Wunder wird es hier keine geben

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Wunder wird es hier keine geben
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Goran Ferčec

Wunder
wird es hier
keine geben

Roman

Aus dem Kroatischen übersetzt

von Mascha Dabić


Die Herausgabe dieses Werks wurde gefördert durch TRADUKI, ein literarisches Netzwerk, dem das Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten der Republik Österreich, das Auswärtige Amt der Bundesrepublik Deutschland, die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia, die Interessengemeinschaft Übersetzerinnen Übersetzer (Literaturhaus Wien) im Auftrag des Bundesministeriums für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport der Republik Österreich, das Goethe-Institut, die S. Fischer Stiftung, die Slowenische Buchagentur, das Ministerium für Kultur und Medien der Republik Kroatien, das Ressort Kultur der Regierung des Fürstentums Liechtenstein, die Kulturstiftung Liechtenstein, das Ministerium für Kultur der Republik Albanien, das Ministerium für Kultur und Information der Republik Serbien, das Ministerium für Kultur Rumäniens, das Ministerium für Kultur von Montenegro, die Leipziger Buchmesse, das Ministerium für Kultur der Republik Nordmazedonien und das Ministerium für Kultur der Republik Bulgarien angehören.


Die Originalausgabe ist 2011 unter dem Titel »Ovdje neće biti čuda« im Verlag Fraktura, Zagreb, erschienen.

© 2021 Residenz Verlag GmbH

Salzburg – Wien

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

www.residenzverlag.at

Alle Rechte, insbesondere das des auszugsweisen Abdrucks und das der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Boutiquebrutal.com

unter Verwendung einer Zeichnung von Siniša Ilić

Lektorat: Jessica Beer

ISBN Print 978 3 7017 1740 8

eISBN eBook 978 3 7017 4653 8

Alle machten Lärm; aber dann passierte etwas, das niemand erwartet hatte.

F. M. Dostojewski: Die Dämonen

Da hatte er sich das eine gemeinproletarische Haus ausgedacht, anstelle der alten Stadt, wo auch heute die Menschen noch hof- und zaunweise lebten. In einem Jahr wird die ganze örtliche Klasse des Proletariats die Kleinbezirksstadt verlassen und fürs Leben das monumentale neue Haus beziehen.

Andrej Platonow: Die Baugrube

Mein Vater hatte einen Sohn, in den große Hoffnungen gesetzt wurden. Für solch große Hoffnungen ist eine kleine Sorge nicht genug. Und lasst uns nicht in unserer Enttäuschung auf tragische Weise unglücklich werden. Das ist es nicht wert.

