de­te. An die­sem ging sein Schuss, der lei­der den Ha­sen, auf den er ziel­te, fehl­te, ich weiß nicht in wel­cher Ent­fer­nung vor­bei.

Ob ich glaub­te, ge­trof­fen zu sein? Das Ohr war je­den­falls taub ge­wor­den. Mein Va­ter muss kei­nen ge­rin­gen Schreck ge­habt ha­ben, denn mei­ne Be­nom­men­heit, die man auf alle mög­li­che Wei­se deu­ten konn­te, dau­er­te eine lan­ge Zeit. Selbst die schlimms­te Ver­mu­tung war nicht ganz von der Hand zu wei­sen, näm­lich dass mir ein Schrot­korn ir­gend­wo ein­ge­drun­gen sei.

*

Ein Rät­sel ist mir bis heut mei­nes Va­ters päd­ago­gi­sche Fä­hig­keit. Hät­te er sie mir re­gel­mä­ßig und dau­ernd zu­ge­wen­det, die An­fangs­grün­de mei­ner Bil­dung wä­ren so­li­der aus­ge­fal­len. So lehr­te er mich zum Bei­spiel durch eine kur­ze, ein­leuch­ten­de Er­ör­te­rung die Zeit von der Uhr ab­le­sen, und so fort.

Ei­nes Ta­ges war ich ver­zwei­felt, weil ich als der Kleins­te eine Schlit­ten­par­tie zu On­kel Adolf nach Gör­bers­dorf wie­der ein­mal nicht mit­ma­chen soll­te. Ich ließ mich em­pört über die­se Zu­rück­set­zung und über­haupt mei­ne Lage als Jüngs­ter aus. »Ger­hart«, sag­te mein Va­ter, »sei ru­hig, wir wol­len uns schon amü­sie­ren auf un­se­re Art!«

Wo­rin be­stand die­ses Amü­se­ment?

Wir sa­ßen ein Stünd­chen in der Vier, und am Ende ei­nes Ge­plau­ders, das mir Auf­merk­sam­keit und Span­nung ab­nö­tig­te, sag­te ich Schil­lers Bal­la­de »Der Tau­cher« von An­fang bis Ende her und habe sie bis heut im Kop­fe be­hal­ten.

*

Mein Va­ter schätz­te Frei­mut als eine hohe mensch­li­che Ei­gen­schaft. Wenn das Ein­ge­ständ­nis ei­ner Ver­feh­lung aus Lie­be zur Wahr­heit ge­sch­ah, konn­te es die Schuld in sei­nen Au­gen auf­he­ben. Von Bei­spie­len sol­cher Hand­lun­gen brach­te er im­mer die­ses oder je­nes vor, wenn er im glei­chen Sinn auf uns ein­wir­ken woll­te.

Groß war der Re­spekt, den mein Va­ter als Lei­ter des Gast­hofs bei den An­ge­stell­ten ge­noss, man darf so­gar von der Furcht des Herrn re­den, die über­all von Kut­scher­stu­be zu Kü­che, von dort zu den Sä­len und Zim­mern vor­han­den war. Hielt er sei­nen Nach­mit­tags­schlaf, so trat eine Atem­pau­se ein. Aber al­les war so­gleich elek­tri­siert bei dem ener­gi­schen Klin­gel­zei­chen aus sei­nem Zim­mer, das sein Wie­de­rer­wacht­sein an­kün­dig­te.

Sei­ne Re­ser­viert­heit war den meis­ten Ho­tel­gäs­ten un­heim­lich. In der Tat be­saß er nichts von der so vie­len Gast­hof­be­sit­zern ei­ge­nen lie­bens­wür­dig-un­ter­wür­fi­gen We­sen­heit, son­dern trat selbst den Salz­brunn be­su­chen­den ho­hen Per­sön­lich­kei­ten nicht an­ders als gleich und gleich ge­gen­über.

Da mein Va­ter lan­ge Zeit der ein­zi­ge Sohn des Groß­va­ters Haupt­mann, ei­nes ver­mö­gen­den Man­nes, ge­we­sen ist, der mit Vor­lie­be al­les an ihn wen­de­te, ist er an eine ge­wis­se Le­bens­hal­tung ge­wöhnt wor­den. Nie­mals war er ver­schwen­de­risch, aber ne­ben der Jagd, die er pach­ten durf­te, bil­lig­te ihm der Va­ter ein Reit­pferd zu und re­de­te ihm eben­so­we­nig drein, als er sei­ne sport­li­che Lieb­ha­be­rei mit Ein- und Zwei­spän­nern fort­setz­te.

