Der blinde Spiegel

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Der blinde Spiegel
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Günter

Neuwirth

Der blinde

Spiegel

Roman


ISBN 9783990402504


Wien – Graz – Klagenfurt

© 2014 by Styria premium in der

Verlagsgruppe Styria GmbH & Co KG Alle Rechte vorbehalten.

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Lektorat: Prof. Rainer Lendl

Layout: Alfred Hoffmann

Buch- und Covergestaltung: Bruno Wegscheider

Coverfoto: istockphoto.com/​SimFan

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

1. Teil

2. Teil

3. Teil

4. Teil

5. Teil

6. Teil

Weitere Bücher

1. TEIL
SCHATTENNACHT
WIEN, AUGUST 1914

Endlich in der Metropole.

Überall dichtes Gedränge auf den Bahnsteigen. Ich habe Mühe, mit meinen zwei Pappkoffern voranzukommen. Was für ein Gewühl! Es war auch schwer, eine Fahrkarte zu bekommen, denn die Eisenbahn wird für die Soldaten gebraucht. Krieg ist jetzt! Krieg! Gegen Serbien. Krieg gegen Russland. Die Armee braucht die Eisenbahn.

Ich schiebe mich an einer Gruppe junger Männer vorbei, die akkurat gescheitelt zur Assentierung marschieren. Freiwillige, zweifellos Studenten. Lärmend sammeln sie sich, einer von ihnen mimt den Fähnrich.

„Kompanie stillgestanden! Rechts um! Links, zwo, drei, vier!“

Zwei elegante Herren winken ihnen mit dem Hut zu und exerzieren mit den Spazierstöcken.

Da ein Kuss, der gar nicht enden will. Die junge Frau lässt nicht von ihrem uniformierten Liebsten ab. Nur mit Mühe windet er sich aus ihrer Umklammerung und folgt mit schnellen Schritten seinen Kameraden. Die Soldaten sammeln sich zum Abmarsch in Richtung Arsenal.

„Gib mir noch ein Busserl!“

Die junge Frau lässt ihren Liebsten immer noch nicht aus, hakt sich bei ihm ein, stößt sich an seinem Gewehr und trippelt an seiner Seite hinaus aus meinem Blickfeld.

Jetzt sehe ich kurz den Mann, dessen Ziehharmonikaspiel die längste Zeit schon über das geräuschvolle Treiben hinwegtanzt. Ein unvermutet vorwitziger Klang, der Mann spielt den Radetzkymarsch mit der Intonation eines Heurigenliedes, statt forscher Akzente gedehnte Phrasen. Irgendwie komme ich doch aus der Bahnhofshalle und fülle meine Lungen mit der Luft der Stadt. Überall Bewegung, überall hastende, eilende Gestalten und ich mittendrin.

Ich muss überlegen, wie ich jetzt in die Siebensterngasse komme. Am besten mit der Elektrischen, weil zu Fuß mit zwei Koffern ist das ein weiter Weg. Am Gürtel marschiert mit strammen Schritten ein Bataillon hechtgrauer Uniformen. Ich mische mich unter die Leute, füge mich ins Spalier.

„Der Kaiser lebe hoch! Er lebe hoch! Er lebe hoch!“, ruft ein Mann.

Sofort stimmen andere in den Ruf ein, ich ebenso.

Die Stimmung ist atemberaubend, einzigartig, die Kaiserstadt ist in hellem Aufruhr. Ein Zeitungsjunge läuft mit einem Paket Zeitungen über die Straße. Er schwenkt ein Exemplar und ruft: „Frankreich erklärt Österreich-Ungarn den Krieg!“ Binnen kürzester Zeit ist der Zeitungsjunge seine kostbare Ware los und die hitzigen Köpfe der Menschen versenken sich hinter den Zeitungsblättern. Frankreich erklärt uns den Krieg! Uns!

Hypnotisiert renne ich durch die Gassen, die Koffer bemerke ich jetzt gar nicht mehr. Immerzu muss ich an meine Pflicht denken, in einer so großen Zeit auch mein Scherflein beizutragen. Freiwillig müsste ich mich melden, denn mein Jahrgang ist noch nicht zur Ausmusterung bestimmt. Freiwillig müsste ich mich melden und meine Pflicht erfüllen. Da aber mein Bruder Fritz schon den Rock des Kaisers trägt, habe ich meiner Mutter schwören müssen, mich nicht zu melden. Sie ist ängstlich, wie es Mütter nun einmal in den erhabenen Zeiten des Krieges sind. Was gäbe ich dafür, auch dabei zu sein! Wozu in einer Zeit wie dieser ein Studium beginnen? Ich will auch im Jubel der Wiener mutig und mannhaft den Zar von Russland lehren, was es heißt, den Fürstenmördern die Fahnen zu hissen.