Knut Hamsun: Auf überwachsenen Pfaden

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

1

Bender denkt, er könnte alles, was passieren wird, auch falsch verstehen. Dann klingelt es. Bender macht ein paar Schritte, geht zur Tür und öffnet sie. Vor der Tür sieht er niemanden. Er steckt den Kopf durch die Tür und sucht mit Blicken den Flur ab. Die Lifttür schließt lautlos. Jemand ist in den Lift gestiegen. Bender macht einen Schritt aus der Wohnung. Der Mechanismus von Gewichten und Hebeln zieht einen Unbekannten hinunter. Bender spürt das Unbehagen einer Situation, in der die Positionen noch nicht klar definiert sind. Er bleibt vor der offenen Wohnungstür stehen und horcht auf Schritte, Stimmen und Geräusche, in denen er ein Zeichen zu finden hofft, dass all das hier auch ohne ihn so passieren würde. Er kann kein Zeichen finden, das ihn davon überzeugen könnte. Alles Weitere hängt nur von seiner Entscheidung ab. Wenn er in die Wohnung zurückgeht und die Tür hinter sich zumacht, wird der verfallene Flur, in dem der Stuck bröckelt, wieder leer und frei von Zeugen sein. Statt in die Wohnung zurückzukehren und die Situation zu beenden, schiebt Bender mit dem Fuß ein farbiges Flugblatt beiseite und rennt die Treppe hinunter, wobei er immer wieder mehrere Stufen überspringt. Mit der linken Hand hält er sich am Geländer fest, während er mit dem rechten Arm sein Gleichgewicht aufrechthält. Seine Absicht ist es, schneller als der Lift zu sein. Obwohl die Vertikale dafür sorgt, dass der Lift einen kürzeren Weg hat als der Mensch, ist Bender überzeugt, dass er noch vor dem Lift im Erdgeschoß ankommen wird. Bis zum dritten Stock sind es sieben Treppenläufe. Als er unten im Erdgeschoß ankommt, hat er das Gefühl, es waren weniger. Der Lift hält. Bender atmet ein. Die Spannung, in die er seinen eigenen Körper gebracht hat, erreicht einen Höhepunkt, als die Lifttür aufgeht und sich herausstellt, dass da niemand ist. Bender schaut auf sein Spiegelbild im Lift und springt hinein, eine Sekunde bevor die Tür wieder zugeht. Er drückt auf Nummer drei. Als sich die Lifttür wieder öffnet, befindet sich Bender in der Position, von der aus er gestartet ist. Er steigt aus dem Lift und steht vor seiner offenen Wohnungstür. Er könnte schwören, er hat die Tür zugemacht, bevor er sich auf die Jagd nach dem Unbekannten begeben hat. Er ertastet seinen Schlüssel in der Hosentasche. Mit der Hand stößt er die Tür weiter auf und betritt seine Wohnung. Alles sieht genauso aus wie vor ein paar Minuten. Zuerst schaut er hinter die Tür, in der Hoffnung, dass die Gefahr schon dort auf ihn warten wird. Hinter der Tür ist niemand. Er geht weiter durch die Wohnung wie durch eine soeben entdeckte Kolonie, die vom weißen Mann bedroht ist. Er überprüft jedes einzelne Zimmer, und bevor er beschließt, das Spiel zu beenden, ruft er mehrmals HALLO. Das Ausbleiben einer Antwort ermutigt ihn. Er geht zur Eingangstür und schließt sie, zieht sich die Schuhe aus und geht barfuß weiter. Seine Fußsohlen hinterlassen feuchte Flecken auf dem Boden und begleiten ihn bis in die Küche. Bender setzt sich an den Tisch. Die Küche ist voll von diffusen Stimmen, die durch das offene Fenster hereinkommen. Die Geräuschkulisse breitet sich in Wellen aus und trägt all das weg, was er bis jetzt für eine nicht zu hinterfragende Wahrheit gehalten hat. Aus der Küche ins Vorzimmer, aus dem Vorzimmer ins Zimmer, aus dem Zimmer wieder ins Vorzimmer, Wellen von Kinderstimmen, Hundegebell, Stimmen aus dem Radio, weinende Frauen, Geschirr, Schritte. Erneut hört er Schritte vor der Tür. Diesmal wartet er nicht, bis die Türglocke ihm wieder eine Überraschung bereitet, sondern steht auf und geht zur Wohnungstür. Von all dem, was fortgeschwemmt wurde, sind nur noch die Schritte im Stiegenhaus übriggeblieben. Diese Hartnäckigkeit bringt Bender zu der Überzeugung, dass es dieselben Schritte wie vorhin sein müssen, nur dass er sie zuvor nicht erwartet hat, während er jetzt bereit ist, sich mit ihnen zu konfrontieren. Eine metallische Männerstimme ertönt aus dem Lautsprecher des Radios in der Wohnung über Bender, fällt durch das offene Küchenfenster herein und bestimmt die exakte Stunde, Minute und Sekunde. Die genaue Uhrzeit holt Bender im Vorzimmer ein und bringt seine Absicht, sich unauffällig zu verhalten, ins Wanken. Bender hält mitten in einer Bewegung inne und wartet, dass die Stimme im Radio verstummt. Die Stimme des Radiosprechers ist jedoch weiterhin zu hören, das macht Benders Entschluss zur Konfrontation zunichte, und schließlich verkündet die gleiche Stimme eine Direktübertragung. Nach der Pause, die nötig ist, um die Übertragung technisch zu bewerkstelligen, wird die ganze Wohnung von einem liturgischen Gesang überschwemmt. Das Gebet bricht sich an den Wänden der Kathedrale und schießt wie ein Schrapnell in die Wände der Wohnung. Bender fragt sich, ob das Gebet, das aus dem Radio dringt, einen Zustand des erhöhten Risikos anzeigt. Er hält inne und wartet ab, ob aus dem Lautsprecher eine Explosion ertönt, aber nichts passiert. Der liturgische Gesang setzt sich fort und lässt Benders