Der Tausch

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Der Tausch
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Der Tausch.

Eine Elegie in Prosa

Gesine Palmer
Impressum:

Der Tausch. Eine Elegie in Prosa.

Copyright: 2012©Gesine Palmer

ISBN 978-3-8442-1797-1

Zuerst auszugsweise veröffentlicht in Akzente 2/2010.

Published at epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Im Text kommen Zitate aus Werken von Franz Kafka, Paul Celan, Ingeborg Bachmann, Hannah Arendt, Rose Ausländer und Robert Gernhardt vor.

Sie sind eigenständig bearbeitet und gelten hiermit als ausgewiesen.

Ähnlichkeiten der Charaktere und Handlungen mit lebenden Personen und wirklichen Ereignissen sind zufällig und haben keinen dokumentarischen Wert.

Für Niemand
(1)

„Ich seh dich,“ sagte es. Das war das Letzte. Es hatte sich hinter die Züge des „eigenen“ Gesichts zurückgezogen. Im Gesicht selbst hatte es keinen Platz mehr.

Das ist eine eigentümliche Sache: Du gewöhnst dir einen Menschen an. Seine Augen zuerst. Die Augen zuerst? Sicher ist das auch nicht.

Die Augen leuchten vielleicht aus einem Gesicht. Oder stecken stumpf darin. Schwimmen. Halten sich sehend hin, damit du sie ansehen kannst. Haben eine Farbe, die einen Namen haben kann.

Anderes dringt tiefer, könntest du denken, manchmal sehr tief.

Im Augenblick, in dem Augenblick, im „ich-seh-dich“ Augenblick, ist das vorbei. Wird noch erinnert – aber ist vorbei.

Das Gesicht bleibt eine Fläche. Schaltfläche? Oberfläche? „Ihr Gesicht ist ja eher flächig.“ So sagte das ein modellierender Make-up-Berater, als das Gesicht noch jung und rund war.

Die wissen das.

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(2)

Traurig siehst du auf das andere Gesicht, das du dir angewöhnt hast. Du kannst nicht mehr in das Gesicht sehen, siehst auf seine Fläche hin. Fühlst deine eigenen Augen.

In den feministischen Büchern steht immer, daß der Mann die Frau als einen Spiegel für sich braucht. Um sich schön gesehen zu finden. Kann man sich das vorstellen?

Viele Muslime verschleiern ihre Frauen. Je weniger sie sich ihren Gott glauben, desto tiefer, so scheint es, müssen ihre Frauen verschleiert sein. Nur eines dieser Kleidungsstücke ist ganz konsequent: die Burka. Sie verschleiert auch die Augen. Wer unter einer Burka sitzt, kann lebend nur noch einen Satz sagen.

„Ich seh dich.“

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(3)

Wie bezaubernd überall die offenen Gesichter der Kinder. Wo ein Kind Glück hat, verschließt es sein Gesicht erst in der Pubertät.

Nie werde ich vergessen wie sie ausgesehen haben, meine eigenen beiden Kinder, in ihren sonst so unterschiedlichen Gesichtern. Wenn etwas das Kind ganz und gar glücklich machte, dann stand ihnen immer der Mund ein bißchen offen, und die Augen, die waren so … das darf man gar nicht beschreiben. So wenig wie die völlig entspannten Lippen.

Das Glück konnte sein, daß zum Luftballon ein Wort gefunden war und nun laut herausgerufen werden mußte: Luffawa! Luffawa!

Das Kind sieht viel mehr, den ganzen Tag. Es bekümmert sich wie es sich freut. Es erhält sich und wirft sich um. Es wohnt in sich und in seinem Gesicht und ein bißchen immer mal wieder auf meinem Leib. Es wohnt überall, fällt nicht heraus. Na, man weiß es nicht. Aber ist es nicht ganz da, noch wenn es in seiner Verzweiflung aus Leibeskräften, wie wir sagen, schreit?

Das glückliche Kind hält den Mund weich.

Der Stoff, aus dem Streit und Kummer sind, ist ein anderer.

„Ich seh dich.“

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(4)

Es ist ganz aus seinem Gesicht herausgefallen. Der Mund spricht noch. Spricht böse, scharf formulierte, sinnlose, klagende, anklagende Worte.

Kalte Worte, beschuldigend und distanzierend.

Was siehst du?

