Der 884. Montag

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Der 884. Montag
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Gunter Preuß

Der 884. Montag

Roman eines Rebellen

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Zum Geleit

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

1O.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

Impressum neobooks

Zum Geleit

Fußspuren werde ich hinterlassen,

gute und geheimnisvolle.

Fußspuren werde ich hinterlassen,

wenn ich den Grund reinige.

Fußspuren werde ich hinterlassen,

die in gleichen Reihen liegen.

Fußspuren werde ich hinterlassen,

die heilig sind.

(Lied einer Osage-Frau)

1.

Es begann an einem so verdammt schönen Montag, an dem man sich wünscht, nie aufgewacht zu sein, weil da wieder so eine Woche anfängt, die man zäh kauen, schlucken, aufstoßen und wieder schlucken muss, wie das liebe Rindvieh das grüne Gras. Es war so ungefähr mein neunhundertsechs-unddreißigster Montag. Für die, die nicht wissen, dass ein Jahr meistens zweiundfünfzig solcher gemeiner Tage hat, sage ich, dass ich haargenau an diesem Montag achtzehn Jahre auf dem Buckel hatte. Eigentlich wollte ich ja bei meinem 884. Montag, dem eine Sonntagnacht vorausging, in der ich das erste Mal Beischlaf ausübte, mit zählen aufhören. Ich hatte verdammtes Glück gleich beim ersten Mal an eine wunderbare Frau zu geraten, über die noch zu reden sein wird. Ich schwor mir, keinen Tag älter zu werden. Aber es fragt einen keiner, und wenn man dann doch älter wird, will man schließlich auch alt werden. Wenn mir nun schon jeder Tag wie Montag ist, so sollte mir wenigstens ein blasser Schimmer von meinem 884. Montag bleiben.

Tatsächlich habe ich jeden Morgen Schwierigkeiten, auf meine Gebeine zu kommen. Aber bisher hat es Olga noch immer geschafft mit ihren grausamen Sprüchen von Ordnung, Disziplin und Pünktlichkeit.

Olga ist meine Mutter, achtzig Kilogramm Lebendgewicht, voll emanzipiert, Verkäuferin für diese übel riechenden Wassertiere, deren Geruch ich ständig mit mir herumschleppe, nur dass ich einmal nach Karpfen, das andere Mal nach Kabeljau oder grünen Heringen dufte. Olga war schon in Vorwendezeiten Fischverkäuferin. Doch damals verkaufte sie nur Makrele roh, geräuchert und in Aspik, während sie jetzt vom Stichling bis zum Weißen Hai alles in der Vitrine aufgebahrt hat. Früher leitete sie den Schuppen und hatte nach acht Stunden Feierabend. Heute hat sie nur noch Bitte und Danke zu sagen und muss vor dem Ladenbesitzer zu all dem Fisch noch Bücklinge machen.

Manchmal hält mich einer dieser organisierten Verrückten, die diesen Tieren mit der Angel nachstellen, an und will wissen: "Beißen sie heute? Hast du mit Wurm oder Teig geködert?" Wenn es mich wirklich mal packen sollte und ich Lust verspüre, jemanden vom Leben zum Tod zu befördern, dann bestimmt an einem Montagmorgen so einen Fischkranken.

Olga stand also am besagten Montag vor meinem Bett und ließ ihre Sprüche auf mich los.

"Nun tritt schon ab, Olga", sagte ich missmutig, verdammten Räucherfisch in der Nase. "Du hast gewonnen, okay?"

Ich setzte mich gleich im Bett auf und drückte muntere Froschaugen. Meine alte Dame sollte gleich ihren Abgang machen und sich nicht erst noch zu einer Zugabe hinreißen lassen. Aber sie trat nicht ab, ohne mir vorgebetet zu haben, wie glücklich ich mich schätzen müsste, nach dem Rausschmiss aus der Bildungsanstalt für Eierköppe, die sich Gymnasium nennt, endlich eine Lehrstelle bekommen zu haben. Danach sang sie mit gefalteten Händen, dass ich nun endlich Vernunft annehmen, mich wie jeder andere Mensch zusammenreißen und meinem Lebensweg ein ordentliches Ziel geben soll ...

