Hell und Dunkel. Eine Gemsjagd in Tyrol.

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Hell und Dunkel. Eine Gemsjagd in Tyrol.
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Gesammelte Schriften

von

Friedrich Gerstäcker.

Vierter Band.

Volks- und Familien-Ausgabe.

Hell und Dunkel. – Eine Gemsjagd in Tyrol

Jena,

Hermann Costenoble.

Ausgabe letzter Hand, ungekürzt, mit den Seitenzahlen der Vorlage

Gefördert durch die Richard-Borek-Stiftung und Stiftung Braunschweigischer Kuilturbesitz

Friedrich-Gerstäcker-Gesellschaft e.V. und Edition Corsar, Braunschweig, 2021

Herausgegeben von Thomas Ostwald nach der von Friedrich Gerstäcker

eingerichteten Textausgabe für H. Costenoble

Geschäftsstelle: Am Uhlenbusch 17, 38108 Braunschweig

Alle Rechte vorbehalten! © 2016 / © 2021

Herr Hobelmann.

„Bitte, Herr Conducteur, ein Coupé, wo nicht geraucht wird!"

„Nicht geraucht? - ja wohl - wohin?"

„Yvenburg!"

Der Conducteur öffnete eins der nächsten Coupés des dicht mit, von der Leipziger Messe kommenden, Fremden besetzten Zuges, und der junge Mann, der sich ein Nicht-Rauch-Coupé erbeten hatte, lächelte still vor sich hin, als er nur noch einen einzigen Passagier in dem innern Raum entdeckte. Die in der Mitte befestigte Lampe verbreitete allerdings blos einen düstern Schein im Wagen, so daß sich sein Gesicht nicht deutlich erkennen ließ; das ist aber unterwegs auch nicht nöthig, denn es kommt bei unserer jetzigen Eisenbahnfahrt in der That wenig darauf an, mit wem man die kurze Zeit der Reise beisammen ist. Lernt man sich doch selten oder nie näher kennen, als eben nöthig bleibt „Guten Morgen" zu sagen.

Der junge Fremde schien übrigens kein Neuling unterwegs. In kurzer Zeit hatte er sein weniges Gepäck zweckmäßig untergebracht, und einen buntfarbigen wollenen Ueberwurf, der ein ausländisches Gepräge trug, zusammenrollend und unter den rechten Ellbogen schiebend, lehnte er sich behaglich in seine Ecke zurück, und sah still und schweigend vor sich nieder, bis der Conducteur die Billete coupirt und den Wagen wieder geschlossen hatte. Dann aber sich zu seinem eben so schweigsamen Reisegefährten wendend, sagte er: /8/

„Wir sitzen hier in einem Coupé, wo nicht geraucht wird, nicht wahr?"

„Allerdings!" lautete die lakonische Antwort.

„Aber es ist Ihnen doch vielleicht einerlei, wenn ich mir eine Cigarre anzünde?" fuhr der Fremde fort.

„Einerlei? nein," erwiderte der Mitbesitzer des Nicht-Rauchcoupés - „einerlei ist es mir gar nicht, denn wenn Sie rauchen, rauch' ich mit."

„Das soll ein Wort sein!" lachte der junge Fremde, indem er aus seiner Brusttasche eine äußerst fein aus Stroh geflochtene Cigarrentasche nahm und seinem Nachbar hinüberreichte - „bitte, versuchen Sie einmal meine Havanas. Daß sie ächt sind, garantire ich Ihnen."

„Man kann es in den anderen Coupés gar nicht aushalten," sagte der Erste, indem er mit dankender Verbeugung eine Cigarre nahm - „sie sind gedrängt voll von polnischen Juden."1

„Aus dem nämlichen Grunde habe ich mir ein Nicht-Rauch-Coupé erbeten. Wenn wir nur keine Dame hereinbekommen!" sagte der zuletzt Eingetroffene.

„Das ist in der Nacht kaum zu fürchten; es gehen zu viel Züge bei Tage, und nach der Messe reisen Damen gewiß nicht in der Nacht, wenn sie nicht nachgedrungen müssen. - Die Cigarre ist übrigens vortrefflich."

„Schmeckt sie Ihnen?"

„Ausgezeichnet - ich habe noch keine bessere geraucht."

„Sie wohnen in Yvenburg?"

„Ich gedenke dort zu wohnen. Ich komme von Würzburg, wo ich eine Zeit lang prakticirt, und will mich jetzt in Yvenburg als Arzt niederlassen."

„Als Arzt? - vortrefflich. Da wünsche ich Ihnen oder vielmehr Ihren Patienten Glück."