Immer schneller laufe ich durch die Stadt, schlängle ich mich an Gruppen aufgeregter Menschen vorbei, die über den großen europäischen Krieg diskutieren. Was wird England tun? Wo ist Italien? Vivat dem deutschen Waffenbruder! Aufgeschnappte Sätze in einer siedenden Stadt. Mein Irrlauf bringt mich unversehens zur Ringstraße. Meine Augen weiten sich, ich stelle die Koffer ab. Das ist imperiale Größe, diese Straße macht Wiens Ruf in der Welt aus. Tausende Menschen am Opernring, eine Blaskapelle trompetet von irgendwoher das Lied vom Prinzen Eugen in den stahlblauen Himmel. Auf der Straße paradieren des Kaisers Reiter mit gezogenen Säbeln. Das schwere Getrappel der Pferde lässt den Boden zittern. Hell funkeln die Säbel und Helme der Reiter im gleißenden Schein der Sonne. Hunderte Hüte tanzen an hochgestreckten Armen.

Ich bin so stolz, an diesem Tag in Wien zu sein. Die Parade zieht weiter die Ringstraße entlang, der Jubel verebbt nach und nach, doch die Ansammlung der Menschen löst sich nicht auf. Ich sehe eine Straßenuhr, in einer halben Stunde soll ich bei meiner Vermieterin in der Siebensterngasse vorstellig werden. Ich werde nicht pünktlich sein. Immer weiter, immer weiter zieht mich mein Lauf durch die Straßen, hinein in die Innenstadt.

Ein älterer Herr mit gepflegtem Bart hält mich an und klopft mir auf die Schulter.

„Junger Mann, Sie sind mir ein Muster für die Tapferkeit unserer stolzen Jugend, die in diesem heroischen Ringen der Völker mit edler Gesinnung die eiserne Faust erhebt und für unseren Kaiser den Lorbeerkranz des Sieges einholen wird!“

Wie ich mich schäme. Ich wage nicht zu sagen, dass ich die Koffer trage, weil ich im September das Studium der Philosophie antreten werde, und nicht, weil ich zur Assentierung marschiere.

„Ich danke Ihnen, mein Herr“, murmle ich verlegen.

Der Herr lüftet seinen Hut.

„Auf, auf! Wohlan in Gottes Namen, deutscher Held.“

Ich eile weiter, immer weiter. Ich laufe rund um den ehrwürdigen Stephansdom. Ich sehe all die schönen Fräuleins. Elegant die eine, koketter Schritt und ein Hut mit Chic, andere wieder bewundernswert sittsam in strahlender Reinheit. Ich liebe sie alle, die jungen Fräuleins von Wien. Ich fliege über den Graben, weiter zum Michaelerplatz. Ja, ich möchte jetzt ein Gedicht schreiben, ein Poem über diesen wunderbaren Augenblick, über die perlende Schönheit dieser Stadt, ihre Würde und Erhabenheit, über ihr brodelndes Leben, ihre Eleganz und Eloquenz. Ich möchte ein Gedicht schreiben über den jungen Soldaten, der zum Abschied seine Braut küsst und zum Lebewohl noch aus dem Fenster des abdampfenden Zuges winkt. Warum soll ich mich nicht zu den poetischen Gefühlen bekennen, die dieser Tag in mir weckt?

Da stehe ich vor der Hofburg und ein tiefes Schaudern erfasst mich. Die Residenz des Kaisers, unseres greisen Monarchen, des Vaters der vielen Völker der Donaumonarchie.

„Es lebe der Kaiser! Es lebe Österreich-Ungarn!“, rufe ich weithin hörbar.

Ich weiß gar nicht, was ich tue, es geschieht einfach mit mir, ich lasse mich mitreißen im Strom. Und ein vielfacher Ruf schallt mir entgegen.

„Es lebe der Kaiser! Vivat dem Kaiser! Vivat!“

Ein Oberleutnant geht an mir vorbei, ich stelle meine Koffer ab und salutiere. Was für ein schneidiger Mann, was für ein Held im Rock des Kaisers! Mit dem rechten Zeigefinger streicht er über seinen Oberlippenbart, mit der linken Hand winkt er mir kurz und gönnerhaft zu und stiefelt stramm an mir vorbei.