Wie immer, wenn sie mit Olga durchgingen, sah ich auf so einen Spruch, der in grüner Farbe an meiner Zimmerdecke verewigt ist. Ich habe ihn von einem großartigen Biologen, der immer noch an den lieben Gott und den Kommunismus glaubt und inzwischen Penner geworden ist, was die Besserwisser wohl Karriereknick nennen. Ich war dabei, als er den kleckernden Straßentauben einen Vortrag über die Unsterblichkeit des Menschen hielt: Auf dem modulationsbegrenzten tierischen Miau-Miau, Mäh-Mäh, Wau-Wau oder Muh-Muh lässt sich ebenso wenig eine hoch entwickelte Kultur aufbauen, wie auf dem Blabla mancher menschlicher Zeitgenossen.

Eigentlich gehörte so ein Spruch an jeden Spiegel gesteckt. Aber da ihn dort wohl keiner sehen will, bewahre ich ihn solange in meinem Zimmer auf, bis es mal Gesetz wird, dass er in jedem Versammlungsraum gut sichtbar angebracht sein muss.

Endlich war ich allein. Ich stellte mich vor den Spiegel, gähnte und dachte: Ein Scheiß ist das. An so einem Tag darf man doch keinen Job anfangen. Das muss einfach schiefgehen. Bisher bin ich jedes Mal gegen irgendeine Mauer gerannt, egal ob ich den Vor- oder den Rückwärtsgang eingelegt hatte. Und immer hatte es an so einem verdammten Montag angefangen.

Und schöner war ich auch nicht geworden. Ich habe eigentlich, seit ich denken kann, so ein ausgesprochenes Montagsgesicht. Man muss sich einen Kopf vorstellen, irgendeinen Kopf, fast kahl, nur etwas Flaumhaar bedeckt die Schädelmitte, als hätte dort ein Vogel begonnen, sein Nest zu bauen, was er bald aus Materialmangel wieder aufgegeben hat. Und das mit achtzehn Sommern. Am Anfang habe ich mir literweise Haarwasser auf den Schädel gekippt, aber dann musste ich einsehen: Auf Asphalt kann nun mal kein Gras wachsen. Und einen harten Schädel hab ich, verdammt noch mal".

Zwischen die Mutzeln habe ich eine kleine blaue Feder gesteckt. Ich habe sie vor Jahren bei einem Klassenbesuch im Indianermuseum aus einem Häuptlingsstutz, in dem sie selbstvergessen zwischen Adlerfedern steckte, mitgehen lassen. Die Mutzeln können das Federchen nicht immer festhalten. Schon der erste Windstoß lässt es hinters Ohr rutschen, und ich sehe aus wie die linke Hand von einem Buchhalter.

Nun, ich lasse es über der Oberlippe und ums Kinn herum sprießen. Was da gedeiht, ist auch nicht zum Hinschmeißen, aber es sind wenigstens Haare, wenn sie auch so ein paar Farbblinde rot nennen. Für mich sind sie höchstens kupferfarben bis goldbronzen, zu sehen sind sie jedenfalls, wenn man sich die Zeit nimmt, genau hinzugucken. Das edelste der zu meinem Kopf gehörenden Teile ist meine Römernase, an der es rein gar nichts auszusetzen gibt, vielleicht nur, dass sie eben nicht in mein Gesicht passt. Von meinen Augen haben alle meine Pauker behauptet, dass sie unverschämt und anmaßend blicken würden. Mein Mund wäre sinnlich, so jedenfalls hat es mal eine Lady aus unserer Straße gesagt, die mit sechzehn schon einwandfrei auf den Strich ging und als Schulkleidung Strapse bevorzugte. Sie wusste genau Bescheid, wie es die Bienen miteinander machen. So etwas nennt man Spezialistin. Sie gab der Biologielehrerin keine Chance.

Der verdammte Uhrzeiger war nicht aufzuhalten. Ich warf mich also in Schale, - Billigjeans, Ramschlederweste und Sandalen aus Neandertal -, sprang auf meinen Siebentagerenner und strampelte durch die unbelüftete Stadt, um Olgas Spruch über Pünktlichkeit in Erfüllung gehen zu lassen.

2.