„Wir können es zu beiden Theilen gebrauchen," lachte Jener, und die beiden jungen Leute lehnten sich schweigend in ihre Ecken zurück, um von jetzt an ihren eigenen Gedanken nachzuhängen. An den verschiedenen Stationen, an denen angehalten wurde, ließ man sie auch ungestört. Unterwegs stiegen nur noch wenig Passagiere ein, und die wenigen /9/ wünschten auf der Fahrt Alle ihre Cigarre zu rauchen, belästigten sie also nicht.

Der Tag dämmerte gerade, als sie sich dem Ziel ihrer Fahrt näherten.

„Haben Sie schon ein Logis, Herr Doctor?" frug der Fremde, während er sein Reisegepäck zusammenlegte, um es beim Aussteigen gleich bei der Hand zu haben.

„Ich? - ja. Ein Privatlogis, das ich beziehen werde. Und Sie?"

„Ich will einen Onkel von mir überraschen, den ich seit neun Jahren nicht gesehen habe. Ich komme allerdings noch ein wenig früh, und der alte Herr wird im ersten Augenblick nicht angenehm überrascht von der Störung sein. Aber das schadet nichts; die Freude ist nachher desto größer."

„Sie waren längere Jahre verreist, wie mir scheint."

„Ich komme direct aus Havana."

„Daher also die vortrefflichen Cigarren."

„Von denen ich Sie bitte, sich noch eine anzuzünden."

„Aber ich beraube Sie."

„Nicht im Mindesten - ah, da sind wir!"

Der Zug hielt; die beiden jungen Leute stiegen aus, grüßten einander, und der Havanese fuhr gleich darauf in einer Droschke über die Brücke in die Stadt hinein, während ihm der neue Doctor langsamer und seinen Umständen mehr entsprechend zu Fuß folgte.

Die Maschine schnaufte und pustete und blies den weißen Qualm aus, wie erhitzt vom raschen Lauf und frische Kräfte jetzt zum neuen sammelnd. Während sich dann die lebendige Menschenlast, die sie eben erst hergeschafft, nach allen Richtungen hin zerstreute, drehte es sich um, das kochende, glühende Ungeheuer, faßte mit den eisernen Zangen den nächsten schwerbeladenen Zug und schnaubte keuchend wieder hinaus, scheinbar mitten in's blanke Feld hinein, anderen Städten, anderen Ländern zu - rastlos, ruhelos mit der unermüdlichen eisernen Brust. /10/

II.

Es war noch früh, denn bei den schon wieder ziemlich kurzen Tagen fanden sich die Stadtbewohner Morgens nicht so rasch aus ihren Betten. Nur die Mädchen gingen nach Brod oder Milch, um das Frühstück für die Herrschaft herbeizuschaffen, und hier und da rasselte ein mit ausgeschlachtetem Fleisch behangener Wagen die Straße herauf, seine Ladung den nächsten Hallen zuzuführen. Unser junger Fremder wußte aber doch, trotz seiner langen Abwesenheit von dem Vaterland, ziemlich Bescheid in der innern Stadt - wenn er sich auch in den Vorstädten schwieriger zurecht gefunden hätte. Er bezeichnete wenigstens dem Droschkenkutscher genau die Straße und das Hotel, in das er wollte, ließ dort sein Gepäck abladen und schritt dann selber, ohne weitere Erkundigungen einzuziehen, quer über den nächsten Platz hinüber, eine Strecke an der Häuserreihe hin und dann in ein Eckhaus hinein, in dem er in flüchtigen Sätzen die Stufen hinauf bis in die erste Etage sprang.

Die Vorsaalthür dort war aber versperrt, und unschlüssig blieb er davor stehen, denn er scheute sich jedenfalls zu klingeln. Da hörte er drinnen Schritte, irgend Jemand legte die kleine Kette zurück, die den Eingang sicherte, und gleich darauf öffnete sich die Thür selber, aus der ein Dienstmädchen, den Frühstückskorb am Arm, gerade heraustreten wollte.

„Guten Morgen, mein schönes Kind!" sagte der junge Mann.

„Herr Jesus, haben Sie mich erschreckt!" fuhr das Mädchen zurück, und schien nicht übel Lust zu haben, ihren Weg ganz aufzugeben. Damit war aber dem Fremden nicht gedient, und ihren Arm ergreifend, sagte er lachend:

„Fürchten Sie sich nicht; ich thue Ihnen nichts - ich will nur zum alten Herrn. Schläft er noch?"