Erst in den Abendstunden komme ich zu meiner Vermieterin. Ist es mir zu verdenken, dass ich bis spät in die Nacht viele Seiten in mein Tagebuch über die Eindrücke dieses ungeheuerlichen Tages schreibe?

BUDWEIS, SEPTEMBER 1945

Meine Sohlen brennen. Ich kann kaum noch gehen, aber bis nach Hause sind es rund sechs Kilometer. Fast zwei Stunden Fußmarsch, voll bepackt wie wir sind. Aber Karel hat noch eine Erledigung zu machen. Karel hat gute Beine. Obwohl er zwei Jahre älter ist als ich, marschiert er wie ein Jugendlicher. Wenn es seine Geschäfte betrifft, kennt er keine Müdigkeit.

 

Das Bauernhaus sieht von außen nicht schäbiger aus als alle anderen. Seit Jahren gibt es in ganz Böhmen für das einfache Volk kein Verputzmaterial, keine Dachziegel und kaum einmal Fensterglas. Dabei hätte gerade das Dach dieses Hauses eine Reparatur dringend nötig. Bei starkem Regen können die Bauernkinder ihre Füße in Tropfeimern baden.

„So, jetzt noch der Geizkragen“, schnauft Karel.

Wenn der kommende Winter wird wie der letzte, wird Böhmen ausgestorben sein. Man schätzt, dass alleine in Budweis zweihundert Menschen verhungert sind. Wer weiß, wie viele es in der ganzen Monarchie waren? Zum Glück bin ich noch nicht zu alt und gebrechlich für Hamstermärsche, und zum Glück habe ich Karel. Wir kennen uns aus dem Lager. Zwei Jahre lang war er Sträflingskoch, später durfte er sogar das Magazin verwalten. Ohne ihn wäre es noch schlimmer gewesen, denn Karel versteht sich auf die Organisation. Er kann immer und überall etwas Essbares besorgen. In den fünf Jahren seiner Haft haben wir meist brauchbare Verpflegung gehabt. Und heute ist er der „Hamster-König“ Südböhmens. Und wenn er mich alle paar Wochen auf seine Wanderungen mitnimmt, stehen mir einige Festtage mit vollem Magen ins Haus. Dafür marschiere ich gern dreißig Kilometer an einem Tag.

„Ist er geiziger als die anderen?“, frage ich.

Karel ringt sich ein Lächeln ab.

„Alle böhmischen Bauern sind geizig. Schwer, mit ihnen Geschäfte zu machen.“

„Wem sagst du das? Der Winter kommt bestimmt und die Ernte war schlecht.“

„Ach, Valentin, hör mir auf mit dem Winter. Wir besorgen uns allerlei Delikatessen und du jammerst mir die Ohren voll. Was glaubst du, wie wir schlemmen werden!“

Karel ist Optimist. Das war er immer schon. Vielleicht ist er deswegen ein so guter Geschäftsmann. Ein paar Worte von ihm und seine Geschäftsfreunde glauben an das Gute im Menschen und die Gunst des Schicksals. So fällt es leicht, einen lohnenden Handel abzuschließen.

Meine Schultern schmerzen, der Rücken ist krumm, aber für all die Speisen im Rucksack ignoriere ich meine kleinmütigen Beschwerden liebend gern. Eine Speckseite, Eselswurst, Schmalz, zwei Brotlaibe, eingemachte Gurken, alles, was das Herz begehrt. Und ich bekomme einen guten Anteil davon. Plötzlich fühle ich mich stark wie ein Pferd. Die sechs Kilometer werde ich spielend schaffen.

Bevor wir den Hof betreten, spähen wir umsichtig in die Gegend, aber weit und breit ist kein Gendarm zu sehen. Ein Fenster wird geöffnet und eine Frau lugt heraus.

„Guten Tag, Bäuerin. Schönes Wetter heute, nicht wahr? Trefflich für einen kleinen Spaziergang.“

Karel winkt ihr zu, aber sie mustert uns mit regloser Miene. Zwei Kinder laufen uns entgegen, umkreisen uns und bestürmen Karel mit tausend Fragen. Dann kommt der Bauer aus der Scheune. Er klopft sich Staub aus der Kleidung und stapft auf uns zu. Zur Begrüßung reicht er erst Karel, dann mir die Hand. Obwohl er ebenso unnahbar wie seine Frau blickt, weiß ich genau, wie sehr er Karel erwartet hat. Aber zum Geschäft gehört es, die Ungeduld nicht zu zeigen. Zwei verhutzelte alte Frauen humpeln aus dem Haus und versuchen die Kinder zu bändigen. Der Bauer, er ist um die fünfzig und wahrscheinlich der Großvater oder Großonkel der Kinder, blickt vorsichtig zur Straße hinüber.