Schritte feierlich aussehen. Durch den Türspion sieht er einen Mann, der dasitzt, mit dem Rücken gegen die Tür der Nachbarwohnung gelehnt, und eine Zigarette raucht. Auf der Türschwelle der Wohnung hat der Mann eine kleine Decke zusammengerollt und sich daraus einen Sitz gebastelt, daneben hat er einen Aschenbecher hingestellt. Bender hat diesen Mann noch nie an der Türschwelle sitzen und rauchen gesehen. Das sieht er zum ersten Mal. Das Haar des Mannes ist schwarz, seine Haut ist von einer bräunlichen Farbnuance, die man nur einer anderen Rasse zuordnen kann. Bender hat den Mann schon mehrmals im Treppenhaus und im Lift getroffen. Zuerst gingen sie wortlos aneinander vorbei. Später begannen sie, einander zu grüßen, und dann trafen sie sich längere Zeit nicht mehr. Bender war zu dem Schluss gelangt, dass der türkische Nachbar weggezogen war. Sollte er nun Bender doch wieder grüßen, müssten sie sich verschämt und stolpernd in einer Sprache unterhalten, die niemals die ihre sein würde. Nur im wiederholten Stolpern kann die Kommunikation einen Sinn erhalten. Man müsste wieder neu anfangen. Ihn wieder fragen, wie er heißt. Jede weitere Frage würde durch die vorige gerechtfertigt sein. Wer hat die Türklingel betätigt? Für diese Frage müsste man das Terrain vorbereiten. Der Mann bläst Rauch aus, den die Zugluft durch die Risse in Benders Tür in seine Wohnung hereinweht. Bender versucht, unbemerkt zu bleiben, aber er drückt unvorsichtig mit den Händen gegen die Tür. Das Schloss widersetzt sich Benders Gewicht und klickt. Bender spürt, er ist nun aufgeflogen. Der Türke hebt den Kopf und schaut zuerst auf Benders Wohnungstür, dann richtet er seinen Blick auf den Türspion. Bender denkt, eine so subtile Reaktion auf eine kaum merkliche Veränderung muss entweder mit dem Beruf eines Menschen oder mit seiner Volkszugehörigkeit zusammenhängen. Das Gesicht des Mannes ist dunkler, als Bender es in Erinnerung hatte. Das Haar über der Stirn ist schütter geworden. Der Mann atmet den Zigarettenrauch tief ein und in kurzen Stößen aus. Bender betrachtet ihn durch den Türspion und ist sich bewusst, dass der Türke das weiß. Der Türke, der an seine Position als Fremdkörper gewöhnt ist, gibt sein Einverständnis dazu, beobachtet zu werden. Bender hält seine Position des Unsichtbaren aufrecht, eingedenk der Tatsache, dass die geschlossene Tür ihn schützt. Der Türke steht auf, nähert sich Benders Tür und buchstabiert den Nachnamen auf dem Türschild. Bender sieht, wie die Lippen des Mannes sich bewegen und jeden einzelnen Laut formen. Der Türke legt den Kopf schief, als könnte ihm ein veränderter Blickwinkel aufzeigen, was der Name an der Tür bedeutet. Dann nähert er sich dem Guckloch noch mehr und schaut tief in Benders Iris hinein. Bender bleibt reglos stehen. Der Türke entfernt sich von der Tür und buchstabiert den Namen noch einmal. Eigentlich würde Bender am liebsten die Tür aufmachen und sagen, dass er das nicht ist, dass in seinem Fall der Name an der Tür nicht denjenigen bezeichnet, der mit einem Türschild üblicherweise bezeichnet wird. Wenn er könnte, würde er die Tür aufmachen und mit der Hand auf das Türschild mit dem Nachnamen zeigen und dann mehrmals sagen, er sei nicht derjenige. Das bin nicht ich. Der weiße Körper der Zigarette nähert sich seinem Ende, der Filter ist schon nah, es ist wenig Zeit geblieben. Einen Augenblick, bevor Bender endgültig beschließt, die Tür aufzumachen, lacht der Türke in seinen Bart hinein und drückt die zu Ende gebrannte Zigarette an dem Glas des Türspions aus. Diese unerwartete Geste lässt Bender in die Wirklichkeit zurückkehren, etwas, was ihm bis zu diesem Augenblick gefehlt hatte. Der Türke entfernt sich von der Tür und wirft die Kippe durch das offene Fenster. Bender glaubt zu hören, wie der Filter auf die Metalloberfläche des Vordachs fällt, abprallt und schließlich auf dem Asphaltboden des Innenhofs landet. Das, was soeben passiert ist, fasst Bender als Rache für etwas auf, das sie beide schon vergessen haben. Die Schultern des Türken entfernen sich aus dem Sichtfeld des Gucklochs und verschwinden hinter der Tür der Nachbarwohnung. Ruhe kehrt ein. Bender bleibt noch eine Zeitlang erwartungsvoll stehen, dann kommt ihm ein Gedanke, der ihn wie ein plötzlicher Schlag von der Tür wegstößt. Bender wiederholt den Gedanken. Er führt mehrere Variationen zu dem Thema aus, wobei er den Satz seinem Sinn anzupassen versucht, dann reißt sich die ganze Konstruktion von allen anderen Sätzen los und erklingt in ihrer Unausgesprochenheit wie eine Drohung. So soll man nicht denken. Bender richtet seine Gedanken auf etwas anderes. Er dreht den Schlüssel im Schloss um, bis die Tür versperrt ist, und diese Geste erscheint ihm komisch. Dann bringt er den Schlüssel wieder zurück in die Position, in der die Tür nicht versperrt ist, und entfernt sich, wobei er die Beschreibung dessen, was passiert ist, so wiederholt, als würde er etwas beschreiben, von dem er nicht ganz überzeugt ist oder für das er keine stichhaltigen Beweise liefern kann. Bender kehrt in die Küche zurück. In seinem Kopf stellt er eine Erklärung zusammen. In