„Der alte Herr - ei gewiß!" erwiderte das Mädchen, das jetzt schon selber überzeugt war, daß ihr von dem gar /11/ stattlich aussehenden fremden Herrn keine Gefahr drohe - „es ist ja knapp sechs Uhr."

„Und wann steht er auf?"

„Ja, das soll ich wissen! Um acht Uhr hat er das Frühstück bestellt."

„Acht Uhr, so lange kann ich nicht warten. Ich werde ihn wecken."

„Das geht nicht - das hat er streng verboten."

„Nur nicht ängstlich," lachte der Fremde - „ich nehm's auf mich. Es ist mein Onkel."

„Ihr Herr Onkel - ja wenn's das ist. Na warten Sie, ich will Ihnen nur den Weg zeigen."

„Danke bestens - den kenn' ich schon selber," bemerkte der Fremde.

„Den Weg kennen Sie?" sagte das Mädchen erstaunt; ehe sie ihn aber daran verhindern konnte, war er, in dem behaglichen Gefühl, seine Ueberraschung völlig geglückt zu sehen, an ihr vorübergesprungen und verschwand gleich darauf in der nächsten Thür, die, wie er sich noch recht gut aus alter Zeit erinnerte, in das Schlafzimmer seines Onkels führte.

Die Thür öffnete er aber nur ganz leise und schaute erst vorsichtig hinein. Dort stand das Bett noch auf der nämlichen Stelle, wo es vor zehn Jahren gestanden hatte, als er von seinem damals kranken Oheim Abschied nahm. Der alte Herr ging nicht gern von seiner gewohnten Lebensweise ab - und jetzt - was er für ein Gesicht machen würde, wenn er in dem unwillkommenen Störenfried seinen leiblichen, tausend Meilen von da entfernt geglaubten Neffen erkannte.

Und wie hatte sich der junge Mann auf das Wiedersehen gefreut! Du lieber Gott, wenn wir uns weit entfernt von der Heimath unter kaltherzigen, gleichgültigen, fremden Menschen so lange, lange Jahre umhergetrieben haben, was war da unser einziger Trost, der einzige Lichtblick unseres oft so trüben Lebens, als der Gedanke gerade an solch ein Wiedersehen? Wie unzählige Male haben wir uns da den ersten Anblick der heimischen Küste, das erste Betreten vaterländischen Bodens ausgemalt; sind im Geist wieder und wieder durch die lieben alten, uns ach! so wohl bekannten Straßen ge/12/schritten - haben an die Thür geklopft und gehorcht, und endlich fest und innig die theuren Gestalten an unser Herz geschlossen, nach denen sich das wunderliche Ding so heiß und lange vergebens gesehnt. - Und immer, immer war das nur ein Traum; immer wieder mußten wir allein und freundlos draußen erwachen, bis der scharfe Kiel sich endlich der geliebten Küste entgegenwendet, und die vollgeblähten Segel uns ihr näher und näher bringen. - Und jetzt haben wir sie erreicht - jetzt springen wir an's Land und fühlen vor Lust und Seligkeit den Boden kaum unter den Füßen, und jetzt - aber das kann nicht beschrieben, das muß erlebt, wirklich erlebt werden, um eine Idee zu haben von dem wonnigen Gefühl, das in diesem Augenblick all' unsere Nerven durchzuckt. Wie läßt sich etwas mit Worten schildern, das selbst der Augenzeuge nicht verstehen würde, wenn er's nicht selber schon einmal mit durchgemacht.

 

Unser junger Freund aber verstand es zu würdigen, und geizte mit diesen kostbaren Minuten, die er Jahre lang ersehnt hatte. Lange stand er deshalb und schaute nach dem Bett seines Onkels hinüber, hinter dessen Vorhängen der alte Herr laut und regelmäßig athmete, ahnungslos, welche liebe Unterbrechung seinem Schlaf bevorstand. Endlich schlich er auf den Zehen näher - leise und vorsichtig, bis dicht zum Bett, dessen Gardinen er öffnete. - Aber die dunkeln, noch niedergelassenen Rouleaux schlossen das Licht aus; er konnte die Züge des Schlafenden nicht erkennen, und wie jetzt das Mädchen draußen, das indessen neugierig geworden war, der Wiedererkennungsscene beizuwohnen, leise den Kopf zur Thür hereinsteckte, flüsterte er:

„Onkel!"

Der Alte antwortete nicht; er schlief zu fest, um durch solchen sanften Anruf irgendwie gestört zu werden.

„Onkel!" - rief er lauter.

Noch immer kein Erfolg.