Ich glaube nicht, daß die feministischen Bücher recht haben. Mehr sicher als jene stumpfsinnigen Bücher, aus denen sich die Sprechblasen der fränkischen Familie am Nebentisch in dieser Kneipe, dem Café Prinz an der Hasenheide, bedienen. Aber das mit den Spiegeln stimmt nicht.

Oder will sich etwa der Mann mit dem spiegelblanken Gesicht, der alles glauben und glauben machen will, nur nicht daß du ihn siehst, will der sich denn so wehtun am spiegelglatten Gesicht einer Frau, wie du dir wehtust an seinem Gesicht? Ich kann das nicht glauben.

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(5)

Er war alles für dich. Du warst alles für mich. Ich war alles durch dich. Du sagst, ich war alles für dich. Könntest du eine Geschichte von A-Z durcherzählen, würdest du etwas anderes schreiben. Über Finger vielleicht. Oder darüber, wie alles anfing. Wie alles weiterging. Wie es zusammen, wie es auseinanderging.

Früher sagten wir: Ich gehe mit dir. Gehst du mit mir? Willst du mit mir gehen? Wo gehst du hin? Geht noch was? Wie soll das denn gehen?

Tausend Geschichten hören wir täglich, von A-Z durcherzählt. Am liebsten mit einem Mord. Morde sind uns irgendwie wichtig. Wir sehen uns Morde an, in schnellen Filmen, manchmal in langsamen. Der Mord macht die Handlung, treibt sie an.

Ich sitze hier und kann nicht morden. Ich sehe in dein Gesicht. Ich sehe nun doch, ja, in dein Gesicht. Daß ich es sehe, daß ich dich sehe, das ist alles, was du mir nicht glaubst.

Sonst bist du aber nicht mißtrauisch. Denkst du.

Im Grunde ist das fast lustig. Ragst hier vor mir auf, bis unter die Haarwurzeln verspiegelt.

Zugenäht, wo andere Menschen offen sind.

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(6)

An einem Tag wurde es mir zum ersten Mal leicht, an diese Szene an dem Tisch zurückzudenken. Das war ein guter Tag.

Längst war alles in mein Gesicht zurückgekehrt. Mein Gesicht war schon bekannt geworden. Es lächelte ein wenig scheu, aber offen genug, von einigen wenigen, sehr weit verbreiteten und zugleich wohl verborgenen Bildern.

Mich störte das nicht sonderlich. In gewisser Weise hatte ich es vielleicht sogar darauf angelegt. In anderer Hinsicht hatte es sich einfach ereignet. Ich war die, die unter der Hand sehr vielen Reportern und Journalisten die Themen vorgab. Was ich schrieb, wurde in leicht abgewandelter Form sofort verbreitet. Man hatte eine raffinierte Weise gefunden, aus dem, was man für meine Krankheit hielt, Kapital zu schlagen.

Der Architekt dieser Veranstaltung, die innerhalb weniger Monate zu einem auch für ihn nicht mehr kontrollierbaren Selbstläufer der virtuellen Kommunikation, des institutionalisierten Verrats, der übelsten Abzocke des Medienzeitalters geworden war, hatte es genial erdacht.

Es sollte sein großes Verbrechen sein, ein Verbrechen, dessen Ausmaß eines Dostojewski würdig gewesen wäre. Ein Verbrechen, mit dem er sich den Wunsch erfüllte, den er in einem Werk des Marquis de Sade vorformuliert fand.

Hier war sein Gegenstand.

Er trug meinen Namen.

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(7)

Sie ist so sensibel, hörte ich ihn einmal sagen, das wird uns in die Hände arbeiten. Das wird die Sache richtig katalysieren und beschleunigen. Wir müssen sie merken lassen, was wir mit ihr treiben. Aber niemals ihr einen justiziablen Beweis in die Hand geben. Dann wird es was. Kein Exil wird sie schützen. Nicht heute. Nicht in dieser Welt. Nicht vor uns.

Du willst nicht mittun? Schau hier: Das biete ich dir. Kannst du widerstehen? Widerstehen konnte so gut wie keiner. Zu schön die Gedanken, das Leiden, das allmähliche Versickern der betroffenen Frau, um es nicht in viele hübsche verkäufliche Häppchen zu zerlegen. Zu lockend die Lust, das klammheimliche oder sabbernd offenstehende Vergnügen, eine Frau vom vermeintlich hohen Ross zu holen.

Ich gewöhnte mich daran. Eine Weile spielte ich mit ihnen wie sie mit mir spielten. Manche verbrannten sich. Als sie das merkten, isolierten sie mich. Immer weiter, immer tiefer. So kann man auch tief herankommen an eine Frau.