den letzten Tagen hat eine unbekannte Person gehäuft auf die Türklingel neben der Tür 3a gedrückt, wobei der Bewohner, wenn er die Tür aufmachte, niemanden vorfand. Obwohl der Bewohner selbst ein Migrant ist, schöpft er den Verdacht, dass Migrantenkinder sich einen Spaß mit ihm erlauben, aber für diesen Verdacht hat er keinerlei Beweise, also ist es unmöglich, den genannten Subjekten die volle Verantwortung zuzuschreiben. Die genannten Subjekte gehen den ganzen Tag lang die Straße auf und ab und suchen einen Platz, um Unfug zu treiben, oder aber sie sitzen auf der niedrigen Mauer, die den Park umgibt, und rauchen. Der Bewohner der Wohnung 3a schaut ihnen manchmal vom Fenster zu. Der Bewohner der Wohnung 3a beschreibt das besagte Klingeln an seiner Tür als eine Unannehmlichkeit, aber nicht mehr als das. Er fühlt sich weder unsicher, noch hat er das Gefühl, dass ihm irgendjemand vermitteln will, er sei nicht willkommen. Man hat ihm gesagt, hier sei Platz für jeden. In seinem Kopf setzt er eine völlig unleserliche Unterschrift unter das imaginäre Protokoll. Er spürt Übelkeit. Die Übelkeit ist die Folge seiner schlechten Angewohnheit, jeden Morgen eine große Menge Kaffee auf nüchternen Magen zu trinken. Alles, was er später in den Mund nimmt, führt dazu, dass das schwarze Loch mitten in seinem Magen nur größer wird. Das Loch ist größer als der Magen und droht, größer als der gesamte Körper zu werden. Er ist überzeugt, dieses Loch unter Kontrolle zu haben, obwohl das Loch so angeboren ist wie Augenfarbe oder Kahlköpfigkeit. Es gibt Methoden, um die Übelkeit erträglich zu machen. Manchmal hilft ein Glas Wasser, manchmal hilft gar nichts. Heute wird vermutlich nichts helfen. Er ist viel zu schnell die Treppe hinuntergelaufen. Häufig überschätzt er seine Möglichkeiten. Das liegt an der Resignation, die sich wiederum aus seinem Unterlegenheitsgefühl ableitet. Er wird seine Symptome ignorieren, um sich Spaghetti mit Sauce Bolognese zubereiten zu können. Der größte Topf ist für die Spaghetti, der etwas kleinere für die Sauce. Alles ist schon halb fertig. Jedes Mal, wenn er ein Glas mit der fertigen Sauce in die Hand nimmt, macht ihn die Größe der Packung wütend. In der Ökonomie des Handels existieren Alleinstehende nicht als Zielgruppe. Ihre Bedürfnisse werden in die Bedürfnisse von mindestens zwei oder höchstens vier Personen eingerechnet. Bender schließt daraus, dass die Gesellschaft zu langsam ist, öffnet das Glas und schüttet die Hälfte des Inhalts in den Metalltopf. Er wird nicht überleben, wenn er nicht lernt zu improvisieren. Die Improvisation dauert weniger als eine Viertelstunde. Die Zeit, die in die Zubereitung der Mahlzeit investiert wurde, ist nicht proportional zu dem, was serviert wird. Das Produkt ist immer besser als die Menge der investierten Zeit. Er setzt sich mit dem Rücken zum Fenster und beginnt zu essen. Außer dem, was auf seinem Teller ist, hat nichts einen eigenen Geruch. Obwohl Bender schon seit Jahren allein lebt, isst er nicht wie ein Schwein, er benützt noch immer Löffel, Gabel und Messer, noch immer isst er nicht vom Boden. Allerdings isst er manchmal gar nicht. Kaum hat er zu essen begonnen, hört er wieder Schritte im Stiegenhaus. Er beschließt, dass das Schritte sind, vor denen man am besten weglaufen sollte, fährt aber dennoch fort mit dem, was er gerade tut, schiebt sich das Essen in den Mund, kaut und schluckt. Er dreht den Kopf und horcht. Die Schritte verraten nichts über die Person, die die Treppen hinaufsteigt. Weder ihr Alter noch ihr Geschlecht, noch ihr Gewicht. Das Einzige, was die Schritte verraten, ist, dass derjenige, der hinaufsteigt, seine Schritte absichtlich verlangsamt, je näher er Benders Wohnungstür kommt. Das ruft Nervosität hervor. Bender schaut sich um. Seine Wohnung könnte einen nicht angekündigten Besucher empfangen. Die Putzfrau war erst gestern da. Die Farbeimer müsste man in den Keller bringen. Das Flügelgeflatter der Tauben, die sich auf dem Balkon paaren, übertönt die Schritte, aber als die Tauben sich wieder beruhigen, sind die Schritte nicht mehr zu hören. Bender fällt ein, dass er ja jederzeit so tun könnte, als wäre er nicht da. Den Atem anhalten und an der Stelle, wo der Parkettboden am wenigsten knarrt, stillhalten. Bender entspannt seinen Körper und entlässt die Luft aus der Lunge, aber er tut es zu früh. Der Angriff erfolgt aus beiden Richtungen gleichzeitig. Die Türklingel ertönt im selben Augenblick wie das Läuten des Telefons. Bender geht zur Tür und ignoriert das Läuten, aber dann dreht er doch um und geht zum Telefon. Er wischt sich mit der Hand über den Mund, bevor er den Hörer abhebt. Sein abgewischter Mund grüßt ins Leere. Auf der anderen Seite ist Stille. Bender fordert die Stille mehrmals heraus, bekommt jedoch keine Antwort. Er ist zu alt, um an einen Zufall zu glauben. Er legt den Hörer auf, die Schritte im Flur setzen sich wieder in Bewegung und steigen weiter hinauf, zu den höheren Stockwerken. Bender akzeptiert die Schritte wie ein unvermeidliches Echo eines Lebens, das sich parallel zu seinem abspielt, und kehrt in die Küche zurück.