Al­les die­ses ver­bot sich ei­gent­lich, als der Groß­va­ter noch­mals hei­ra­te­te und, im Al­ter schon über die Sech­zig hin­aus, den Se­gen ei­nes Zu­wach­ses von drei Töch­tern und ei­nem Sohn ge­noss. Es scheint je­doch, dass mein Va­ter sich von sei­nen no­blen Pas­sio­nen nicht so­gleich tren­nen konn­te. Er setz­te sie so­gar noch wäh­rend mei­ner Kind­heit fort und schob den stän­di­gen Ein­spruch mei­ner spar­sa­men Mut­ter mit Ach­sel­zu­cken bei­sei­te.

Un­se­re Pfer­de wa­ren die schöns­ten im Ort. Der li­vrier­te Kut­scher und die mo­der­nen Wa­gen wa­ren die Ur­sa­che, dass man den Va­ter hin und wie­der bei Aus­flü­gen mit »Herr Graf« oder we­nigs­tens »Herr Baron« an­re­de­te. Die wun­der­li­che Dif­fe­ren­zie­rung mei­ner We­sen­heit brach­te es mit sich, dass mich, den lei­den­schaft­li­chen Stra­ßen­jun­gen, wenn wir in der Equi­pa­ge1 sa­ßen, ein Vor­nehm­heits­dün­kel über­kam und ich den lau­ten Ge­sang der Ge­schwis­ter, wo­mit sie sich die Zeit ver­trie­ben, mit Qua­len ver­letz­ter Ei­tel­keit als un­se­ren vor­neh­men Auf­zug wi­der­le­gend und ent­lar­vend emp­fand.

Wie ich rich­tig ge­ahnt hat­te, lieb­te Groß­va­ter Straeh­ler mei­nen Va­ter nicht, und die­ser, zu­rück­hal­tend von Na­tur, brauch­te sich kei­ne Mühe zu ge­ben, ge­gen­über dem Schwie­ger­va­ter den glei­chen Man­gel zu be­schö­ni­gen. Und doch hat­te mein Va­ter ein war­mes Herz, was sich nicht nur uns Kin­dern ge­gen­über hie und da of­fen­bar­te, son­dern viel­fach an sei­nen Halb­ge­schwis­tern und neu­er­lich noch an Freun­den er­wies.

*

Sei­nen Freund Ben­in­de, den er mit ei­nem ge­wis­sen En­thu­si­as­mus lieb­te, hat­te er sich als Kur­haus­di­rek­tor her­an­ge­holt, als er die­ses Ho­tel durch Ver­mitt­lung des Schwie­ger­va­ters vom Fürs­ten ge­pach­tet hat­te. Von die­sem On­kel Ben­in­de, wie wir Kin­der ihn nann­ten, mag hier kurz die Rede sein.

Es war tiefer Win­ter, als ich klei­ner Jun­ge un­ver­mit­telt Ben­in­de in ei­nem Zim­mer des Kur­hau­ses ge­gen­über­stand. Das Ho­tel war ge­schlos­sen und bis auf die Zim­mer Ben­in­des un­be­wohnt. Wer die­se auf­räum­te und sei­ne Ver­pfle­gung in der Hand hat­te, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass ich einen schö­nen und vor­neh­men Mann wie ihn und Wohn­räu­me wie die sei­nen nicht ge­kannt hat­te. Vor al­lem aber setz­te mich sei­ne Be­schäf­ti­gung in Ver­wun­de­rung, da sie mir mit ei­nem sol­chen Ka­va­lier un­ver­ein­bar schi­en. Er sti­chel­te näm­lich an ei­ner Sti­cke­rei, die mit schö­nen Far­ben und Bil­dern, so­weit sie vollen­det war, sei­ne Knie be­de­ckend zur Erde fiel.