„Onkel - lieber, bester Onkel!" wiederholte der junge Fremde, und schüttelte diesmal, um seinen Worten Nachdruck zu geben, die Schulter des Schlafenden. /13/

„Ha! - ja! - wer ist da?" rief da der Schlafende, erschreckt und erst halb wach, in seinem Bett emporfahrend.

„Onkel!"

„Zum Teufel auch! Herr, was wollen Sie? - wer sind Sie? - Diebe!"

„Aber lieber, guter Onkel!"

„Der Henker ist Ihr Onkel, zu dem gehen Sie, heh! Hülfe! Hülfe!" schrie der alte Herr, und griff dabei unwillkürlich nach seiner Uhr und seinem Portemonnaie, das neben seinem Bett auf dem Waschtisch lag.

„Na, das nehmen Sie mir aber nicht übel," sagte jetzt auch das Mädchen, das bestürzt in das Zimmer trat, „was soll denn das eigentlich heißen?"

„Aber lieber, herzigster Onkel," beharrte der junge Fremde, „so wachen Sie doch nur ordentlich auf. Ich bin es ja, — Ihr Neffe Franz, der eben geraden Wegs aus Amerika zurückkommt."

„Und was geht das mich an?" polterte der alte Herr zurück, jetzt in etwas beruhigt, da er Uhr und Geldtasche gerettet in Händen hielt und noch eine dritte Person im Zimmer wußte. „Was wollen Sie von mir? Wie kommen Sie überhaupt mitten in der Nacht hierher, und wer hat Sie eingelassen?"

„Ja, bester Herr Hobelmann," mischte sich jetzt das Mädchen in die Unterhaltung - „der fremde Herr sagte, Sie wären sein Onkel, und da dachte ich -"

„Hobelmann?" rief aber Franz, erschreckt aufhorchend, „Hobelmann? - ja alle Wetter, wohnt denn hier nicht der Regierungsrath Kettenbrock?"

„Kettenbrock? weiß ich nicht - geht mich auch nichts an," knurrte der Alte, der nun wohl sah, daß die ganze Sache auf einen gefahrlosen Irrthum hinauslaufe. „Warum um's Himmels willen erkundigen Sie sich denn nicht erst, wenn Sie bei nachtschlafender Zeit einem fremden Menschen wie eine Bombe in's Zimmer fallen?"

„Ja, da bitte ich tausendmal um Entschuldigung," versetzte der junge Mann kleinlaut und selbst etwas erschreckt. Denn plötzlich schoß ihm der Gedanke durch's Hirn, daß sein /14/ lieber alter Onkel am Ende gar gestorben sein könne, und nun fremde Menschen das Haus inne hätten, in dem er seine Jugendzeit verlebt. „Aber Sie können mir dann wohl sagen -" rief er jetzt aus.

„Gar nichts kann ich Ihnen sagen," unterbrach ihn jedoch ungeduldig und barsch der Alte - „lassen Sie mich zufrieden. Ich will schlafen. Zum Henker auch, gehen Sie zum Nachtwächter und erkundigen Sie sich dort nach dem, was Sie erfahren wollen."

Und damit auf das Entschiedenste dem Fremden den Rücken kehrend, schob Herr Hobelmann vorsichtiger Weise Uhr und Geldtasche unter sein Kopfkissen, und schnitt so jeder noch möglichen Unterhaltung den Faden ab. Aus dem Alten war nichts herauszubringen, das sah der junge Mann wohl ein, und kopfschüttelnd wandte er sich mit einem trockenen „Guten Morgen", der aber nicht einmal erwidert wurde, der Thür zu, an der ihn das Mädchen schon erwartete.

„Nun ja, jetzt werd' ich's kriegen, wenn der alte Brummbär nachher wieder aufwacht," sagte diese, indem sie dem Eindringling die Vorsaalthür öffnete. „Wer stürmt denn aber auch den Leuten so mir nichts dir nichts in's Zimmer und an's Bett, ohne auch nur erst einmal zu fragen, wer da wohnt?"

„Sagen Sie mir nur um Gottes willen, liebes Kind," bat sie aber der junge Fremde, „was mit dem Regierungsrath Kettenbrock vorgefallen ist, daß er dies Haus, in dem er so lange Jahre gelebt, verlassen hat?"

„Vorgefallen? ich dachte gar!" versetzte das Mädchen - „nichts ist vorgefallen; er ist frisch und gesund und befindet sich wohl, das weiß ich gewiß, weil meine Schwester dort dient. Dies Haus hat er nur vor etwa acht Wochen verkauft, weil sich ihm rechts neben dem Garten ein Kupferschmied und links ein Blechschmied hingesetzt hatten, und er das Geklopfe nicht mehr aushalten konnte. Er wohnt jetzt am Obstmarkt Nummer 47."