 

2

Er schlief und träumte in Farben. Der Traum duftete nach zerbröselter Erde und Angst. Im Traum trägt er einen Pyjama, er ist einer sommerlichen Nachmittagshitze ausgeliefert, er sitzt im hinteren Teil eines offenen Militär-Jeeps, neben ihm zwei Typen in Uniform. Sie bringen ihn irgendwohin, er kann die Landschaft nicht erkennen. Die Männer haben ihm nichts gesagt, er weiß gar nicht, wie er hier gelandet ist. Er denkt, das könnte ein schmerzloses Ende seiner Reise sein. Die untergehende Sonne brennt auf seinen Rücken. Er muss weglaufen, aber die Wächter halten ihn fest. Sie führen ihn ins Unbekannte. Er ist überzeugt, dass er nicht viel tun kann, um sich zu retten, aber der Traum ist auf seiner Seite, und so muss einer von den beiden Typen, der rechte, seine Blase entleeren. Das Fahrzeug hält an. Das ist die Gelegenheit, die er ausnützen muss. Er schlägt dem linken, tollpatschigeren Wächter auf den Kopf, mit einer Kraft, die nur in Träumen existiert. Der Wächter fällt tot um. Er selbst läuft in ein weiches Gestrüpp, das am Straßenrand wächst, und fällt hin, dann rollt er über die Blätter wie über Wasser. Er lacht, weil genug Licht da ist, dass er seine Hände sehen kann, und wenn es Licht gibt, dann ist auch die Rettung nah. Er springt auf, läuft auf die leere Straße hinaus, schnurstracks den beiden Männern, vor denen er davongelaufen ist, in die Arme. Der rechte, der seine Blase entleert hat, fasst ihn am rechten Unterarm, der linke, lebendig und unverletzt, am linken. Sie zwingen ihn, wieder in den Jeep einzusteigen, und fahren weiter. Er wendet sich an sie und sagt, er glaube, vor ihnen sei schon jemand auf diesem Weg gegangen. Die beiden schweigen zunächst, dann unterhalten sie sich miteinander in einer Sprache, die er erkennt, jedoch nicht versteht. Die stumpfen Sätze, die er aufschnappt, während der Wind in seinen Ohren rauscht, lassen ihn schlussfolgern, dass die Männer ihn an den Ort seines Anfangs führen. Ganz leise, wie ein Kind, das sich mit Unterwürfigkeit Schokolade erschleichen möchte, beginnt er zu bitten, sie mögen ihn freilassen. Und sie lassen ihn frei. Er steht auf der Straße, schaut zu, wie der Jeep weiterfährt, und sieht sich selbst, wie er zwischen den beiden Typen sitzt. Ein anderes Ich. Er dreht sich um, um dorthin zu gehen, wo er herkommt. Er sieht riesige Buchstaben auf einer Werbefläche, durch die die Sonne scheint. Im Kopf reiht er einen Buchstaben an den anderen. AIVALSOGUY. Er steht auf der falschen Seite. Man hat ihn zurückgebracht. Dann wacht er auf. Es ist schon wieder passiert. Es beginnt in den Fingerspitzen und steigt allmählich hinauf in die Schultern. Eine Lähmung, wie wenn man die eigenen Glieder vernachlässigt und die halbe Nacht mit den Armen unter dem Oberkörper geschlafen hat. Er hat es schon vergessen und gedacht, es würde nicht wieder vorkommen. Seiner eigenen Erfahrung nach wiederholt sich jeder Zustand und dauert eine bestimmte Zeit lang. Jetzt ist es wieder soweit. Beim ersten Mal hat er Angst verspürt. Jetzt ist es ihm egal. Er ist wütend auf die Fähigkeit seines Körpers, Signale zu wiederholen, die unzweideutig darauf hinweisen, dass das, was war, jetzt nicht mehr ist. Wenn etwas verschwindet, dann sollte es nicht mehr sein. Sein Körper signalisiert, dass die Häufigkeit eines Symptoms nichts mit seinem geistigen Willen zu tun hat. Er versucht, seinen Körper zu drehen, als gäbe es keine Kraft, die ihn festhält, an das Bett drückt. Er liegt auf dem Bauch, die Beine gespreizt, den Kopf zur Seite gedreht. Das Bett übernimmt seine Körperwärme. Er würde sich gerne von der Bettoberfläche abstoßen und auf den Füßen landen, so geschickt, als lenkte der Wille eines unsichtbaren Puppenspielers seinen Körper, als wären seine Hand- und Fußgelenke mit dünnen, unsichtbaren Fäden irgendwo befestigt. Das würde bestätigen, dass der Verzicht auf den eigenen Willen endlich Früchte getragen hat. In der Tat gibt es weniger Willensstärke in seinem Geist, und auch sein Körper ist träger als noch vor fünf oder zehn Jahren. Daraus folgert er, dass das gesamte philosophische Denken des Westens zwar gute Gründe hat, das eine mit dem anderen verbinden zu wollen, aber er selbst weiß davon nicht mehr als das, was er bislang aus seinem eigenen gespaltenen Wesen erfahren hat. Mit der linken Hand versucht er, die Finger der rechten Hand aufzuwärmen. Die Angst hat ihn dazu getrieben, sich zu berühren. Sonst würde er das nicht tun. Er vermeidet es tunlichst, seine eigenen Hände zufällig zu berühren. Er meidet Momente, in denen der Körper sich mit sich selbst beschäftigt und sich in seiner Selbstgenügsamkeit zeigt. Immer schon erschauerte er davor, wie einfach es ist, mit der Hand sein eigenes Knie zu umfassen und zu massieren, oder davor, wie schnell seine Hände in der Lage sind, die Finger