Die andere Variante hatte mir besser gefallen. Aber du wolltest nicht, daß ich dich dabei sehe. Ich wollte das. Und daß du mich siehst. Ich liebte es, wenn wir uns sahen. Wenn dann jeder sich und den anderen vergaß.

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(8)

Vielleicht habe ich das ganz alleine geträumt. Zum Beispiel, als ich in den Tiergarten ging und hörte, wie in meiner fremden Sprache ein junger Mann ins Telefon schrie: Sie ist verrückt, mach dir keine Sorgen, sie wird sich nicht wehren können, noch ein bißchen, und sie muß in eine Klinik. Da war ich schon lange nicht mehr wirklich zu erschrecken. Aber es hat mir sehr wehgetan.

Die fremde Sprache war doch meine fremde Sprache geworden, und ich hatte gelernt, mich vor ihr zu verneigen, indem ich sie nie vergaß, auch wenn ich sie über Jahre nicht sprach, hörte oder las.

Das bricht dir das Herz. Zu sagen war es niemanden. Es ist niemandem zu sagen, wenn deine Liebe grausam zu dir ist.

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(9)

Als ich dich gesehen habe, hast du alles umgedreht. Aus sanft wurde wild, aus Auge wurde Blindheit, aus zu großer Aufmerksamkeit die Notwendigkeit, mich „abzuschotten.“ So sagten sie es gern zu meiner Zeit. Abschotten. Was soll das schon sein. Aus Zärtlichkeit wurde das schlimmste Übel, und die Zärtlichkeit selbst war nur noch zu bewahren, indem ich ganz allein blieb. Das stimmt schon eher.

Dabei war es schwer, ausgerechnet mich zu isolieren. War ich nicht extrem offen und charmant? Konnte ich nicht jede und jeden in ein heiteres oder geständiges oder schönes Gespräch ziehen, wenn ich wollte? Flog meine Rede nicht eher höher und höher über alles hinaus, was klamm und breit in den Niederungen nistete? War sie nicht so viel luftiger als jene bewehrte Rede, die den Mord braucht, um sich für bedeutsam zu halten?

Es gelang trotzdem, das Isolieren, fast. Ich selbst wollte irgendwann niemanden mehr in ein Gespräch ziehen, nicht ernsthaft. Ich wollte niemanden mehr sehen.

Glückliche Umstände für die Dämonen, Pech für mich. Ich gewöhnte mich auch daran. Du kannst nicht 24 Stunden am Tag leiden. Nicht einmal ich.

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(10)

Fast ein Jahr lang fand ich Trost in der Erinnerung an ein Gesicht, das ich nur wenige Male gesehen hatte. Es war ein altes Gesicht, sehr mager. Der Jüngling, dem es einmal gehört hatte, war ganz in ihm aufgegangen, in es eingefaltet, in ihm zusammengezogen und entfaltet. Es war das schönste Gesicht, das ich je gesehen habe.

Andere haben es so nicht gesehen. Auch ich hatte Zugang zu realistischen Daten. Oder hätte ihn doch haben können. Ich habe das abgelehnt, immer. Es ist mir auch nicht angeboten worden.

Ich wollte mich mit so dummem Zeug wie Wahrheit und Schein, wie Wirklichkeit und Fiktion, wie diesem Durchschauen, nicht befassen. Ich wollte niemandem einen Schlüsselroman bieten und niemanden in den Sog der medialen Verwertung hineinziehen. Ich wollte selbst nicht darin sein.

Die Wahrheit ist nur: Wir sind immer schon drin.

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(11)

Du kannst dann fast nichts mehr sagen. Über niemanden. Nicht in Andeutungen und nicht in Behauptungssätzen. Was kann man denn dem Schweigen noch abhandeln, wenn alles schon eingespeist ist in eine Maschine, die nichts mehr will außer verdauen?

Ich entfernte mich von jeder Wirklichkeit, damit nicht alles in diesen Sog komme. Wer mir lieb war, den würde ich niemals preisgeben. Wen ich preisgeben müßte, wollte ich mir nicht lieb sein lassen. Wenn du aber keinen Schutz hast, sondern nur eine Besitzergemeinschaft, dann kann niemand dich berühren, ohne daß er sich mit deinem Unglück ansteckt. Und du schreist nach Rettung aus dieser Hölle.

