Unberührbar

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Unberührbar
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Gunnar Kunz

Unberührbar

oder: Nur ein kleiner Schnitt

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Inhalt:

Unberührbar

Manchmal wird es fast unerträglich

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Inhalt:

Jason soll beschnitten werden. Ob das wohl weh tut? Nein, sagen alle, es ist vielleicht ein bisschen unangenehm, mehr nicht. Aber warum weicht sein Freund Hakan dann allen Fragen aus? Warum reißt jeder, mit dem er darüber reden will, bloß dumme Witze? Warum huschten alle so schnell wie möglich über das Thema hinweg, als fürchteten sie, eine verbotene Tür zu öffnen und etwas Schreckliches herauszulassen?

Unberührbar

oder:

Nur ein kleiner Schnitt

Ein Mittel gegen Masturbation, das bei kleinen Jungen fast immer erfolgreich ist, ist die Beschneidung. Die Operation sollte von einem Arzt ohne Betäubung durchgeführt werden, weil der Schmerz einen heilsamen Effekt hat, besonders wenn er mit der Vorstellung von Strafe in Verbindung gebracht wird.

John Harvey Kellog: Plain facts for Young and Old, 1888

Je mehr er rannte, desto mehr Lust machte es ihm, und so rannte er noch schneller, weil er spüren wollte, wie sein Herz gegen seine Brust schlug, wie seine Füße sich vom Boden abstießen und der Wind seine Haut berührte. Sein Körper war wie Musik. Er fühlte seine Beine. Er fühlte seine Arme. Er fühlte seinen Po und seinen Schniepel und seine Ohren und seine Zunge, und alles war, wie es sein sollte.

Jason erreichte die Kuppe des Hügels und sprang mit offenen Armen in den Himmel. Er war Buzz Lightyear, der durch den Weltraum raste, ein Adler, der König der Lüfte. Die Wolken kamen auf ihn zu, die Sonne, ich fliege!, ich fliege!, und auf dem Scheitelpunkt stieß er ein Jauchzen aus, das weit über die Wiesen schallte. Dann landete er mit einem harten Schlag im Gras, der ihn nur umso intensiver fühlen ließ, wie lebendig er war, und kugelte kopfüber den Abhang hinunter, bis er zwischen Löwenzahn und Gänseblümchen ausrollte. Hinter ihm kamen die anderen Jungen den Hügel herabgepurzelt und prallten gegen ihn, und dann balgten sie sich und wälzten sich durch eine matschige Pfütze und fühlten sich so wohl in ihren Körpern, wie es nur neunjährige Jungen können.

***

Während Fay die dreckige Hose und das schlammbeschmierte T-Shirt in die Waschmaschine stopfte, hörte sie, wie Jason schon wieder durchs Haus rannte, Raumschiffgeräusche imitierte und wie ein Raubtier brüllte, und konnte ein zärtliches Gefühl nicht unterdrücken. Der Racker, dachte sie. Mein kleiner Löwe. Von oben, aus dem Kinderzimmer, scholl sein Lachen herunter. Was er wohl jetzt wieder ausheckte?

Bob kam herein, die Arme voll Beutel mit Blumenerde, hörte das Brüllen und lächelte sie an. »Er ist mal wieder ganz in seinem Element, was?«

»Sieh mal, was ich vorhin am Kühlschrank fand.« Sie reichte ihm einen selbstklebenden Notizzettel, auf den in ungelenker Kinderhand geschrieben stand: Für die liebste Mami der Welt.

Typisch Jason. Er konnte einem mit seiner Energie den letzten Nerv rauben, aber dann schrieb er einem so einen Zettel, und man schmolz dahin. Bob stellte die Beutel ab. Er kannte keinen zweiten Jungen in seinem Alter mit einem so großen Herzen. Der einem zum Geburtstag unbedingt das Frühstück ans Bett bringen wollte und bereitwillig seine Schokolade mit anderen Kindern teilte. Oder etwas so Großherziges tat wie letztes Wochenende.