miteinander zu verflechten, ein perfektes Fischgrätenmuster zu bilden und damit Wärme zu speichern. Es fällt ihm schwer, die Symmetrie des menschlichen Körpers zu ertragen. Des eigenen langweiligen Körpers. Eines langweiligen Körpers, der seinen eigenen Willen durchsetzen will. Er bewegt seine Finger, als würde er einen unsichtbaren Gummiball kneten, und streckt seine Hand wie zum Protest in die Luft. Die Nervosität lässt seinen Hinterkopf brennen. Er hat den Nachmittag verschlafen. Er hebt seinen Oberkörper an und setzt die Füße auf dem Boden ab. Es ist am sichersten, die Stunden, die unmittelbar auf den Schlaf folgen, am Bettrand zu beginnen. Durch das Doppelfenster mit Betonrahmen dringt das Nachmittagslicht, dermaßen verdünnt, dass man sich am Geiz dieses Lichts gar nicht sattsehen kann. Das äußere Glas, überzogen von der Gravur, die das inzwischen getrocknete Regenwasser hinterlassen hat, sieht aus wie ein kleines Kirchenfenster für den Hausgebrauch, für einen einzigen Gläubigen. Wenn er lange genug das Glas betrachtet, dann sieht jeder zufällige Fleck irgendwann wie eine Erscheinung Gottes aus. Vielleicht fehlt Gott ein Auge. Vielleicht fehlt ihm ein Finger, aber wenn Gott den Menschen nach seinem eigenen Bild geschaffen hat, dann kann der Mensch das Antlitz Gottes auch seinem eigenen Ebenbild anpassen. Bender hebt seinen Hintern vom Bett, um einen Furz zu befreien. Die Abenddämmerung bricht allmählich herein. Er steht auf. Das Gleichgewicht im Kopf verliert sein Verhältnis zur Welt und löst eine übermäßige Ansammlung von Spucke im Mund aus. Die Spucke schmiert die Speiseröhre, um das Essen leichter aus dem Magen zurückzutransportieren. Die Säure schießt in seinen Kopf, und Bender rast zur Toilette. Mit geschlossenen Augen speit er das Essen aus und spürt den Geruch der Säure. Er öffnet die Augen. In der Toilette ist es dunkel. Er drückt auf den Schalter. Das monotone Vibrieren des Ventilators setzt sich in Gang, und im Licht von fünfundvierzig Watt erwacht ein Fleck zum Leben, der aussieht wie die Spaghetti auf dem Bild I LOVE YOU WITH MY FORD von James Rosenquist aus dem Jahr neunzehnhunderteinundsechzig. Bender hat vergessen, den Klodeckel hochzuheben. Rosenquists Bild ist horizontal geteilt und zeigt drei ganz unterschiedliche Motive, aber während Bender über dem eigenen Erbrochenen steht, kann er sich nicht erinnern, was in der oberen Hälfte von Rosenquists Werk zu sehen ist. Das Einzige, woran er sich erinnern kann, sind die leuchtenden Spaghetti in roter Sauce in der unteren Hälfte des Bilds. Spaghetti, die einigermaßen lebendig aussehen, so wie die Spaghetti, die er in diesem Moment sieht. Irgendetwas von alldem muss doch eine Bedeutung haben, entweder Rosenquists Illusion oder diese Realität hier. Der Fußboden im Vorzimmer ist kalt. Auf Zehenspitzen geht er ins Bad. Er hebt den Kopf und schaut in den Spiegel. Die getrocknete Spur des verdauten Essens auf seiner Oberlippe lässt ihn für einen Moment an eine Hasenschnauze denken. Er dreht das Wasser auf und wäscht sich mit den Fingern das Essen aus dem Gesicht. Er schaut noch einmal hin. Unter dem Waschbecken zieht er einen Putzlappen hervor. Dann nimmt er einen gelben Eimer, füllt Wasser ein und geht zurück zur Toilette. An der Tür bleibt er stehen. Sein Mund füllt sich mit Spucke. Der Ekel im Mund ruft die gleiche Reaktion hervor wie Hunger. Wenn er es nicht schafft, an etwas anderes zu denken, wird er sich noch einmal übergeben müssen. Während er mit dem Putzlappen die ausgespienen Essensreste einsammelt, fällt ihm wieder ein, was in der oberen Hälfte von Rosenquists Bild zu sehen ist. Ganz oben die Vorderansicht eines Ford-Modells aus den Sechzigern, darunter die Seitenansicht eines Frauenkopfs im Zustand der melancholischen Geistesabwesenheit. Er übertreibt. Die Sechziger ertragen nur das Konkrete. Nur das Buchstäbliche. Das Frauenprofil auf dem Bild liebt seinen Ford, und das Unbewusste beschwört Spaghetti herauf. Der Putzlappen hat eine hohe Saugkraft. In nur zwei Zügen gelingt es Bender, die gesamte Unordnung, die er angerichtet hat, wieder einzusammeln. Im Wasser aufgelöst, verströmt die Unordnung keinen Geruch mehr. Das Wasser neutralisiert sowohl die Gerüche als auch die Inhalte. Die substanzlose Mischung im Eimer ist bloß Wasser mit den Resten von etwas, das aussieht, als würde es von einem Menschen stammen. Durchsichtig und namenlos. Vielleicht ein wenig salzig. Konkretisieren lässt es sich nur durch eine unendlich lange Beschreibung oder durch dreistündiges Kochen. Wie Knochen. Aber warum sollte man sich abmühen für etwas, das ohnehin in der nächsten Sekunde in der Klomuschel enden wird? Er hebt den Eimer vom Boden, vermischt den Inhalt durch Kreisbewegungen und schüttet alles in die Klomuschel. Er betätigt die Spülung und lässt