Gehst dabei auf der Straße herum mit einem Gesicht. Siehst in andere Gesichter. Wenn einer versucht, dich zu provozieren, lächelst du ihn an. Er sagt etwas, das dir bekannt vorkommen sollte. Du sagst, wie interessant. Vor der Idee, mich dagegen unberührbar zu machen, wollte ich meine Zärtlichkeit retten.

Ich band sie vorsichtig oder unvorsichtig an jenes Gesicht. Der, dessen Gesicht es war, schien nicht ganz in der Maschine zu sein, diese aber bedienen zu können. Ich jedoch fürchtete um ihn, sobald er sich mir zuzuwenden schien.

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(12)

Es war dies das mythische Verbrechen, das mindestens einer, den ich mal „du“ genannt habe, gewollt hat. Und alle machten mit.

Wenn jemand mich sah – kannte er mich immer schon. In der Hauptstadt kannten mich alle. Obwohl ich nie auf irgendeinem Titelbild erschien. Nie. Das war das Wunder.

Ich gewöhnte mich daran, lange. Überlebte, irgendwie, mit den kleinsten Mitteln, die ich, irgendwo, fand. Mit der Liebe zu meinen Kindern. Und mit dem Traum von einem Gesicht, dem ich den Mut zutraute, mich trotz dieser ungeheuerlichen Lage anzusehen. Dem ich den Mut zutraute, von mir angesehen zu werden, ohne sich zu verspiegeln.

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(13)

Der Mythos, der dagegen stand, war gewaltig. Er wurde täglich gewaltiger durch jeden Buchstaben, den, irgendwer, irgendwohin, schrieb. Am gewaltigsten wird so ein Mythos vielleicht gerade da, wo einer wie du sich hinsetzt und den tieferen Sinn des Mythos von der bösen, kalten oder gierigen, in jedem Fall aber berechnenden, im anderen Fall verrückten femme fatale unter Aufnahme und Abweisung der feministischen Literatur dazu bloßlegt.

Noch gewaltiger wird er, wenn dann eine Frau schon fast erlegt und todkrank geworden ist, so daß jeder, der sie zu verteidigen wünscht, selbst nicht mehr nur die Maschine, in der sie gefangen ist, zu fürchten hat, sondern schon ihre eigene Zerstörtheit.

Als ich ein Gesicht aus einem Traum fand, in dem ein Lächeln war – da waren wenigstens meine Träume wieder gesund. Die Maschine aber, die äußerlich und wirksam blieb, wurde nur gewaltiger und schmerzte wieder mehr. Es gibt Menschen, die glauben, Gründe zu haben, dergleichen richtig zu finden.

Ich seh sie. Es sind viele.

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(14)

„Wir werden uns noch wiedersehen.“ Das hörte ich am liebsten in meiner fremden Sprache, am liebsten mit Melodie, am liebsten gesungen von Menschen, die eigentlich nicht singen können. Nur in einer Sprache ist es der schönste Satz, den ich hören könnte.

Ich lebe in der tiefsten Erstarrung, solange ich denken muß, daß ich ihn niemals in dieser Sprache und niemals von einer geliebten Stimme gesprochen hören werde.

Natürlich kann ich mir eine CD kaufen und es da auf genau so eine Weise gesungen hören. Natürlich ist alle weitere Phantasie kindisch, durchschaubar, durchschaut und verhöhnt, von mir selbst, schon vor vielen Jahren, und unerträglich. Schon die CD würde ich niemals kaufen.

Aber was wäre eigentlich der Schaden, wenn nach all diesen Urteilen und strikt an ihnen vorbei und immer nur um so einen Satz herum und weit ab von allem Festlegbaren es doch noch ein Wiedersehen geben könnte?

So habe ich lange gefragt. Verachtet jeden, der sagt, du mußt es aufgeben, dann bekommst du es. Ich würde noch heute viel zu sagen haben, wenn jemand mir so käme. Verachtung freilich ist etwas anderes. Wenigstens den Menschen würde ich versuchen, nicht zu verachten.

Aber ist schon der Wunsch, jemanden, der das Falsche zu seiner Sache macht, zu ohrfeigen, unter allen Umständen Verachtung?

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(15)

Es gibt da, wo ich lebe, nur zwei Sprachen, die tief erschrocken ineinander verkeilt sind. Es gibt eine dritte, die man mehr lieben soll, als man es tut, wenn man sie täglich mißbraucht. Man soll sie auch mehr lieben, als man es tut, wenn man sie täglich gegen den Mißbrauch in Schutz nimmt. Man soll sie mehr lieben als man es tut, wenn man täglich versucht, ihren Einfall in unsere kleinen Sprachen abzuwehren.