„Gott sei Dank, da ist mir ein Stein vom Herzen!" - sagte der junge Fremde, mit einem aus tiefster Brust herausgeholten Seufzer. /15/

„Ja, Sie haben gut reden," schmollte das Mädchen, „aber ich bekomme nachher das Aufgebot, wenn der alte Brummbär aufsteht."

„Da, nehmen Sie das indessen darauf," lachte der Fremde, indem er ihr ein Geldstück in die Hand drückte.

„Danke schön," sagte das Mädchen, mit einem eben so zufriedenen als erstaunten Blick über solche Freigebigkeit nach dem blanken Thaler niederschielend - „jetzt mag er schimpfen, so lange er Lust hat."

„Und wer ist der alte Brummbär da drinnen eigentlich?"

„Was weiß ich?" plauderte das Mädchen, die kleine Stumpfnase rümpfend, denn sie hatte jetzt entschieden Partei für den jungen, freigebigen Fremden genommen. „Unsere Herrschaft hat das Haus gekauft, und er ist, glaub' ich, der Advocat, den sie daheim in Schlesien hatten, und der ihnen hier Auskunft wegen einer Klage oder sonst 'was geben soll. Gestern Abend mit dem Nachtzug kam er erst an, und ich weiß nur, daß er Hobelmann heißt."

„Schönen Dank, mein Kind, für die Auskunft. Also der Regierungsrath Kettenbrock wohnt jetzt am Obstmarkt?"

„Nummer 47 - Sie können gar nicht fehlen - eine Treppe hoch. Und Sie sind der Neffe vom Herrn Regierungsrath? Na, das wird eine Freude sein!"

„Hoffentlich größer, als sie mir Herr Hobelmann gezeigt hat," bestätigte Franz Kettenbrock, nickte dem hübschen Mädchen zu und sprang die Treppe hinunter, um, jetzt aus einer sicherern Basis als vorher, seinen Verwandten aufzusuchen.

III.

Mit der Ueberraschung in seines Onkels Hause hatte sich aber der junge Havanese, wenn er fest darauf gerechnet, doch geirrt, denn der alte Herr befand sich keineswegs so unvorbereitet auf ihn, wie er vermuthetete. Franz Kettenbrock’s Ge/16/schäftsfreund in Hamburg nämlich, den er dort aufgesucht, war ein abgesagter Feind jeder Ueberraschung, da, nach einer mündlichen Ueberlieferung seiner Großmutter, vor uralten Zeiten in seiner eigenen Familie einmal eine solche Ueberraschung sehr böse und nachtheilige Folgen gehabt haben sollte. So wie er deshalb erfuhr, daß der junge leichtsinnige Mensch seinem Onkel nur eben so in's Haus hineinfallen wollte, wodurch er das größte Unglück anrichten konnte, ging er, nach vergeblichen desfallsigen Vorstellungen, einfach auf das Telegraphenamt und setzte den alten Herrn Kettenbrock von der glücklichen Landung seines Neffen und der Stunde seines Eintreffens zu Yvenburg, mit beabsichtigter Ueberraschung, pflichtschuldigst in Kenntniß. Der Onkel war dadurch vollkommen im Stand, sich auf jede freudige Aufregung genügend vorzubereiten.

Allerdings blieb ihm keine lange Zeit zu großen Empfangsfeierlichkeiten; die waren aber auch nicht nöthig. Ein paar Kränze und Guirlanden bekam man früh genug, ehe der Zug eintraf, auf dem Markt, und der Onkel trieb an dem Morgen selber, was er eigentlich gar nicht nöthig gehabt hätte - seine beiden bei ihm lebenden Nichten aus den Federn. Sie sollten jedenfalls fertig angezogen sein und den Kaffee bereit halten, wenn „der Schlingel von Neffe" heimlich angeschlichen käme, und wunder glaubte, wie gescheidt er es angefangen habe, seinen Onkel zu überlisten.

In dem einen Kranz, der gerade in der Mitte prangen sollte, war auch ein strohblumengeflochtenes, lesbares „Willkommen" angebracht, und die beiden jungen Mädchen freuten sich jetzt ganz besonders auf das erstaunte Gesicht, das der Vetter aus Havana machen würde, wenn er sich hier so verrathen sah. Es wäre ja auch höchst fatal gewesen, wenn er sie Morgens ganz früh und noch im vollen Negligé überrumpelt hätte.