Endlich sprintete ich in den Krankenhauskomplex der Uni ein, ohne Freudenschreie und Beifallsrauschen. Es war ein schäbiger Irrgarten mit je-der Menge Filmkulissen: Pappbaracken, altersschwache Häuser und halb fertige Neubauten. Dann stand ich vor so einem Schuppen ohne Gesicht. Ich sah die vielen Steine, die man da aufeinandergesetzt hatte und hinter denen ich nun verschwinden sollte.

 

Über der Haustür stand in bröckelnder Goldschrift: PATHOLOGIE. Also so eine verdammte Fabrik, in der Leichen in Teile zerlegt und durch den Schornstein verraucht werden.

Mir war wie bei meinem eigenen Begräbnis. Ich verfluchte die pingeligen Medizinmänner, die mich für die Arbeit auf See als untauglich eingestuft hatten. Nur weil mein Herz nicht ganz nach ihren Vorstellungen schlägt. Dabei bin ich ganz zufrieden mit meiner Pumpe. Ich weiß wenigstens, dass ich eine habe, wenn sie mal sticht.

Wenn es nach mir ginge, wäre ich schon längst auf See. Ich würde in Alexandria, London oder Odessa an Land gehen und endlich tief durchatmen können. Ich brauchte mir nicht immer wieder erzählen zu lassen, wie gut es mir doch ginge, dass ich zufrieden sein könne und sich jeder Mensch seinem Schicksal fügen und den Gegebenheiten anpassen müsse.

Meinen Platz im Leben soll ich finden. Aber man weist mir dauernd einen an, auf dem ich es aushalten soll. Alle müssten das. Doch ich kann es nicht. Sie haben nur Stehplätze außerhalb des Zirkuszeltes für mich, von denen aus man absolut gar nichts mitkriegt und auf Wakan Tanka hoffen muss, dass er es endlich Licht werden lässt. Und wenn du dann wirklich mal einen Sitzplatz erwischst, ist es ein Notsitz, auf dem du mit hunderttausend anderen sitzt und womöglich ein Leben lang festklebst, obwohl du inzwischen mitgekriegt hast, dass du in der falschen Vorstellung sitzt. Es will ja jeder nur mein Bestes, solange es sein Bestes ist.

Ich parkte also mein Rad im Innenhof der Pathologie, in einer langen Rei-he Leichenwagen. Noch einmal sah ich in den Sommerhimmel, der blau war wie das Meer und in dem die Sonne als unerreichbare goldene Insel schwamm. Schon gut, aber in so einem Montagmorgenaugenblick kann auch ein sogenannter Normaler Wahnvorstellungen bekommen.

Ich öffnete vorsichtig die schwere Tür. Es schlug mir ein Duft von Formalin, ein Saft, in dem die Innereien dahingegangener Homo sapiens konserviert werden, entgegen. Mein Magen ist stabil wie eine Blechbüchse, aber jetzt begann er doch, sich von innen nach außen zu wenden.

Ich gab mir einen Tritt, tauchte im Gemäuer unter, lief durch irrsinnig lange Gänge, in denen es nach Kaffee roch, als wäre ich in einer türkischen Mokkastube gelandet. Links und rechts Türen, Namensschildchen von Leuten, die alle ihren Platz im Leben gefunden hatten. Auf den Gängen wimmelte es von Weißkitteln. Sie hatten es furchtbar eilig, als könnten sie ihre Leichen ins Leben zurückrufen. Im Keller, an der Stelle, wo es am dustersten war, fand ich die Technikleute.

Da hockten meine zukünftigen Kollegen um einen Tisch herum. Sieben Mann, der eine telefonierte, der andere stieg aus den langen Unterhosen, der dritte bastelte an einem Radio, das bestimmt schon existiert hatte, bevor es überhaupt erfunden war. Der eine quälte die anderen gerade mit einem Witz. Und die anderen taten auch nichts.

Der Raum war ein Loch. Es war mit zwei großen Blechschränken, aus denen es bedrohlich summte, mit Spinden, Stühlen, Tischen und Werkzeugtaschen verstopft. Nur der Einschlupf war freigelassen. Es roch nach Tod und Teufel, sodass ich mich nach Olgas Fischgestank zu sehnen begann. Ich blieb in der Tür stehen, sagte nur: "Tag, ich bin wohl der Neue."