dreizehn Liter Wasser hinunter, wodurch die restlichen Bilder aus dem Traum ebenfalls hinuntergespült werden. In zehn Sekunden werden die Überreste des Traums schon im Untergrund sein. Er erinnert sich an den Traum. Was sagt ihm der Traum über das Leben? Nichts. Er bringt den Eimer zurück zu seinem Platz unter dem Waschbecken. Er wäscht den Putzlappen in der Badewanne, und während er versucht, ihn zum Trocknen auseinanderzuziehen, läutet das Telefon im Wohnzimmer. Er wirft den Putzlappen achtlos in die Badewanne und trocknet sich die Hände am Hemd ab. Er läuft und tritt mit bloßen Füßen auf den Boden, und kurz bevor er in das Zimmer kommt, in dem das Telefon läutet, spürt er, wie sich etwas Spitzes in den weichen Bogen seiner Fußsohle bohrt. Er konstruiert einen Fluch aus Wut, Schmerz und Überraschung. Er wiederholt ihn und humpelt auf dem linken Fuß zum Telefon. Während er sich über den plärrenden Apparat beugt, spürt er, wie die Neugier ihn verlässt. Es genügt, nur einen Augenblick lang nachzudenken; am anderen Ende der Leitung kann niemand sein, mit dem er gerne sprechen möchte. Das Telefon läutet hartnäckig noch etwa dreißig Sekunden lang, dann verstummt es. Bender bleibt lange genug aufrecht in seiner verletzten Haltung stehen, um die Wut vom anderen Ende der Leitung zu besänftigen. Er wartet, bis das Läuten ganz aus seinem Bewusstsein verschwunden ist, dann zieht er den Stuhl heran und setzt sich hin. Er hebt den Fuß. Der Fuß blutet. Die Wunde auf der Fußsohle sieht aus wie jene, die beim Heiligen Thomas Verdacht erregt hatte. Wenn Bender seine Zehen bewegt, weitet und verengt sich die Wunde. Er berührt sie leicht mit der Spitze seines Zeigefingers. Er spürt überhaupt keinen Schmerz. Das ist ein Memento aus der Ferne, eine Warnung, die ihm diejenigen schicken, die noch immer glauben, ihn zu lieben. Er steht langsam auf. Sich nur auf die Ferse stützend, humpelt er zu dem Gegenstand, der auf seinem Weg gelegen hat, und hinterlässt dabei kleine Stempel aus Blut. Im Vorzimmer ist es halbdunkel wie in einem Übergangsraum. Er kann das Stück Plastik auf dem Boden kaum erkennen. Er schaltet das Licht ein. Auf dem Boden liegt ein kleiner Mann aus Plastik, der trotzig seine Arme ausgebreitet hat. Im ersten Moment erkennt er die Warnung nicht. Ein Stück Unbekanntes. Bender bückt sich. Er versucht, in die Hocke zu gehen, aber der Schmerz in der Fußsohle zwingt ihn dazu, sich auf den rechten Fuß unter seinem Hintern zu setzen. Er nimmt das Stück Plastik in die Hand. Er hält es näher ans Gesicht und schaut genau. Das Männlein ist keine zwanzig Zentimeter groß. Es ist so genau gearbeitet, dass Bender für einen Moment scheint, als würde es aus eigenem Willen seine Glieder bewegen. Die kleine schmutzige Hand ist zu einer masturbationsartigen Faust geballt und hält den Griff des Schwerts fest, das Bender die Haut durchbohrt hat. Mit den Fingern fasst Bender die Plastikhand und versucht, sie am Körper der Figur entlang hinunterzudrücken. Doch wie er es auch anstellt, die Hand kehrt in ihre ursprüngliche Position zurück. Bender verliert die Geduld und biegt die Faust selbst in ihre kriegerische Stellung. Ihm wird klar, dass er eine Sünde begeht, aber da ist es schon zu spät. Die Hand des Kriegers bleibt zwischen Benders Daumen und Zeigefinger zurück, wie ein abgerissenes Insektenbeinchen. Ein Krieger ohne Hand. Kein Blut. Keine Adern, Muskeln oder Sehnen. Bender versucht, den abgerissenen Körperteil wieder anzubringen. Für einige Sekunden ist alles wieder beim Alten, dann fällt die Hand des Kriegers von allein wieder ab. Niederlage. Die Hand hat doch nur versucht, sich selbst zu verteidigen. Sie hat Benders Fußsohle eine Wunde zugefügt und ist umgekommen. Es ist seine Schuld. Bender gerät in Panik. Die kleine Figur von Viggo Mortensen aus dem Herrn der Ringe hat nun ihre Hand verloren. Bender hat Aragorn mit einem einzigen Auftreten seines Fußes besiegt. Jemand wird ihn dafür zur Rechenschaft ziehen. Die Putzfrau hatte gestern ihr Kind dabei. Das Kind nimmt sein Spielzeug, den Krieger, überallhin mit. Das Kind hat das Spielzeug auf dem Boden liegen gelassen, um sicher zu gehen, dass es wieder in die Wohnung zurückkommen wird. Das ist eine mögliche Erklärung, warum der Spielzeug-Krieger auf dem Boden im Vorzimmer gelegen ist. Bender muss einen Weg finden, der Putzfrau und ihrem Kind zu erklären, dass er das, was er getan hat, nicht mit Absicht gemacht hat. Er steht auf, indem er sich auf seine linke Hand stützt, als hätte er soeben einen Weitsprung absolviert und seine Sporthose wäre voller Sand. Er klopft sich mit den Händen auf den Hintern. Dann schaut er auf die Wanduhr über dem Spiegel im Vorzimmer. Er wird hinausgehen und einen neuen Krieger kaufen müssen. Um einen Fehler wiedergutzumachen, bleibt einem immer zu wenig Zeit. Er