So schlug es sechs Uhr - der Zug war jedenfalls angekommen, und mit einer Droschke konnte der Vetter recht gut in zehn, höchstens fünfzehn Minuten vor ihrer Thür sein. - Es schlug aber ein Viertel - jetzt auf der nächsten, und dann auf allen anderen Uhren der Stadt, und er kam immer /17/ noch nicht. - Wenn er heute ganz ausgeblieben wäre - oder erst mit dem nächsten Zug um elf Uhr eintraf! Der alte Regierungsrath wurde förmlich nervös vor Spannung, denn er liebte den transatlantischen Neffen wie einen eigenen Sohn - trotz mancher tollen Streiche, die er schon verübt, - und die beiden jungen Mädchen horchten abwechselnd an der Vorsaalthür, ja Ricke, das Hausmädchen, war sogar unten auf die Treppe postirt worden, um von dort aus gleich zu melden, wenn sich der Erwartete etwa blicken lasse. -

Unser anderer junger Freund, der Arzt aus Würzburg, hatte indessen seinen Gepäckschein einem der numerirten Kofferträger übergeben, und ging mit seiner leichten Reisetasche in der Hand, langsam und seinen Gedanken nachhängend, in die Stadt hinein. Vor allen Dingen mußte er das ihm schon ausgemachte Quartier aufsuchen, und dann, wenn sein Koffer eintraf, sich für die nothwendigen und eben nicht angenehmen Visiten in die geeignete Verfassung setzen.

Haus und Straße wußte er allerdings, wo sein Logis bestellt worden: Obstmarkt Nr. 47, zweite Etage - auf dem Zettel war aber die 7 so undeutlich, daß es eben so gut eine 2 sein konnte. Uebrigens ließ sich das leicht erfragen; auch wußten seine neuen Wirthsleute, daß er heute Morgen eintraf, und erwarteten ihn gewiß.

Das neue, ungewohnte Leben der fremden Stadt interessirte ihn dabei, und er schritt langsam die vorher erfragte Straße nieder, bis er den sogenannten Obstmarkt erreichte, das bezeichnete Haus fand und, als er eintrat, auf dem ersten Treppenabsatz ein Mädchen stehen sah. Dieses wollte er nach den Bewohnern fragen, um sich zu überzeugen, ob er auch am rechten Ort wäre. Das Mädchen stand ihm aber keine Rede, denn kaum hatte sie ihn erblickt, als sie auch umdrehte und spornstreichs die Treppe hinauflief. Oben angelangt, war es ihm auch, als ob er sie die Worte rufen hörte: - „Eben kommt er - er ist schon im Hause", und still vor sich hinlächelnd, sagte er:

„Da bin ich also doch an der rechten Stelle und meine Wirthsleute scheinen mich richtig erwartet zu haben. Jetzt freu' ich mich nur auf eine Tasse recht heißen Kaffees." /18/

Er stieg langsam die Treppe hinauf, und sah sich gleich darauf den aufgehangenen Guirlanden und Kränzen mit dem eingeflochtenen „Willkommen" gegenüber. - Aber das war in der ersten Etage und galt ihm nicht. Nur einen Augenblick blieb er lächelnd stehen, denn es schien ihm fast, als ob er hinter der angelehnten Vorsaalthür ein leises Kichern und Flüstern hörte, dann aber wandte er sich wieder, um eine Etage höher zu steigen.

Da wurde plötzlich und rasch die Thür aufgerissen, die lachende Stimme eines alten Herrn rief:

„Haltet ihn — haltet ihn fest, den Ausreißer!" und ein paar junge, allerliebste Mädchen sprangen aus der Thür gerade auf ihn zu, warfen ihm, ehe er vor Erstaunen wußte, wie ihm geschah, eine lange grüne Guirlande über die Schultern und zogen den sich wenig oder gar nicht dagegen Sträubenden unter lautem Jubel in den Vorsaal hinein.

 

„Haben wir ihn?" schrie der alte Herr - „haben wir ihn erwischt, den Land- und Meerstreicher? Uns überraschen wollte er erst, und dann - wie er merkte, daß es mißglückt war, vorbeischleichen, als ob ihn die ganze Geschichte gar nichts anginge, heh? - Kam uns aber gerade recht, der Musjö; wie, Ihr Mädchen? - Junge - alter Seelensjunge, wie geht's?"

Und damit zog er den jungen Mann ohne Weiteres an seine Brust und küßte ihn ab nach Herzenslust.