Nun musste ich stillhalten und mich beglotzen lassen wie eine Bakterie unterm Mikroskop. Dann stand so ein schniefender Walrosstyp auf. Er hatte sich soeben noch mit seinen Greifern an den Zehen rumgepolkt. Er watschelte auf mich zu und hielt mir seine Flosse hin, die ich aus Gründen der Hygiene übersah. Das schien ihn zu grämen, denn er sagte: "Mein Name ist Firat. Dir ist wohl die Hand deines Meisters nicht gut genug, he? Bist wohl ein ganz Feiner? Du musst nicht denken, dass du hier auf dein Abitur pochen kannst."

"No insults please!"

"Sprich ein ordentliches Deutsch mit mir. Wir sind jetzt alle wieder Deutsche. Oder bist du etwa gar kein Deutscher? Na, das würde passen. Das wäre dir zuzutrauen, he. Man hat uns ja schon von amtlicher Stelle vor dem Früchtchen gewarnt."

"Scheißmontag", unterbrach ich ihn. "Polkst du immer erst an deinen Zinken rum, eh du jemandem Tag sagst?"

Die anderen grinsten. Mir stand schon alles bis oben hin, obwohl es doch noch gar nicht richtig angefangen hatte.

"Du?", sagte Firat und schüttelte bedeutsam das Haupt. "Für dich bin ich Sie. Damit wir uns gleich richtig verstehen: Du bist der Lehrling. Ich bin der Meister."

Ich knallte die Hacken zusammen, was leider verpuffte, weil ich nur Sandalen und keine verdammten Kommissstiefel anhatte.

Ich riss die rechte Hand zur Denkerstirn und rief: "Habe verstanden!"

Den Walrosstyp kannte ich. In der Verblödungsanstalt hatten wir so einen Lehrer. Der konnte es nicht verkraften, wenn jemand etwas mehr wusste als er. Dieser Firat würde so lange nicht aufgeben, sein Maul an mir zu wetzen, bis ich nur noch lachte, wenn er einen Witz riss.

Firat säuselte mich weiter an: "Bisher scheint sich keiner um dich gerissen zu haben. Wir sind hier eine eingearbeitete Truppe. Wer nicht auf dem Arbeitsamt Schlange stehen will, muss ranklotzen. Hast du eigentlich einen Schimmer, was du hier lernen sollst?"

"Sie werden es mir bestimmt gleich sagen, Sir."

"Also", begann Firat mich zu belehren. "Wir sind hier für alles verantwortlich, was mit Schwachstrom zu tun hat. Und was alles hat mit Schwach-strom zu tun?"

Ich tippte mit dem Zeigefinger an meinen Denkapparat, in dem die grauen Zellchen den Aufstand probten. Die anderen feixten wieder. Aber Firat ließ sich nicht beirren wie alle, die meinen, es besser zu wissen und andere damit quälen. Er erklärte, dass Schwachstrom für Telefone, Faxgeräte, elektrische Uhren und den Notruf gebraucht werde. Und die Geräte müssten sie tadellos in Ordnung halten.

Firat sah mich an, als müsste ich ihm für seine Mitteilung aus Dankbarkeit die Hand küssen.

"Ist okay", erwiderte ich lahm. Ich wusste nicht, was mich hätte in Begeisterung versetzen sollen.

Firat klappte erst einmal sein Walrossmaul zu, nickte zufrieden und beschielte mich aber weiterhin misstrauisch. Ich konnte damals noch nicht wissen, dass der Mann immer so guckt.

Plötzlich zog mich so ein von Geburt an Zerknitterter auf einen Stuhl. Er sagte, als stände ihm für jedes Wort eine Ewigkeit zur Verfügung: "Setz dich erst mal. Mutzelkopp. Ich bin Kauer. Du bist mein neuer Kollege. Egon hat sich vor einer Woche davongemacht. Direkt aus dem Fenster seiner Wohnung. Fünfzehnter Stock. Todsicher."

Kauer war nicht viel älter als dreißig. Das sagte er mir gleich, denn ich hätte es nicht geglaubt. Er hatte tatsächlich eine verblüffende Ähnlichkeit mit einem indianischen Schrumpfkopf. Nur seine Mutter hätte genau sagen können, wie viele Sommer er schon gesehen hat.