darf es nur nicht vergessen. Bender merkt sich den Stand der Uhrzeiger. Dann schaut er auf den Spiegel unter der Wanduhr. Das hätte er nicht tun sollen. Das Fehlen der Brille führt dazu, dass er sich im ersten Moment gar nicht erkennt. Direkt vor sich sieht er sein Bild im großen Spiegel. Er sieht aus wie ein Idiot. Alles ist schief oder zu weit nach rechts oder nach unten verschoben. Es gibt keinen einzigen sicheren Punkt, den er als seinen eigenen erkennen könnte. Er löst sich auf wie eine Spiegelung im Wasser. Das zerrissene Hemd, das er ausziehen sollte, überdeckt die ausgewaschene Unterhose. Ein zu hoher Haaransatz, zerzaustes Haar, winzige Augen, ein schmales ausdrucksloses Gesicht wie aus Marmor. Jean-Luc Godard. Er sieht aus wie Jean-Luc Godard. Er greift nach einer Zigarette und steckt sie sich in den Mund. Er hebt die Hände und versucht, Godards Skalp vom eigenen Kopf zu entfernen. Er zieht das Haar in die Stirn runter. Noch schlimmer. Dann streicht er sich das Haar mit einer verschwitzten Handfläche zur Seite. So ist es schon besser. Aber der Franzose, der sich hierher verirrt hat, steht noch immer in seinem Spiegelbild und grinst ihn an. Bender denkt nicht daran, sich auch noch eine Brille aufzusetzen. Das wäre eine Kapitulation vor dem eigenen Spiegelbild. In einer Ecke des Spiegels erblickt er die verstümmelte Plastikfigur und begreift, dass er verloren hat. Kapituliert vor Aragorn und Godard. Um weitermachen zu können, ist er gezwungen, die verwischte Erscheinung im Spiegel aus dem Gedächtnis zusammenzusetzen. Er streicht sich mit der Hand durch das schüttere Haar und stellt fest, dass es am besten wäre, sich die Haare ganz abzurasieren. Er wendet seinen Körper nach links, um in die Küche zu gehen. Einige Schritte lang bleibt sein Spiegelbild noch stehen, es ist identisch mit seinem physischen Wesen, ein Körper im weißen Hemd mit einer weißen schlabbrigen Unterhose. Er sieht es nicht, weiß aber, dass hinter seinem Rücken seltsame Dinge passieren. Jemand hat Milch über den Küchentisch verschüttet und sie stehen gelassen, damit sie sauer wird. Die Welt hat sich verlangsamt, die Dimensionen haben sich vermischt. Diesen letzten Gedanken überprüft er, indem er den Finger in den Marmorkuchen steckt, den er, ohne nachzudenken, für einen solchen Nachmittag gekauft hat. Eine weitere unnötige Geste der Aufmerksamkeit sich selbst gegenüber. Unter der Oberfläche ist der Kuchen ganz gesund. Bevor Bender hierher kam, wusste er gar nicht, was ein Marmorkuchen überhaupt ist. Er hätte nicht laut sagen sollen, dass er sein ganzes Leben lang ausgerechnet einen Marmorkuchen kosten wollte, auch wenn es die Wahrheit war. Doch leider nehmen die Leute manche Wahrheiten durchaus wörtlich und reagieren dann direkt darauf. Die Leute erzählten ihm also alles über die Zubereitung von Marmorkuchen und über deren ethnischnationalen Zusammenhang. Mehrmals. Damit er ja nicht vergessen möge, wo er gelandet ist und woher er kommt. Er kann den Marmorkuchen nicht mehr loswerden. Der Marmorkuchen als Ersatz für alles, was fehlte. Marmorkuchen als Grund für seine Ankunft hier. Marmorkuchen für die Augenblicke seiner Einsamkeit. Marmorkuchen, um das Bewusstsein über seine Herkunft in seinem Inneren zu versenken. Er könnte zurückkehren, und sei es nur, um dem Marmorkuchen zu entfliehen. Er setzt sich auf den Stuhl, so bequem wie möglich, ohne ihn unter dem Tisch hervorziehen zu müssen. Die Stuhllehne bohrt sich in seinen Rücken wie eine falsch gewachsene Rippe. Er bricht ein Stück Marmorkuchen ab und legt es sich in den Mund, wobei er den Kopf zurückwirft. Ein paar Krumen fallen ihm auf die Brust und bleiben zwischen seinen Brusthaaren hängen. Dass es keine einfache Methode gibt, um die Krumen aus den Haaren zu entfernen, ruft bei Bender eine überbordende Bedrücktheit hervor sowie eine Verachtung aller Dinge, die eine Tendenz aufweisen, Krumen zu bilden. Er putzt seine Brust mit der Hand und wirft die Krumen zu Boden. Als er vor fünfzehn Jahren flüchtete, musste er einen Zufluchtsort finden, selbst wenn er dort für immer hätte bleiben müssen. Jetzt hat er keine andere Sicherheit außer der Tatsache, dass es in seiner Wohnung, obwohl noch Sommer ist, kalt geworden ist. Er steht auf, reibt sich die Hände und geht, den Schmerz auf der Fußsohle vergessend, als ob nichts, rein gar nichts Enttäuschendes passiert wäre, zum Fenster und schließt es. Die einzige Hoffnung, die noch nachhallt, als die Stimmen nicht mehr von der Straße hereinkommen, ist in seinem Kopf. Die Hoffnung ist immer ein Wunsch, der sich in eine Frage verwandelt. Während er die Stirn gegen das Glas lehnt, leuchtet die Frage in seinem Kopf wie eine Neonreklame. DAS ZUCKEN, DIE LÄHMUNG IM RÜCKEN, DIE ER IM NACHMITTÄGLICHEN TRAUM GESPÜRT HAT, HAT DIESE LÄHMUNG EINEN NAMEN?