„Aber, bester Herr!" stotterte dieser jetzt ernstlich verlegen. Ein Mißverständniß lag der ganzen Sache jedenfalls zu Grunde, und er wünschte das sobald als möglich aufzuklären.

„Was - Herr!" rief aber der Alte - „will sich wohl gar jetzt noch herauslügen? - Flausen! Flausen! Damit ist's nichts - und Ihr, Blitzmädel, steht jetzt da, als ob Ihr nicht Drei zählen könntet? Ist das ein Empfang für einen Vetter, auf den Ihr Euch so lange gefreut habt, heh? - und wollt Ihr ihm gleich um den Hals fallen und einen oder ein Dutzend derbe Küsse geben?"

„Willkommen, Franz!" rief da die Jüngste, die sich zuerst ein Herz faßte, sprang dem jungen Mann entgegen und drückte die rosigen Lippen fest auf seinen ihr sehr bereitwillig /19/ dargebotenen Mund. Und dann kam auch die zweite mit eben so süßem Willkommen, und der junge Arzt sagte lachend:

„Und wenn ich mir das auch wie ein Dieb in der Nacht stehle, mag da ein Anderer widerstehen, und mir der herzliche Empfang in diesem Hause Glück bedeuten. Jetzt aber, mein bester -"

„Trinken wir vor allen Dingen Kaffee und rauchen wir eine vernünftige Cigarre oder Pfeife dazu," unterbrach ihn wieder der Regierungsrath, der heute fest entschlossen schien, seinen vermeintlichen Neffen gar nicht zu Worte kommen zu lasten. „Allons, Mädels, voraus - hier, Rieke, nimm einmal die Tasche und den Shawl, und dann soll er erzählen - erzählen von heute Morgen bis spät in die Nacht hinein, bis wir Alles aus ihm heraushaben, was wir wissen wollen." Dabei hatte er den jungen Mann unter den Arm gefaßt und zog ihn in das schon festlich mit Blumen geschmückte Zimmer.

„Wenn Sie mir aber nur vorher gestatten wollten, Ihnen mit wenigen Worten eine Erklärung zu geben," machte noch einmal der also Gepreßte den Versuch, das Mißverständniß aufzuhellen.

„Keine Erklärung vor dem Kaffee," parirte aber der hartnäckige Regierungsrath auch diesen letzten Angriff, und im nächsten Moment fand sich der Arzt dem alten Herrn gegenüber, an jeder Seite eine seiner reizenden, wenn auch aufgezwungenen Cousinen, vor der qualmenden, vortrefflich duftenden Kaffeekanne, vor allen Dingen die höchst wichtige Frage zu beantworten, ob er viel Sahne und wie viel Zucker er wünsche. - Da steckte das Dienstmädchen, die Rieke, den Kopf wieder in die Thür herein und meldete, daß draußen ein Fremder sei, ein junger Herr, der den Herrn Regierungsrath zu sprechen wünsche.

„Jetzt?" rief dieser - „geht nicht - soll wiederkommen. In einer Stunde, oder den Nachmittag, oder am liebsten morgen früh. Heute kann ich unmöglich." Das Mädchen verschwand wieder, kehrte aber schon nach wenigen Augenblicken zurück und richtete aus:

„Er kann nicht warten, sagt er, und müßte Sie gleich sprechen." /20/

„Er soll zum Teufel gehen!" fuhr der sonst so gutmüthige Regierungsrath jetzt gereizt und ärgerlich empor - „von „Müssen" kann gar keine Rede sein; ich muß gar nichts, und heute Morgen am allerwenigsten."

„Das ist nun das zweite Mal heute Morgen," sagte da eine lachende Stimme in der Thür, „daß mich ein „möglicher" Onkel zum Teufel wünscht, und es müßte nur sein, daß ich wirklich zum zweiten Mal an den falschen gekommen wäre. Onkel Kettenbrock? —"

„Onkel?" sagte der alte Herr, überrascht von seinem Stuhl aufspringend und erst den Eindringling und dann seinen früher vermutheten Neffen ganz erstaunt betrachtend.

„Ja, mein lieber Herr," sagte der Arzt, der bis über die Ohren roth geworden war, „wenn Sie mich nur einen Augenblick hätten zu Worte kommen lassen, so würden Sie schon lange erfahren haben, daß Sie sich in mir geirrt."

„Ja, wer zum Wetter ist denn jetzt eigentlich der Neffe?" rief ganz verdutzt der Regierungsrath.

„Vielleicht entscheidet da der Name," lachte der Letztgekommene, „ich heiße Franz Kettenbrock."