Man soll die Vermittler ehren, solange sie sich kenntlich machen und ihre eigenen Grenzen kennen.

Irgendwann sagte mal einer: Aus dem Schrecken ist Schönes entstanden. Um das glauben zu können, hätte ich ein Gesicht gebraucht. Als ich es gefunden hatte, war ich tief getröstet. Ebenso tief erschrocken. Was sieht sie in ihm, hörte ich jemanden fragen. Jemanden von denen, die alles immer schon wissen.

Ich hätte mich umdrehen sollen, um zu antworten: Es verschlägt dir das Sehen. Du weinst doch die ganze Zeit, wegen der Schönheit.

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(16)

Lange bevor mir die Liebe und ihr Ende alles aus dem Gesicht sinken ließen, hatte ich schon verstanden, was das Unglück ist. Es gibt Unglück. Der Satz ließ sich lernen. Auch das war nicht leicht, auch das war zu lernen an einem Gesicht und am eigenen Leib. Am eigenen Leib sowieso, immer am eigenen Leib.

Der Rest ist Unsinn. Also jener Rest, der nicht der von allen tollen Philosophen beschworene gute Rest ist, sondern das, was sich dem Satz „Es gibt Unglück“ in den Weg stellt. Das ist Unsinn, immer. Der tolle Mensch mit seiner tollen Philosophie, der macht diesen Unsinn. Oder er erweist sich den anderen als toll, indem er den Satz „Es gibt Unglück“ ausspricht. Der letzte Mensch ist der, der Unsinn anhäuft, um den Satz zu vermeiden.

Es ist natürlich viel. Es sind viele, die viel Unsinn anhäufen müssen gegen die Wahrheit des Satzes „Es gibt Unglück.“ Vielleicht wollen wir nichts so sehr wie diesen Satz unter allen Umständen und mit allen Mitteln vermeiden. Vielleicht machen wir darum uns selbst und andere unglücklich, weil wir vermeiden wollen zu denken und zu wissen, daß es Unglück gibt.

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(17)

Und wenn du es verstanden hast, stehst du da, mit nichts. Das ist dann dein Gesicht. Dann ist alles wieder in deinem Gesicht, und plötzlich kannst du Augen sehen, die in einem neuen Gesicht sind, und kannst hoffen, daß sie sehend sich den deinen hinhalten, damit deine Augen sie sehen.

Kannst wünschen, noch einmal, daß dir erlaubt sein möge, dir diese anderen Augen anzugewöhnen, ohne daß eine Verspiegelung bis an die Haarwurzeln die Antwort wäre.

„Du bist schuld,“ höre ich da. Du beklagst das Spiegeln? Du hast es selbst gemacht.

Das ist nicht wahr. Du kannst „es gibt Unglück“ nicht sagen, ohne zu denken: es gibt Unrecht. Vielleicht möchten wir diesen Gedanken immer lieber vermeiden. Denn wer Unrecht erleidet, wird darüber sehr häßlich. Selig sind, die da Leid tragen. Das hätten wir gern. Denn sie sind unselig, und das ertragen wir nicht.

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(18)

Den Augenblick, in dem alles aus dem Gesicht gefallen ist, kann ich doch nicht vergessen. Es war wohl etwas wie ein synchroner Sturz. Sitzt am Tisch und siehst in ein Gesicht, das schön ist, in jeder Linie, in jeder Schwingung, in jeder Bewegung.

In großen Menschenmengen würdest du es herausfinden aus allen anderen, obwohl dir die Augen für die Ferne nicht gemacht sind, und in nächster Nähe ist es dir lange das liebste gewesen, das du dir vorstellen konntest.

Nun ist es etwas wie die verspiegelte Fassade eines Hochhauses. Totalverglast. Das bist du nur selbst, sagt er. Du siehst mich nur so. Schau, ich bin ganz anders. Lieb und schlicht. Du aber...

Und dann setzt die Maschine auf deiner Haut auf und ritzt dir die Geschichte in die Haut, die sein Unglück ist, sein Unglück, das er nicht als seines haben will. Du kannst jede beliebige Geschichte einsetzen, jedes beliebige Unglück, so wie du aus jedem beliebigen Gesicht, meinem, seinem und deinem, machen kannst, was du willst.

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