Die war­men Räu­me aber und zu­nächst der, in dem er saß, wur­den von mir so­fort in ih­rer woh­li­gen Ei­gen­art und als Neu­heit ge­fühlt. Der ei­gen­sin­nig-fei­ne Ge­schmack ei­nes künst­le­risch be­gab­ten und ver­wöhn­ten Jung­ge­sel­len hat­te sie ein­ge­rich­tet. Den Bo­den be­deck­ten Tep­pi­che, aus­ge­such­te ori­en­ta­li­sche Stücke, wie ich spä­ter er­fuhr. Das Meuble­ment vor den mit wein­ro­ten Bro­ka­ten ver­klei­de­ten Wän­den, Spie­gel, Vi­tri­nen, Tisch und Fau­teuils, hat­te ein Samm­ler und Ken­ner zu­sam­men­ge­stimmt. Ich spür­te ge­nau, dass bei dem al­lem eine mir neue Fä­hig­keit im Spie­le war und der Aus­druck be­son­de­rer An­sprü­che.

Da er Carls und mei­ne Ge­sell­schaft in sei­ner von ihm be­vor­zug­ten, fast völ­li­gen Zu­rück­ge­zo­gen­heit ge­le­gent­lich nicht als stö­rend zu emp­fin­den schi­en und sich manch­mal mit uns be­fass­te, ver­dan­ken wir ihm al­ler­lei Spiel­werk, das, weil er es selbst er­sann und auch her­stell­te, mit dem sonst üb­li­chen nicht ver­gleich­bar war. So schnitz­te er uns einen Fit­sche­pfeil, den wir mit­tels ei­ner Art Peit­sche in un­end­li­che Höhe schie­ßen konn­ten. Er fer­tig­te kunst­ge­rech­te Wurf­spie­ße, die ei­nem Po­ly­ne­si­er Ehre ge­macht hät­ten. Und im­mer wie­der von Zeit zu Zeit be­schenk­te uns un­ter dem Wohl­klang sei­ner wei­chen, gut­tu­ra­len Stim­me des schö­nen Ein­sied­lers kunst­rei­che Hand.

On­kel Ben­in­de schwand, wie er auf­tauch­te. Der im­mer­hin wohl klei­ne Som­mer­ho­tel­be­trieb be­deu­te­te für einen Mann sei­nes Schla­ges kei­nen ge­nü­gen­den Wir­kungs­kreis. Er wur­de spä­ter bei dem großen Bor­sig Pri­vat­se­kre­tär und ist es bis an sein Ende ge­we­sen.

Die Vor­stel­lung Ben­in­des ist für mich mit den nack­ten, win­ter­sturm­be­weg­ten Bäu­men auf den Pro­me­na­den ver­knüpft, auf die man durch sei­ne Fens­ter blick­te. Sei­ne Zim­mer wa­ren gleich­sam der stil­le Sieg über Öde und Schnee. So ist mir dies Nest in­ti­men Da­seins, in­ti­mer Kunst eine Erin­ne­rung.

*

Ei­nes Ta­ges wur­de ein zwei­ter On­kel Gu­stav, der Halb­bru­der mei­nes Va­ters, un­ser Haus­ge­nos­se. Die Na­men Gu­stav und Adolf, die wohl auf Gu­stav Adolf, Kö­nig von Schwe­den, zu­rück­ge­hen, wa­ren da­mals un­ter den Pro­tes­tan­ten be­son­ders be­liebt. Der neue On­kel – er zähl­te wohl schon über drei­ßig Jahr – wur­de von sei­nem Bru­der, mei­nem Va­ter, wie ein An­ge­stell­ter be­han­delt, also mehr sach­lich als brü­der­lich. Un­ser, der Kin­der, Her­zen flo­gen ihm zu.

Es hat­te sich die An­sicht ver­brei­tet, dass er ein schwa­cher Cha­rak­ter sei. Sei­ne Ein­stel­lung in den Ho­tel­be­trieb war wie­der­um ein Ver­such, ihn zu ei­nem brauch­ba­ren Men­schen zu ma­chen. Er war dick­lich und trug sich gern in ka­rier­ten Woll­stof­fen. Sein Auge, glaub’ ich, war et­was fad. Röt­li­che Brau­en und röt­li­ches Haar mach­ten ihn On­kel Gu­stav Schu­bert ähn­lich, trotz­dem eine Bluts­ver­wandt­schaft nicht be­stand.

Un­ser Gu­stav war ein Stot­te­rer. Sei­ne Schwä­che, die wir Kin­der ihm mit Lie­be ver­gal­ten, war un­über­wind­li­che Gut­mü­tig­keit. So konn­te er sei­ner­seits als Vi­ze­wirt und Per­so­nal­chef sich nur schwer in Re­spekt set­zen. Uns Kin­dern et­was ab­zu­schla­gen, was wir sehn­lich be­gehr­ten, ver­moch­te er nicht. Fünf Sil­ber­gro­schen, zehn Sil­ber­gro­schen, die er von ihm er­hal­ten hat­te, zeig­te mir Carl al­ler Au­gen­bli­cke.