„Franz Kettenbrock?"

„Und ich Karl Helmerdiek," sagte der Doctor.

„Mein Reisegefährte aus dem Nicht-Rauchcoupé."

„Der allerdings bedauert," sagte der junge Doctor, „einen so lieben Willkommen auf fremdem Revier und unverdienter Weise erhalten zu haben."

Die Reihe zu erröthen war jetzt an den jungen Damen. Der Regierungsrath aber, mit dem richtigen Neffen vor sich, übersah in dem Augenblick alles Andere, und die Arme ausbreitend, rief er:

„Junge - bist Du es denn wirklich - freilich, das Gesicht giebt's ja - wo ich auch nur vorher die Augen gehabt habe! - Herzensjunge - und doch überrascht!"

„Lieber, bester Onkel!" rief Franz Kettenbrock, an seine Brust fliegend und den alten Mann fest an sein Herz drückend. Dann richtete er sich wieder auf. „Und das sind meine beiden Basen?" jubelte er, während ihm die hellen Thränen in den Augen standen. „Fränzchen - Adele - tausend noch /21/ einmal, was für große Mädchen sind die Knirpse geworden!" Im Nu hatte er sie beim Kopf und herzte sie nach der Art.

„Aber ist das auch gewiß der Rechte?" rief da Fränzchen, ihn noch mit schelmischem Lachen abwehrend, „nach den heutigen Erfahrungen -"

„Wie ich merke, hat mir mein Nachbar aus dem Nicht-Rauchcoupé schon das Beste oben abgeschöpft," sprach Franz - „aber halt! laßt ihn nicht fort - wir sind noch nicht fertig mit einander."

Der junge Arzt, der wohl fühlte, daß er hier eine eben nicht beneidenswerthe Rolle spielte, hatte sich in der That leise nach der Thür gedrückt, um mit der Freude des Wiedersehens seinen Rückweg zu decken. „Mein bester Herr Nachbar," sagte er, „es thut mir allerdings leid, das Alles nur unter dem Namen eines Andern erhalten zu haben; aber ich bin wirklich unschuldig."

„Den Herrn trifft keine Schuld," nahm auch Fränzchen jetzt seine Partei. „Wir Beide haben ihn förmlich eingefangen, und Onkel hat ihn gar nicht zu Worte kommen lassen, denn wir waren fest überzeugt, daß er der Rechte sein mußte. Hat also hier Jemand um Entschuldigung zu bitten, so sind es jedenfalls wir, die wir Sie so hinterlistig auf der Treppe überfielen."

„Na, auf die Art läßt er sich, glaub' ich, jeden Morgen überfallen," lachte der junge Kettenbrock - „aber ohne Kaffee dürfen wir ihn keineswegs entlassen. Sie haben ihn einmal hereingeschafft, Onkel."

Der Regierungsrath hatte indessen den jungen fremden Mann mit einem wohlwollend prüfenden Blick gemessen. Derselbe sah so anständig aus, und sein Gesicht hatte dabei etwas so Offenes, Ehrliches, daß er ihm überdies in der Freude des Augenblicks die Hand entgegenstreckte und ausrief: „Nun, Herr - wie war eigentlich Ihr Name?"

„Doctor Karl Helmerdiek."

„Also, Herr Doctor, wenn Sie auch nicht mein Neffe sind, hätten Sie es doch recht gut sein können, und da Sie unserthalben wahrscheinlich Ihr Frühstück versäumt haben, so machen Sie uns eine Freude, wenn Sie das unsrige mit uns theilen, /22/ um so mehr, da die beiden Herren auch schon bekannt mit einander sind -"

„Wir waren Coupé-Nachbarn," sagte Franz Kettenbrock, „und ich hätte wahrlich nicht geargwohnt, daß mir mein Reisegefährte beinahe den Onkel abspenstig machen sollte. Das Komische bei der Sache ist jedoch, daß ich heute Morgen schon in Eurer alten Wohnung einem wildfremden Menschen in's Zimmer und an's Bett gefallen bin."

„Im alten Logis?"

„Natürlich; ich hatte ja keine Ahnung, daß Sie das Haus je verlaßen würden."

„Und der Fremde?" lachte der Onkel mit dem ganzen Gesicht.

„War wüthend, daß ich ihn im Schlafe störte und ihn im Dunkeln ganz zärtlich meinen lieben, besten Onkel nannte."

„Das ist eine himmlische Verwechselung!" riefen die jungen Mädchen. „Wer die Scene mit hätte erleben können!"