„Gehen wir in die Stube“, weist er uns an.

Artig folgen ihm alle, eine kleine Prozession. Karel legt los, er bringt vorab den neuesten Tratsch, zum Teil Neuigkeiten aus der Stadt, zum Teil Geschichten, die wir auf unserer heutigen Tour aufgeschnappt haben. Die Bauersleute sind wortkarg und scheinbar abweisend, aber ich kann ihre gespannte Neugier beinahe fühlen. Eine der alten Frauen, offenbar eine Magd im Ausgedinge, kredenzt Most. Wir trinken hurtig, ein Tag auf den Beinen macht durstig. Karel spielt sein Spielchen. Unsere Rucksäcke stehen neben dem Tisch und Karel macht keinerlei Anstalten, seine Waren auszupacken. Er redet und redet. Bis schließlich die Bäuerin den Bann bricht, sie kann es nicht länger aushalten.

„Hast du die Seife dabei?“

Karel macht eine bedeutungsvolle Pause, trinkt einen Schluck Most und langt nach seinem Rucksack. Wortlos greift er hinein und holt ein kleines, in Zeitungspapier geschlagenes Päckchen hervor.

„Ob es wirklich französischer Lavendel ist, kann ich nicht sagen, aber sie duftet köstlich.“

Ein Funkeln liegt in ihren Augen. Lavendelseife! Was für eine Rarität. Wo der Teufelskerl die Seife aufgetrieben hat, ist mir ein Rätsel. Aber als Geschäftsmann tauge ich einfach nichts, ich bin nur der Packesel. Die Bäuerin packt die Seife aus und atmet den Duft mit sichtlichem Wohlbehagen ein. Die Kinder und die alten Frauen starren sie mit großen Augen an.

„Und für dich“, wendet sich Karel an den Bauern, „habe ich auch etwas dabei.“

Der Bauer blickt unbeteiligt auf den Most im Glas. Karel holt einen Tabaksbeutel hervor, von dem wir mittags ein klein wenig abgezweigt haben, um nach den Mittagsbroten eine Pfeife zu schmauchen. Guter Tabak, vielleicht der beste, den ich in den letzten Jahren geraucht habe.

Der Bauer wiegt den Beutel in der Hand, öffnet ihn, schnuppert und reibt ein bisschen Tabak zwischen den Fingern. Einige Augenblicke starren der Bauer und Karel einander wortlos an. Ich kann keinerlei Regung im verwitterten Gesicht des Mannes sehen. Er nickt seiner Frau zu.

„Bring den Schnaps.“

Wenig später kann ich meine Kehle mit einem guten Tropfen Obstbrand wärmen. Ein Labsal. Aber der Bauer hält seinen Besitz in der Hand, nichts geht verloren oder wird verschleudert, denn nachdem wir getrunken haben, stöpselt er die Flasche demonstrativ zu und stellt sie auf die Fensterbank.

Geduldig sitze ich in der Stube und verfolge die schwierigen Verhandlungen. Da wird um jeden Meter Nähgarn, jeden Löffel Schmalz, jeden Tropfen Milch, jede Bohne gefeilscht, dass mir das Hirn sausen möchte. Schließlich einigen sie sich, wir packen unsere Rucksäcke, verabschieden uns und ziehen los.

Langsam wird es dunkel, aber wir haben es nicht mehr weit, die Vororte von Budweis sind schon zu sehen. Karel schwatzt munter drauflos. Die Wanderung hat sich rentiert, unsere Rucksäcke sind prall und schwer. Wer hätte das gedacht? Ich kneife meine Augen zusammen. Plötzlich rast mein Puls.

„Ein Gendarm.“

Karel ist ein guter Wanderer, aber meine Augen sind schärfer als die seinen. Und ich wittere Gefahr von Weitem. Das ist mein alter Soldateninstinkt.

Wir springen in den Graben.

„Hat er uns gesehen?“

„Weiß nicht. Er kommt aber auf uns zu.“

Karel hebt vorsichtig spähend den Kopf.