Un­ser Va­ter war ihm weit mehr als ir­gend­je­man­dem im Ho­tel Ach­tungs­per­son. Man kann wohl sa­gen, er fürch­te­te ihn und ging, wo er konn­te, ihm aus dem Weg.

Er führ­te die Bü­cher, hat­te die Lohn­aus­zah­lung und den Kel­ler un­ter sich, ging ge­le­gent­lich mit dem Va­ter auf Jagd oder fuhr mit ihm, wohl auch al­lein, nach der Kreis­stadt Wal­den­burg, um ein­zu­kau­fen oder Lie­fe­rungs­ab­kom­men für den Gast­hof zu tref­fen.

Dass er gern in den klei­nen Bier­stu­ben all­zu seß­haft war, trug ihm Rüf­fel und manch­mal die hef­tigs­ten Vor­wür­fe mei­nes Va­ters ein, der ge­le­gent­lich droh­te, ihn vor die Tür zu set­zen, wie es hieß, und sich nicht mehr um ihn zu küm­mern.

Mein Va­ter lieb­te sei­nen Halb­bru­der und hat­te sich löb­li­cher­wei­se in den Kopf ge­setzt, ihn aus der Ge­fah­ren­zo­ne des Ver­lod­derns her­aus­zu­rei­ßen.

Ei­nes Ta­ges drück­te mir On­kel Gu­stav, der mich Fram­per nann­te, ein Fünf­gro­schen­stück in die Hand, eine Sum­me, wie ich sie nie be­ses­sen hat­te. Ich war völ­lig be­rauscht, als ich sie plötz­lich in der Hand fühl­te. Ich ließ sie mir fünf Mi­nu­ten spä­ter im klei­nen Kram­la­den der Wit­we Mül­ler, mit de­ren Sohn ich oft stun­den­lang Tü­ten kleb­te, in Kup­fer­drei­er um­wech­seln. Was zwan­zig Stück die­ser Geld­sor­te aus­mach­ten! Nun erst war ich be­frie­digt mit mei­nem, wie ich glaub­te, un­er­schöpf­li­chen Reich­tum in der Faust.

Eine Stun­de spä­ter hat­te ich Zeit und Ver­an­las­sung, über die Ver­gäng­lich­keit ei­nes so un­ge­heu­er­li­chen Schat­zes nach­zu­den­ken. Ich hat­te vor mei­nen Myr­mi­do­nen und Spiel­ka­me­ra­den da­mit her­um­ge­prahlt und mir schließ­lich Drei­er für Drei­er ab­bet­teln las­sen.

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Sechzehntes Kapitel

Dok­tor Straeh­ler, ein Vet­ter mei­ner Mut­ter, des­sen Va­ter also der Bru­der mei­nes Groß­va­ters Straeh­ler war, be­wohn­te im Grü­nen, nicht fern von uns, ein selbst­ge­bau­tes hüb­sches Haus, das er selt­sa­mer­wei­se Zum Ko­me­ten ge­nannt hat­te. Ein Bau­er, der ihn als Arzt kon­sul­tie­ren woll­te, hat­te mit den Wor­ten nach ihm ge­fragt: »Wu gieht’s denn hie zum Duk­ter Streh­lin­ger eis Ko­mi­tee?«, was im­mer wie­der er­zählt und be­lacht wur­de.

Ich könn­te nicht sa­gen, wie es mit sei­nem ärzt­li­chen Wis­sen be­schaf­fen ge­we­sen ist, aber er war ein schö­ner und ele­gan­ter Mann, der schöns­te viel­leicht un­ter den Ba­de­ärz­ten.

In sei­nem Hau­se herrsch­te, von mei­ner Tan­te Straeh­ler aus­ge­hend, eine bei­nah sche­men­haf­te, küh­le Gü­tig­keit. Die Na­tur mei­nes On­kels war voll gu­ter Lau­ne und Le­bens­lust. Bei­des in sei­nen vier Wän­den aus­zu­to­ben, hat­te er kei­ne Ge­le­gen­heit, nicht weil es ihm sei­ne Gat­tin ver­bot, son­dern weil er es um ih­ret­wil­len sich selbst ver­sag­te. An­ders war dies in un­serm Krei­se, wo Va­ter und Mut­ter sei­nen Hu­mo­ren al­les Ver­ständ­nis ent­ge­gen­brach­ten und sich von ih­nen be­lebt fühl­ten.