Kauer machte mich nicht neugierig. Er passte zu diesem Montag, von dem ich sowieso nichts erwartet hatte. Kauer war so einer, der die Ruhe auf Lebenszeit gepachtet und für jedes Wehwehchen auch gleich die passende Medizin bereitliegen hatte. Und wenn ihm doch mal was passiert, ist er dagegen versichert.

Nun hatte der Typ mir auch noch so einen verdammten Namen verpasst – Mutzelkopp. Ich sagte, ich heiße Bruno Jäger. Aber er war stocktaub auf bei-den Ohren. Er erklärte mir lang und breit, wie meine Arbeit verläuft: also früh erst mal eine halbe Stunde vor Arbeitsbeginn zur Stelle sein, rein in den blauen Strampler, dann den Anweisungen von Meister Firat lauschen, und nun ran ans Werk: Kabel verlegen, Störungen beseitigen, damit die Patienten die Schwestern mit dem Notruf auf Trab halten und die Chefs wieder mit ihren Bumsdamen telefonieren können und das ganze Gesäusel nicht außer Gang kommt. Das ist ziemlich frei übersetzt, aber es stimmt genau.

"Nachmittags", flüsterte Kauer und sah sich um, als würde er mir den Plan für einen Banküberfall verraten. "Nachmittags ist dann auch mal ein Minütchen Zeit. Das heißt, wenn wir alles geschafft haben. Da können wir in Mutters Stullen beißen. Und ein Nickerchen machen. Ist doch in Ordnung. O-der?"

3.

Ich verlor kein Wort, dachte, hältst es wie die Drei Affen, Olga zuliebe. Irgendwo musst du es auch mal durchstehen und wenn du totgehst dabei. Schon lange vor meinem Abgang vom Gymnasium sah ich einfach kein Land mehr. Als ich dann den Schulmief hinter mir hatte, dachte ich, jetzt geht es richtig los, jetzt liegt aber was an, Junge, jetzt kippst du die Welt aus den Angeln und hängst sie wieder richtig ein.

Meine Mutter wollte unbedingt, dass ich mein Abi mache und Pauker werde wie mein zweiter Vater. Aber ich hielt es keinen Tag länger in diesem Bildungsgefängnis aus. Die Lehrer wären den Unruhestifter mit pathologischem Widerspruchsgeist gern losgeworden. Doch blöderweise fabrizierte ich nur Einsen, ohne die grauen Zellchen in Aufregung zu versetzen. Und Olga drohte mit einem spektakulären Suizid und vor allem mit Sperrung jeglichen Taschengeldes, wenn ich freiwillig die Schule aufgeben würde. Also musste ich mir was einfallen lassen, wenn ich nicht von einem Schulknast in den anderen kommen wollte. Obwohl einige Pauker an unserer Schule ehemals stramme Rote waren, sahen sie sich jetzt als Widerstandskämpfer gegen die rote Barbarei. Schlimmer als jede Messerstecherei bestraften sie Verstöße gegen Grundgesetz und Demokratie, die sie Hausfrieden nannten. Wenn sie jemals ein Rückgrat besessen hatten, war es ihnen nun endgültig gebrochen worden. Um im Schuldienst bleiben zu dürfen, hatten sie sich tausendmal durchleuchten lassen. Ihr Über-Ich hieß jetzt nicht mehr Lenin, sondern Herrgott, und ihr höchster Vorgesetzter saß nicht mehr im Kreml, sondern im Vatikan.

Ich hing mir also ein ehemaliges Reklameschild für irgendeinen Fleckentferner, das einmal eine Hauswand bedeckt hatte, vor den Bauch. Darauf hatte ich in roten Glanzbuchstaben ein paar Worte aus dem Kommunistischen Manifest von den Opas Marx und Engels geklebt: Die Kommunisten erklären es offen, dass ihre Zwecke nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnungen. Mögen die herrschen-den Klassen vor einer kommunistischen Revolution zittern. Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen. Proletarier aller Länder, vereinigt euch!