„Er rennt nicht, also hat er uns nicht gesehen.“

Ich bin nicht überzeugt. Mit Schwarzhändlern wird derzeit kurzer Prozess gemacht. Wir müssen schnellstens von hier verschwinden.

„Da entlang“, flüstere ich. „Zum Gebüsch, dann über das Feld zum Wäldchen. Wenn er uns nicht gesehen hat, hängen wir ihn ab.“

Gebückt rennen wir los. Beim Gebüsch stoppen wir und halten Ausschau. Der Gendarm geht ohne Eile den Weg entlang. Ich beginne zu hoffen. Vor uns liegt ein offenes Feld, aber die Strecke ist nicht sehr weit. Wir haben gute Chancen, zu entschlüpfen. Da bleibt der Gendarm stehen und starrt in die Ferne, dann in unsere Richtung.

„Verdammt, er ist nicht allein.“

Ich brauche den zweiten Gendarm gar nicht zu sehen, ich weiß genau, dass er irgendwo im Gebüsch gelauert, uns genau beobachtet und jetzt seinem Kollegen Handzeichen gegeben hat. Karels Gesicht ist kalkweiß.

„Renn!“, rufe ich.

Wie scheu gewordene Ackergäule galoppieren wir los, zwei ältere, mit schweren Rucksäcken beladene Männer. Im Augenwinkel sehe ich den Gendarm auf uns zu laufen. Der zweite wird auch schon unterwegs sein. Jetzt brauchen wir Glück, sehr viel Glück. Ein paar Schritte vor uns ist das Wäldchen. Vielleicht gelingt es uns, sie hier abzuschütteln. Aus dem Gehölz taucht eine Uniformkappe auf. Und die Mündung einer Pistole. Direkt vor uns.

„Stehen bleiben! Hände hoch!“, brüllt der dritte Gendarm.

„Scheiße!“, knurrt Karel atemlos.

Ein gut geplanter Hinterhalt. Und wir sind hineingelaufen. Die beiden anderen Gendarmen stoßen zu uns.

„Na, was haben wir denn da?“, fragt der erste, der Kommandant.

Er lächelt breit und perlustriert uns. Er zieht Karels Taschenmesser aus der Scheide.

„Zeigt eure Rucksäcke her!“

Was sollen wir tun? Auf frischer Tat ertappt. Wir haben keine Chance. Der Mann mit der Pistole deutet in den Wald.

„Da lang!“

Karel und ich wechseln einen fragenden Blick. Wollen sie uns hinter den Bäumen erschießen? Der Pistolenheld ist ziemlich missmutig, er stößt uns voran. Wir verschwinden im Wald.

„Da setzt euch nieder! Da, an den Baum.“

Wir gehorchen. Der Gendarm mit der Pistole lässt uns nicht aus den Augen, während die beiden anderen sich auf einen liegenden Baumstamm setzen und unsere Rucksäcke auspacken.

„Da schau her! Das ist ja ein Volltreffer. Respekt, lieber Karel, heute warst du wieder fleißig.“

Ich spitze die Ohren, der Kommandant kennt Karel.

„Steck endlich die Spritze weg!“, ruft der Kommandant seinem Kollegen zu. „Karel und sein Freund werden uns schon nicht beißen.“

Erleichtert atme ich auf. Das sieht nicht nach Gefängnis aus.

„Na gut, Ctibor, kommen wir ins Geschäft“, sagt Karel. „Wie viel willst du?“

Der Kommandant winkt ab.

„Erst mal Inventur, dann reden wir weiter.“

Der Pistolengendarm packt die Speckseite, zieht ein Taschenmesser und schneidet sich eine dicke Schwarte ab. Er feixt uns hämisch an und schmatzt drauflos.

„Hoho! Ein Schöppchen!“, ruft der Kommandant.

Ich sehe, wie Karels Augen wässrig werden, seine Lippen beben. „Die Hälfte“, sagt er. „Die Hälfte vom Schnaps, drei Würste und der ganze Speck.“

Der Kommandant macht ein böses Gesicht.

„Schnauze zu, sonst marschiert ihr in den Arrest.“

Er öffnete die Flasche, kostet und reicht sie weiter. Der zweite Gendarm nimmt einen Laib Brot, schneidet drei dicke Scheiben ab und schmiert Schmalz darauf.

„Habt ihr Salz?“, fragt er.

Die drei lachen dröhnend. Gierig mampfen sie und spülen die Happen mit Schnaps hinunter.

„Ihr Straßenräuber“, knurrt Karel.