Die­sem On­kel, der wie mein Groß­va­ter mit dem Vor­na­men Her­mann hieß, konn­te man an­mer­ken, dass er sich wohl­fühl­te. Man ver­zieh dem ele­gan­ten und schö­nen Mann, wenn er selbst in Ge­sell­schaft von vor­neh­men Da­men ge­le­gent­lich Schwarz schwarz, Weiß weiß und ge­wis­se phy­sio­lo­gi­sche Funk­tio­nen mit lu­the­risch-deut­schen Kern­wor­ten nann­te. Mit ei­nem lie­bens­wür­di­gen La­chen der Un­schuld wur­den des­falls er­teil­te Rü­gen von ihm über­hört.

Das Haus­we­sen die­ses On­kels ruh­te auf ei­nem Grun­de ge­si­cher­ten Wohl­stan­des, den er der Gat­tin zu ver­dan­ken hat­te.

Die Kin­der des Dok­tor Straeh­ler­schen Ehe­paa­res – da­mals sind nur Ar­thur und Ger­trud in mein Be­wusst­sein ge­tre­ten – wur­den nach ganz an­de­ren Grund­sät­zen auf­ge­zo­gen als wir klei­nen Haupt­leu­te: hier Ab­här­tung, dort Ver­zär­te­lung. Es war nicht zu den­ken, dass Ar­thur im Win­ter etwa mit mir stun­den­lang oder über­haupt den Pap­pel­berg hät­te hin­un­ter­ro­deln dür­fen. Sol­che all­fäl­lig ge­fähr­li­chen Un­ter­neh­mun­gen, und noch dazu un­ter lär­men­den und kra­keelen­den Gas­sen­jun­gen, konn­ten für ihn nicht in Be­tracht kom­men.

Es ka­men bei die­sem Win­ter­ver­gnü­gen ge­le­gent­lich wirk­lich Un­fäl­le vor. Ein Kna­be, der bei ver­eis­ter Bahn, den Kopf vor­an, auf dem Schlit­ten lag, fuhr ge­gen einen Pap­pel­stamm und wur­de be­wusst­los fort­ge­tra­gen.

Vi­el­leicht war Ger­trud wirk­lich ein zu schö­nes und zar­tes Kind, um ro­bus­ten Ver­gnü­gun­gen die­ser Art ge­neigt und ge­wach­sen zu sein, und be­durf­te eben der Pfle­ge, wie sie ihr von den El­tern zu­teil wur­de. Bei Ar­thur schi­en es uns und mei­nem Va­ter und mei­ner Mut­ter, man gin­ge in ängst­li­cher Sorg­falt zu weit.

Wir Kin­der be­such­ten ein­an­der ge­le­gent­lich, nicht aber so, dass wir im Ko­me­ten und sie im Gast­hof zur Kro­ne un­ge­mel­det aus und ein gin­gen. Die Vor­be­spre­chun­gen zwi­schen den El­tern dau­er­ten ta­ge­lang. Man muss­te nicht nur im Ko­me­ten auf un­ser Er­schei­nen vor­be­rei­tet sein, son­dern Ar­thur und Ger­trud kos­te­ten noch weit grö­ße­re Um­stän­de, wenn sie zu uns her­über­ge­bracht wer­den soll­ten. Was sie tun und nicht tun durf­ten, wur­de an­ge­sagt, was sie es­sen und ver­mei­den, wel­che Wär­me die Zim­mer brauch­ten und so fort.

Pünkt­lich wur­den sie dann vom Haus­die­ner des Ko­me­ten, ver­mummt bis über die Au­gen, mit Fuß­sä­cken aus­ge­stat­tet und im reich­ver­zier­ten Stuhl­schlit­ten, an­ge­bracht. Und doch war der Weg vom Ko­me­ten bis zu uns in zwei Mi­nu­ten zu­rück­zu­le­gen.

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Im spä­ten Herbst und zei­ti­gen Früh­jahr, wenn kei­ne Gäs­te mehr oder noch kei­ne da wa­ren, fand ge­le­gent­lich ein grö­ße­rer Kreis von Ver­wand­ten den Weg zu uns und ge­noss die freie und herz­li­che Gast­lich­keit mei­nes Va­ters.