Bob schob die Blumenerde in eine Ecke. Vierzehn Jahre lang hatte er in derselben Firma gearbeitet, der deutschen Niederlassung eines amerikanischen Konzerns, und dann war er Knall auf Fall im Zuge der Rationalisierung entlassen worden. Die neue Stelle, die er zum Glück gefunden hatte, fing erst in vier Monaten an, und das Geld, das Fay mit ihrem privaten Englischunterricht verdiente, reichte vorn und hinten nicht. Sie hatten gerechnet und gerechnet und Zahlen gewälzt, und dann hatte Jason ihn am Ärmel gezupft und gesagt: »Ich habe 37 Euro 58 gespart, die könnt ihr haben.«

»Wwrrrrr!« Jason kam in die Küche gerannt, eine Buzz Lightyear-Figur in der Hand, und prallte gegen ihn.

»Hoppla, Sportsfreund!« Bob hob seinen Sohn hoch und setzte ihn auf die Arbeitsfläche des Küchenschranks. »Du kommst gerade recht, wir wollten sowieso mit dir reden.«

»Worüber denn?«

»Weißt du, es ist langsam an der Zeit, dass du beschnitten wirst.«

»Beschnitten? Was bedeutet das?«

»Dass die Vorhaut um dein Glied entfernt wird.«

»Warum?«

»Weil das hygienischer ist. In Amerika machen das fast alle so.«

»Es sieht auch ästhetischer aus, finde ich«, mischte sich Fay ein.

Jason legte die Stirn in Falten. »Tut das weh?«

»Von der Operation selbst wirst du gar nichts spüren, weil du ja betäubt wirst. Hinterher ist es ein bisschen unangenehm, ein paar Tage vielleicht, aber nichts, was man nicht aushalten könnte. Alles in allem nicht der Rede wert.«

»Okay.« Jason sprang vom Küchenschrank, noch ehe Fay ihm einen Kuss geben konnte, und rannte wieder mit einem »Wwrrrrr!« durchs Haus.

***

Die Sonne war schon vor Stunden untergegangen, aber es herrschte immer noch eine solche Hitze, dass Jason Mühe hatte einzuschlafen. Er strampelte die Decke fort. Seine Hoden klebten an den Oberschenkeln. Er schlüpfte aus dem Schlafanzug und löste sie von den Beinen, aber sie klebten gleich wieder fest. Im Mondlicht betrachtete er seinen Schniepel. Die Vorhaut sollte also weg. Er berührte sich da, wie so oft. Es war ein schönes Gefühl. Schön und zugleich ein bisschen beängstigend, weil es heftige Reaktionen in ihm hervorrief. Wenn er sich auf eine bestimmte Art streichelte, dann geriet alles in ihm in Aufruhr: Sein Herz klopfte, seine Wangen wurden heiß, seine Beine kribbelten. Erschreckend. Faszinierend. Überwältigend.

Einmal hatte er so einen blöden Film gesehen, in dem ein Mann mit seinem Schniepel sprach, als sei der eine fremde Person. So was Bescheuertes! Niemand käme auf die Idee, mit seinem großen Zeh zu reden oder seinem Ohr oder seinem Auge, oder? Er kicherte und tätschelte sein Knie. Hallo Kevin, was macht der Schorf? Wer dachte sich so einen Blödsinn aus? Das war doch alles ein Teil von ihm. Das Bein mit dem juckenden Schorf. Der große Zeh, der lustig wackelte. Seine Hände, die den Stoff der Decke spürten. Sein Schniepel.

Wie das wohl war mit dem Sex? Ein bisschen hatten ihm seine Eltern darüber erzählt, den Rest hatte er aus Magazinen und den Gesprächen der großen Jungs auf dem Pausenhof, aber im Grunde war dadurch das Geheimnisvolle nur größer geworden. Ob es einen Unterschied machte, wenn er keine Vorhaut mehr besaß?

Jason kuschelte sich tiefer ins Bett und streichelte seinen Schniepel. Mit einem seligen Lächeln trieb er in den Schlaf.

***

Bereits in der Toreinfahrt ließ er seinen Erkennungsruf ertönen. Prompt antwortete ihm eine Stimme vom Hinterhof, Hakan war also schon da. Die Remise mit dem durchgerosteten Türschloss war ihr geheimer Treffpunkt, nicht nur, weil sie beide da ungestört waren, sondern auch, weil es von der Bäckerei im Vorderhaus immer so angenehm duftete, nach Zimt und frischem Kuchen. Hier machten sie zusammen Hausaufgaben, na ja, manchmal zumindest. Hakan half ihm beim Rechnen und er half ihm dafür in Deutsch. Hakan hatte zwar keine Probleme beim Sprechen, aber mit der Rechtschreibung tat er sich schwer.