Wieder hallt ihr Gelächter durch das Gehölz. Schließlich packen sie die Speckseite, alle Stangen Eselswurst, die halb geleerte Schnapsflasche, das Schmalz und den angeschnittenen Brotlaib ein. Der Kommandant tritt nahe an uns heran.

„Habt ihr aber ein Glück, dass wir einander nie begegnet sind. Jaja, der Schwarzhandel ist ein Übel.“

Sie richten sich zum Abmarsch.

„Mein Messer. Gib mir mein Messer zurück!“

Der Kommandant mustert Karels Messer kritisch, dann zwinkert er uns zu.

„Ich bin ja kein Unmensch, nicht wahr?“, fragt er seine Kollegen, die ihre Zahnreihen präsentieren.

„Ich dachte, du wärst einer“, grunzt der Pistolenmann.

„Ach ja?“

„Aber ja doch.“

Der Kommandant schaut uns unschuldig an und zuckt mit den Schultern.

„Wenn er es sagt.“

Damit steckt er das Messer ein und sie verschwinden. „Diese Banditenbande. Diese elenden Verbrecher. Korrupte Schweine. Ersticken sollen sie am Schnaps. Oder an die Front geschickt werden!“

Kraftlos erheben wir uns und packen unsere leichter gewordenen Rucksäcke. Das abendliche Festmahl wird heute ausfallen.

KONSTANTINOPEL, FRÜHLING 1946

Auch diese Arbeit musste erledigt werden. Transportlisten, Anforderungsformulare, Fernschreibermeldungen, mit einem Wort: Papierkrieg. Hermann von Meyendorff hatte bislang den Verwaltungsaufwand, der mit dem modernen Krieg einherging, wie die Pest gemieden. Den Aufzeichnungen und Formularen, die man als Fliegeroffizier zu bearbeiten hatte, konnte er nicht entgehen, aber das waren nur ein paar Zettel, ein paar Notizen, ein paar Unterschriften, nichts Besonderes also, schließlich hatte man als Frontsoldat andere Sorgen. Nun aber, in seiner neuen Stellung, waren die Formulare und Listen sein Alltag. Etappendienst.

Er saß an seinem kleinen Schreibtisch und blätterte die Anforderungslisten des Luftflottenstützpunktes Smyrna durch. Ersatzteile, Ersatzteile, unendliche Listen mit angeforderten Ersatzteilen. Von kleinen Schrauben bis zu gesamten Motoren, von Taschenlampen bis zu Flugzeugbomben. Der Krieg war gefräßig. Meyendorffs Aufgabe bestand nun seit knapp einem Monat darin, den Materialfraß des hungrigen Riesen zu verwalten. Er hasste diese Arbeit, er hasste diesen Schreibtisch, er hasste diese Formulare, aber er musste durchhalten. Es war seine Pflicht, auch an dieser Front zu bestehen. Immerhin war er der Graf von Meyendorff, ein Adeliger und Besitzer großer Ländereien, immerhin war er Träger der Goldenen Tapferkeitsmedaille erster Klasse, also ein Kriegsheld. In seinem Quartier lag eine unscheinbare Mappe, in der er die über ihn erschienenen Zeitungsartikel gesammelt hatte. Für ein paar Tage war seine Geschichte Thema Nummer eins in der Presse und sein Foto war auf allen Titelblättern zu sehen gewesen. Sogar die Hamburger und Berliner Zeitungsfritzen hatten an der Geschichte des k. u. k.-Oberleutnant von Meyendorff nicht vorbeischauen können, obwohl sie Heldentaten österreichischer Offiziere in der Regel ignorierten.

 

Meyendorff stempelte die Listen und legte sie in das Fach für Weiterbearbeitung. Man konnte Damaskus jetzt nicht im Stich lassen. Fast täglich hämmerten die alliierten Angriffe gegen Damaskus, fast täglich boxten sich die schweren amerikanischen P-47 Angriffsjäger durch die Abwehrreihen und versuchten Breschen für die Bomber zu schlagen und fast täglich rumorten die Motoren britischer Spitfire über der Küste Kleinasiens und fast täglich klopften amerikanische Fernbomber ihre Bombenteppiche über Damaskus aus. Ohne die zu Hilfe geeilten Geschwader deutscher Messerschmitt Me 262 hätten die Türken und Österreicher Damaskus längst räumen müssen.