Ich kann mich er­in­nern, wie bei ei­ner sol­chen Ge­le­gen­heit ein ent­fern­ter On­kel und äl­te­rer Mann wie ein Hans­wurst mit den Wor­ten »Der Matsch­ker kommt!« ins Zim­mer sprang und mich klei­nen Jun­gen, ohne da­von eine Ah­nung zu ha­ben, für ihn gleich­sam er­rö­ten mach­te. Mein Ge­fühl für Wür­de, am Bei­spiel mei­nes Va­ters ge­reift, konn­te ein sol­ches Be­tra­gen nur mit in­ner­li­chem Ent­set­zen hin­neh­men.

Der Jüngs­te un­ter den Söh­nen des Brun­nen­in­spek­tors war On­kel Karl, in Kau­fun­gen Guts­in­spek­tor. Er und sein Bru­der, On­kel Paul, wa­ren die Hu­mo­ris­ten der Fa­mi­lie, aber Gott sei Dank nicht im Sin­ne von »Der Matsch­ker kommt!«

Ein sol­cher im­pro­vi­sier­ter Fa­mi­li­en­tag, um Os­tern, konn­te köst­lich sein. Tan­te Ju­lie sang im Blau­en Saal, vom Or­ga­nis­ten des Orts be­glei­tet. Nach dem Gar­ten stan­den die Gla­stü­ren of­fen, und mit der er­wärm­ten son­ni­gen Luft drang das Pfei­fen und Schna­bel­klap­pern der Sta­re her­ein. Das buck­li­ge Tänt­chen Au­gus­te war da, On­kel Paul aus Bres­lau, der sei­ne Braut, die Toch­ter ei­nes Ju­we­liers, die dazu noch Gold in der Keh­le hat­te, mit­brach­te. Zwi­schen ih­ren Ko­lo­ra­tu­ren und dem herr­li­chen Alt der Obe­r­amt­män­nin Schu­bert gab es einen Sän­ger­streit. Mein Bru­der Ge­org und sein Freund Wal­de­mar Gold­stein wa­ren da, die den los­ge­bun­de­nen Fe­ri­en­geist von Se­kun­da­nern mit­brach­ten. Selbst mei­ne Mut­ter war auf­ge­räumt. Kal­te Kü­che wur­de her­um­ge­reicht. Ei­gen­hän­dig ent­kork­te mein Va­ter Wein­fla­schen. In­dem sich mir ein be­stimm­ter Os­ter­mor­gen wie­der ent­hüllt, er­in­ne­re ich mich al­ler­dings auch ei­ner bei­na­he un­ap­pe­tit­li­chen Zärt­lich­keit On­kel Pauls ge­gen­über sei­ner Braut, die spä­ter mit Recht all­sei­tig ge­rügt wur­de.

*

Ward im Herbst von mei­nem Va­ter und On­kel Gu­stav Wein ab­ge­zo­gen, so muss­te ich wohl be­hilf­lich sein. Es war nicht ganz leicht, vol­le Fla­schen auf dem un­ebe­nen Stein­bo­den des Kel­lers auf­zu­stel­len, die ich dem vor dem Fas­se sit­zen­den On­kel ab­zu­neh­men hat­te. Mein Va­ter ging da­bei ab und zu und mahn­te mich zu Sorg­falt und Ruhe. Ob­gleich ich nicht ohne Ge­schick und mit wah­rem Ver­gnü­gen bei der Sa­che war, pas­sier­te es ein­mal, dass ich oder bes­ser eine der Fla­schen das Gleich­ge­wicht nicht mehr hal­ten konn­te und eine gan­ze Rei­he an­de­rer Fla­schen mit sich riss. Ich wur­de aus­ge­schol­ten und, was die größ­te Stra­fe war, als noch zu dumm und zu klein für ein sol­ches Ge­schäft fort­ge­schickt.

Un­term Saal wur­den Fla­schen ge­wa­schen. Die Rei­ni­gung ge­sch­ah durch Was­ser und Schrot. In Lö­chern auf lan­gen Bret­tern wur­den dann die Fla­schen, Mün­dung nach un­ten, hin­ge­stellt.