Aus der Schule, vor ein paar Jahren noch eine sozialistische Erweiterte Oberschule, ist inzwischen ein katholisches Gymnasium geworden. Eine Seltenheit im evangelischen Sachsen. Wo vorher die Riesenbirnen von Marx und Lenin gestanden hatten, waren jetzt die Jungfrau Maria und der gekreuzigte Jesus aufgebaut. Innerhalb einer Woche war ich gefeuert. Es hatten jede Menge Verhöre im Direktorenzimmer stattgefunden, die sie freundschaftliche Gespräche nannten. Der Oberschlappsack, der sich Schuldirektor nannte, und ein nikotingelber Onkel, den ich noch nie gesehen hatte, wollten wissen, welcher extremen kommunistischen Organisation, die den Umsturz plant, ich angehören würde. Ich erzählte ihnen großartige Storys, Material für eine dreizehnteilige Thrillerserie. Bestimmt marschiert ihnen heute noch ein Tausendfüßler übers Kreuz. In jedem Fall, so meinten sie, würde meine aggressive Weltanschauung nicht in das friedlich geprägte Weltbild ihres Gymnasiums passen. Es stände mir ja frei, meine Ausbildung an einer anderen Schule zu beenden.

Die härteste Strafe waren nicht die Pauker, obwohl sie keinen zu Begeisterungsstürmen hinrissen und von Geburt an schon auf die Rente warteten. Am übelsten waren die Schüler. Allesamt Ableger von verdammten Ehrgeizlingen. Für eine gute Zensur hätten die meisten ihre Großmutter auf dem Trödelmarkt verkauft.

Nach meiner Entlassung heulte ich weder aus Freude noch aus Trauer. Mir war einfach nur knochenkalt. Zuerst saß ich zu Hause im Wohnzimmer vor der flimmernden Bildröhre und konnte nichts mit mir anfangen. Dann transportierte ich aus einer Bibliothek jede Menge Wälzer in mein Zimmer. Ich aß Kartoffelchips und ähnliche Fettmacher, trank Cola und las mich durch Hermann Hesses Bibliothek der Weltliteratur.

Ich dachte tatsächlich, dass ich mein Dasein mit Lesen, Kauen und Schlucken verbringen könnte. Dann aber rieselte mir der Kalk aus den Gebeinen in den Denkapparat. Ich wusste nicht mehr, was ich lese, wer wo hingehört und wo was passiert ist. Die Jahrhunderte quirlten durcheinander. Ich fühlte mich abwechselnd als Don Quichotte, Hans Castorp, Madame Bovary, Grüner Heinrich, Gretchen und wie sie alle heißen. Ständig musste ich die Gefühle wechseln. Und ob Männlein oder Weiblein, sie alle hatten wenig Grund zum Lachen und dafür jede Menge Ärger am Hals.

 

Ich keuchte schon, wenn ich mich von der Liege zur Toilette und zurück-schleppte. Meine Rettung war, dass Olga mich gewaltig mit Vorwürfen nervte. Immer wieder hielt sie mir meinen Paukervater als leuchtendes Beispiel eines braven Mannes vor Augen.

Von den Typen, die sich Väter nannten, hatte ich drei. Dabei hätte mir ein Richtiger schon genügt. Den Ersten, der an meiner Fabrikation beteiligt war - ich nenne ihn Jack, den Seemann - kenne ich nur von einer Fotografie. Sie ist leider so verwischt, dass sie alle Deutungen vom Missionar bis zum Massenmörder offenlässt. Bei Olgas Sprüchen kommt Jack ziemlich schlecht weg, ohne dass sie was Konkretes verrät. Ich kann mir nur zusammenreimen, er hat sich am Sozialistischen Friedenswall seinen Kopf verbeult. Und als er den Makrelengestank nicht mehr aushalten konnte, ist er über die Ostsee nach Dänemark gepaddelt. Von dort aus hat der alte Wikinger die Weltmeere befahren und ab und zu mal Landluft geschnuppert. Es gibt eine Ansichtskarte vom Hafen in Rio. Darauf fragt er bei Olga an, warum sie denn nicht auf seinen Brief antwortet und was sie zu seinem Vorschlag sagt? Ich denke, Jack hätte es gern gesehen, dass Olga und ich über die Grenze segeln und zu ihm kommen. Aber Olga wollte wohl nicht. Sie war in der Partei und hätte den Kommunismus nie verraten, wie sie heute noch sagt. Und jetzt verrät Olga den Kapitalismus nicht, denn sie glaubt an das Gute. Gut ist für sie, was sie ihr erzählen, dass es gut sei.