Meyendorff strich, ohne sich dessen bewusst zu sein, über seine Rippen und überlegte, was dem Luftflottenstützpunkt Mosul an Nachschub gestrichen werden konnte. Sie waren gut verheilt, die beiden gebrochenen Rippen, er fühlte sich schon fast wieder völlig erholt. Auch die Verbrennungen am Bein schmerzten dank der regelmäßigen Salbungen nicht mehr so stark, und die Wunde am Oberarm war schon völlig verheilt. Ja, er befand sich auf dem Weg der Besserung, dennoch würde er wohl diesen Schreibtischposten nicht so bald verlassen können. Er hatte drei Jahre Frontdienst hinter sich, unzählige Einsätze geflogen, Siege errungen, Schläge einstecken müssen, er war vier Mal abgeschossen worden, aber er lebte noch, er kannte den Krieg zur Luft in- und auswendig. Erfahrene Frontoffiziere, die Verwundungen erlitten hatten, wurden immer im Etappendienst weiterverwendet, vor allem, wenn sie von Adel und prominent waren. Dieses Schicksal blühte nun auch Meyendorff. Nun, zum einen war er froh darüber, denn wer hing nicht an seinem Leben, zum anderen vermisste er die Kameraden und langweilte sich bei der Begutachtung von Formularen. Aber er hatte den Befehl und er gehorchte, er tat seine Pflicht. Die Meinungen der Soldaten zählten nicht, nur der Befehl und die Pflicht.

Es war eine dieser fetten P-47 Thunderbolt Maschinen gewesen, von denen die Amerikaner Hunderte in Nordafrika stationiert hatten. Wenn man diese Kolosse sah, konnte man gar nicht glauben, dass sie so agil waren. Das machte das Triebwerk, der mächtigste Kolbenmotor, der je in ein Jagdflugzeug eingebaut worden war. Die Türken nannten die Thunderbolts fliegende Nashörner, eine Bezeichnung, der Meyendorff etwas abgewinnen konnte. Ein derart schnelles, robustes und stark bewaffnetes Jagdflugzeug war den Amerikanern eine Bauserie wert, von der die Österreicher nur träumen konnten. Baute Österreich-Ungarn einhundert Flugzeuge, so bauten die USA in derselben Zeit mindestens fünfhundert.

Meyendorffs MF-45 Bomber war beim Rückflug von einem nur schwach gedeckten Nachtangriff gegen Tripolis von einer Thunderbolt in der Luft zerfetzt worden. Acht schwere MGs voll auf den Rumpf, da war nicht viel übrig geblieben. Dennoch hatte seine Maschine noch den Weg zum Sinai geschafft. Vier Mann der Besatzung hatten die Bruchlandung überlebt. Meyendorff hatte ein halbverbranntes Bein und Rippenbrüche davongetragen. Fast zwei Wochen hatten sich die vier Überlebenden durch die feindlichen Linien geschlichen und gekämpft, waren den amerikanischen und kanadischen Infanteristen entgangen, ehe sie von türkischen Truppen aufgelesen und in Sicherheit gebracht worden waren.

Natürlich hatte ihre Geschichte Schlagzeilen gemacht. Vier Mann waren, nachdem man sie für verschollen erklärt hatte, zurückgekehrt und hatten nützliche Informationen über die Stärke und Stellung der gegnerischen Bodentruppen mitgebracht. Selbstverständlich hatten die vier Heimkehrer die Goldene Tapferkeitsmedaille erhalten. Meyendorff konnte sich allzu lebhaft an den halb grotesken, halb feierlichen Auftritt von General Kirnbauer erinnern. Mit großem Gefolge und Pomp war der General im Lazarett aufmarschiert und hatte Meyendorff eigenhändig die Medaille an die Brust geheftet. Kirnbauer war betrunken gewesen und hatte patriotische Sprüche angestimmt. Nur ungern erinnerte sich Meyendorff, wie der General mit kameradschaftlichen Schlägen auf den Rücken des heldenhaften Oberleutnants die langsam verheilenden Rippen fast wieder durcheinandergewirbelt hatte.

Aus dem Lazarett entlassen, hatte sich Meyendorff beim General persönlich zum Dienstantritt gemeldet und den Befehl erhalten, den Steuerknüppel eines schweren Angriffsbombers mit dem Bleistift einer Armeekanzlei zu tauschen. Also war er in Konstantinopel geblieben und tat nun Dienst im Fliegerquartier Süd.