Ir­gend­wie hat­te das Wein­ab­fül­len auch für uns Kin­der et­was Fest­li­ches, und mit­un­ter ging es, wie durch Zu­fall, auch für die Er­wach­se­nen in et­was der­glei­chen, näm­lich eine Wein­pro­be, aus. Ein­mal hat­ten sich dazu ein Dut­zend Men­schen im Kel­ler und um die Kel­ler­tür zu­sam­men­ge­fun­den. Man trank, wo man ge­ra­de ging und stand, im dämm­ri­gen Vor­flur oder im Rau­me hin­ter der Ein­gangs­tür, wo früh­jahrs der Mann mit den Mu­scheln er­schi­en und wo das ra­sen­de Hünd­chen sein Ende ge­fun­den hat­te. Ein Post­se­kre­tär, ein al­tes Fräu­lein, der Po­li­zei­ver­wal­ter des Or­tes, ein hin­ken­der Pro­ku­rist aus dem In­dus­trie­be­zirk, Dok­tor Straeh­ler, mei­ne Mut­ter und Schwes­ter und die­ser und je­ner aus den ge­bil­de­ten Krei­sen Ober-Salz­brunns wa­ren dar­un­ter. Es scheint, dass mein Va­ter mit viel ei­ge­nem Ver­gnü­gen eine sol­che Ge­le­gen­heit beim Schop­fe nahm.

Da­mals tru­gen die Post­se­kre­tä­re noch Uni­form und den De­gen an der Sei­te. Der uns­re galt als Ori­gi­nal und mag viel­leicht ein den Ju­gend­freun­den Goe­thes, Merck oder Beh­risch, ver­wand­ter Ty­pus ge­we­sen sein. Ich ver­ges­se nicht, wie er, als end­lich sei­ne Amts­stun­de schlug, den Rem­brandt­hut des al­ten Fräu­leins und Blau­strumpfs auf dem Kopf, mit ge­zo­ge­nem De­gen hin­aus, über den Platz, in die lee­re Eli­sen­hal­le und sei­nem Büro ent­ge­gen stie­fel­te.

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Ge­mein­sa­me Schlit­ten­par­ti­en wa­ren ein schö­nes Ver­gnü­gen der gu­ten al­ten Zeit. Ich habe sie noch mit Au­gen ge­se­hen und mit­ge­macht. Herr­lich, wenn ei­ni­ge Dut­zend Schlit­ten, die Pfer­de mit ni­cken­den bun­ten Fe­der­bü­schen, mit to­sen­dem Schel­len­ge­läu­te hin­ter­ein­an­der her­fuh­ren. Man lan­de­te über der böh­mi­schen Gren­ze ir­gend­wo, wo man mit Kaf­fee, Ku­chen und To­kai­er1 das Tanz­ver­gnü­gen er­öff­ne­te. So hielt es das alte über­mü­ti­ge Schle­si­en, das nicht mehr vor­han­den ist.

Zwi­schen Weih­nach­ten und Neu­jahr lud mein Va­ter be­freun­de­te Ju­gend Salz­brunns zu ei­ner Ver­an­stal­tung, die er selbst er­fun­den hat­te. Chi­ne­si­sche Lam­pi­ons be­leuch­te­ten in kal­ter Mond­nacht von oben bis un­ten und zu bei­den Sei­ten den Kro­nen­berg. Drei­ßig bis vier­zig Hand­schlit­ten wa­ren zu­sam­men­ge­borgt wor­den und wur­den an eben­so vie­le Paa­re jun­ger Her­ren und Da­men ver­teilt. Auf der Stein­ter­ras­se vor dem Gro­ßen Saal, an der die Schlit­ten, je­der mit ei­nem ver­gnüg­ten Paar, vor­bei­rutsch­ten, wur­den hei­ße Ge­trän­ke, Grog, Glüh­wein, Tee und Kaf­fee, be­reit­ge­hal­ten und an die im­mer lus­ti­ger wer­den­den Rod­ler ge­reicht. Ein Teil der Vor­be­rei­tun­gen zu solch ei­nem Fest, näm­lich das Zu­sam­men­ho­len der Hand­schlit­ten, wur­de uns Kin­dern über­las­sen. Auch das be­rei­cher­te viel­fach mei­nen Vor­stel­lungs­kreis.

1 sü­ßer, aus Un­garn stam­men­der Des­sert­wein von hell­brau­ner Far­be <<<

Žanrid ja sildid
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961 lk 2 illustratsiooni
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9783962818746
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