Heute standen Hausaufgaben nicht auf dem Programm, stattdessen tauschten sie Sammelbilder. Hakan sammelte alles, was mit Fußball zu tun hatte, er selbst bevorzugte Monster und Cartoons, aber sie beide standen auf Superhelden. Sie kungelten eine Weile und sprachen über die Bilder, dann hopsten sie auf dem ramponierten Sofa herum, und schließlich lagen sie außer Atem an der Treppe im ersten Stock und ließen ihre Spucke nach unten tropfen.

»Sag mal«, meinte Jason betont beiläufig, »du bist doch Türke, da musst du doch … ich meine, du bist doch bestimmt beschnitten, oder?«

»Mhm.«

»Wie war das?«

Hakan zuckte die Achseln.

»Ich frage bloß, weil ich auch beschnitten werden soll.«

»Hm.«

Wieder ließen sie Spucke nach unten tropfen und bemühten sich dabei, den Faden so lang werden zu lassen wie möglich.

»War‘s schlimm?«, fragte Jason, als er es nicht länger aushielt.

»Geht.«

»Tut das weh?«

»Muss man durch.« Hakan sprang auf. »Los komm, lass uns sehen, was am Kanal los ist.«

Und schon war er draußen, und Jason blieb nichts anderes übrig, als hinterherzulaufen.

***

Einen Tag vor der geplanten Operation fasste sich Jason ein Herz und ging während der großen Pause zu einer Gruppe Jungen aus der zehnten Klasse. Er kannte nicht mal ihre Namen, aber von Hakans Cousin wusste er, dass sie auch beschnitten waren. Eine Weile drückte er sich in ihrer Nähe herum, ohne den Mut aufzubringen, etwas zu sagen.

 

»Was willst du denn hier, Knirps?«, fragte einer.

Stotternd brachte Jason seine Frage vor.

Die Jungen stießen sich an und lachten und übertrumpften sich gegenseitig mit witzigen Bemerkungen, welche Mordwerkzeuge dabei verwendet würden und wer von ihnen sich bei der Beschneidung als das größte Weichei herausgestellt hatte und dergleichen. Warum konnten sie nicht ernsthaft darüber reden? Wenn das alles so einfach war, warum mussten sie dann ihre Witze darüber machen?

Jason hatte sich schon umgedreht, da rief ihm einer der Jungen nach: »Wenn du wissen willst, wie sich dein Schwanz hinterher anfühlt, lass deine Zunge mal zehn Minuten aus dem Mund hängen.« Die anderen wollten sich nicht wieder einkriegen vor Lachen.

Hatte er das ernst gemeint? Irgendwie machte die Bemerkung Sinn, oder? Unter der Vorhaut war sein Schniepel immer feucht, genau wie die Zunge, wenn sie sich im Mund befand. Ohne Vorhaut dagegen musste sein Schniepel trocken werden. Was konnte es schaden, einen Versuch zu unternehmen?

Jason streckte die Zunge raus und zählte in Gedanken Sekunden. Er konnte fühlen, wie die Oberfläche kühler wurde. Pelziger, wie belegt. Wie wenn er erkältet war. Seine Zunge zuckte, wollte mit aller Macht in den Mund zurück. Er kämpfte gegen den Schluckreflex an. Er musste richtig die Fäuste ballen, um sich daran zu hindern, die Zunge zurückzuziehen. Speichelfäden bildeten sich.

Nach sieben Minuten gab er es auf, die Zunge schnellte in seinen Mund zurück. Sie war wie Leder. Ein Fremdkörper. Er schmeckte kaum etwas. Noch Minuten später hatte er ein taubes Gefühl im Mund.

***

»Ich glaube, ich will doch lieber nicht«, sagte Jason. Der Geruch und die Stille im Krankenhaus schüchterten ihn ein.

»Das haben wir doch alles besprochen«, erwiderte sein Vater, »jetzt stell dich nicht so an.«

»Es ist ganz harmlos, wirst sehen«, beruhigte ihn seine Mutter.

Der Arzt verdrehte die Augen.

»Aber es tut weh, oder?«, beharrte Jason.

»Dr. Marquardt, vielleicht können Sie meinem Sohn bestätigen, dass er sich keine Sorgen machen muss.«

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