Er hatte Mühe, sich zu konzentrieren, er hatte Mühe, den verwirrend vielen Zahlen auf den Papieren vor seiner Nase einen Sinn abzugewinnen. Diese Zahlen schienen irgendeinen bösen Schabernack mit ihm treiben zu wollen, seine Augen mit kleinen Nadelstichen zu quälen, sein Denken immerfort mit Schlangengift zu lähmen. Meyendorffs wahrscheinlich wichtigste Erkenntnis war, dass man als Soldat im Kampf zwar sein Leben, nie aber die Nerven verlieren durfte. Und er hatte es zu einer hohen Auszeichnung und rauschendem Presseruhm gebracht, weil er sich draußen im Kampf an diese Erkenntnis gehalten hatte. Nun aber schienen Stempelkissen gefährlicher als Brandbomben und Bleistifte tödlicher als MGs zu sein. Und dann noch dieser gelbliche Farbstich des Papiers! Er erinnerte Meyendorff an die Gesichtsfarbe Schwerverwundeter, die dem Tod entgegenfieberten. Und dieses Stempelkissen, es ließ ihm einfach keine Ruhe, es machte ihn verrückt. Ständig klappte er den Deckel auf und zu, auf und zu. Rote Stempeltinte, welcher hirnverbrannte Idiot von Etappenhengst hatte bloß rote Tinte in dieses Stempelkissen getan? Hirnverbrannt. Oder besser beinverbrannt. Jedes Mal, wenn Meyendorff den Deckel öffnete, loderte wieder seine Fliegermontur, flammte wieder seine Hose, brannte sein Knie, bald sein Oberschenkel. Er hatte tausendmal am Tag wieder die Mühe, mit den Händen die Flammen zu ersticken, damit nicht sein Geschlecht auch noch Feuer fing. Das war das Eigentümliche an seiner Lebenserkenntnis, die Nerven konnten nicht immer beherrscht werden. Im Moment der Gefahr handelte er fast kühl, jedenfalls sachlich und effizient, darum liebten ihn seine Untergebenen auch, aber im Ruhequartier spielten seine Nerven oft verrückt. So auch hier im Angesicht eines Stempelkissens.

Und dann noch diese Unklarheiten. Wie wird der Krieg ausgehen? Wie wird sein Leben weiter laufen? Wie wird die Zukunft aussehen? Meyendorff hatte tausendmal mehr Angst vor der ungewissen Zukunft als vor einer eingeleuchteten und eingeschossenen Flakbatterie. Die grauen Schleier wollten sich nicht lichten, wenn er überlegte, was morgen, was übermorgen sein könnte oder würde. Wie bequem ließ sich in der Vergangenheit leben. In der Vergangenheit gab es kein Wenn und Aber, sondern nur Tatsachen. Der Held vom Piave, das war nun einmal sein Onkel, daran gab es nichts zu rütteln. Die Durchbruchschlacht bei Gorlice-Tarnów, die zwölfte Isonzoschlacht, die große Seeschlacht bei Otranto, die Durchbruchschlacht am Piave, das waren die Schlüsselereignisse, die Österreich-Ungarn den Sieg im Ersten Weltkrieg gebracht hatten. Das stand fest und gab Sicherheit. Was aber würde den noch viel größeren Zweiten Weltkrieg entscheiden? Würde der nunmehr sechs Jahre dauernde Krieg morgen entschieden sein? Oder noch einmal sechs Jahre dauern? Hermann von Meyendorff öffnete zum hunderttausendsten Mal, seit er Dienst in dieser Kanzlei tat, den Deckel des roten Stempelkissens, starrte kurz in die rote Farbe und schloss ihn wieder. Er fühlte sich einsam, verlassen und hilflos seinen zitternden Nerven ausgesetzt.

Das Telefon klingelte. Dankbar über jede Abwechslung stürzte er sich auf den Hörer.

„Von Meyendorff. Jawohl, Herr Oberst. Danke für die Nachfrage, es geht mir prächtig, bin auf dem besten Weg der Genesung. Jawohl, Herr Oberst, wird gemacht, ich suche Ihnen die Listen heraus. Natürlich streng vertraulich. Am besten bringe ich Ihnen die Listen persönlich in die Kanzlei. Jawohl, Herr Oberst, wird erledigt. In einer Viertelstunde bin ich bei Ihnen. Jawohl, Herr Oberst, auf Wiederhören.“

Meyendorff knallte den Bleistift auf den Tisch und schnellte hoch. Mit Schaudern dachte er an den nächsten Verbandswechsel. Aber nur kurz, denn schon waren seine Gedanken beim Auftrag von Oberst Smekal.