Mein zweiter Vater war Pauker. Er lehrte mich, den Mund aufzumachen, bevor es in die Hose ging. Der Mann war Spezialist in Geburts- und Todestagen von berühmten Leuten. Er roch nach Kreide und war so ein Pykniker mit durchgesessenen Hosen. Der Dritte schließlich war Buchhalter. Er hatte ein Heft, das er mit verklemmten Witzen vollkleisterte. Wenn er bei einer Familienfeier randvoll war, las er daraus vor. Olga hat die letzten zwei ordnungsgemäß unter die Erde gebracht. Beide auf einem Fleck. Platz hat sie noch für zwei, drei mehr gelassen.

Am liebsten ist mir Jack der Seemann. Wenn ich manchmal sein Bild an-sehe, schmecke ich das Salz des Meeres, spüre einen frischen Wind um meine Nase wehen und rieche geteerte Decksplanken. Der Seemann ist verschollen. Keiner spricht mehr von ihm. Auch Olga ist kein Sterbenswörtchen zu entlocken. Ab und zu trinken Jack und ich ein Glas Grog zusammen. Wenn bei mir der Pegel auf Null steht. Er ist ein verdammt feiner Kerl. Nur ist er wie alle feinen Kerle ein Gespenst, das einem zwar oft im Kopf herumspukt, aber nie lebendig werden will. Das muss doch einen Grund haben.

Da es mit der christlichen Seefahrt bei mir nichts wurde - wegen meiner Pumpe eben -, ist mir Schwachstromer schon lieber als Pauker. Heraussuchen konnte ich mir die Lehrstelle nicht. Nach tausend Bewerbungen hätte ich höchstens noch Verkäufer werden können. Aber ich will am großen Beschiss nicht teilhaben und all den teuren Müll unter die Leute bringen. Als Friseurlehrling hätte es wohl auch noch geklappt, das Strohgeschäft fährt jede Menge Kies ein. Denn wer nichts im Denkapparat hat, will wenigstens einen schnurgeraden Scheitel oder Locken darauf haben.

Bevor ich in der Pathologie bei den Technikfreaks gestrandet bin, fuhr ich auf dem Güterboden Kisten in die Waggons und andere raus. Ich hätte es dort bestimmt eine Woche länger ausgehalten. Doch so ein granitalter Gehirnamputierter, der als Nachtwächter engagiert war, erzählte uns immer wieder aus dem Krieg, wie er sich durch ganz Frankreich gebumst und nur von verdammtem Champagner gelebt hätte. Und wie sich die heutige Jugend in die Hosen scheißen würde, wenn es mal plauzen täte. Ich konnte keinen Tag länger bleiben, sonst wäre was passiert, wofür es keine Bewährung gibt.

Danach ging ich zum Theater. Dort habe ich fleißig Kulissen geschoben und mir jeden Abend die vermotteten Arien von einem knödelnden Othello und einer runtergebrannten Desdemona anhören müssen. Hier hat es mir am meisten gestunken. Die Leute haben den ganzen Tag großmäulig von Mitsprache bei Besetzungsfragen gesäuselt. Doch in Wirklichkeit hatten sie mächtige Angst vorm Intendanten. Sie sanken schon auf die Knie, wenn nur sein Name genannt wurde. Den Rest aber gaben mir ein paar schwule Freddys vom Ballett gegeben, die nach Veilchenseife und Kölnischwasser mieften und einander Eifersuchtsszenen machten. Das alles fand ich noch ganz in Ordnung. Aber als dann einer hinter mir her war, wie ich noch nie hinter einem Mädchen, nahm ich meinen Abschied.

Nun war ich also in diesem Kellerloch auf Grund gelaufen. Ich hörte von weither Schiffssirenen rufen und Möwen schreien. Ich wollte gerade eine exakte Kehrtwende vollziehen, da drückte mir Kauer eine Werkzeugtasche in die Hand und sagte: "Na denn, Mutzelkopp, wollen wir mal."

Mutzelkopp - ich hieß schon Säckel, Bruni, im Paukklub Einstein, in meiner Punkerzeit Grüne Wolke, bei den Neo-Glatzköppen Göbbels, und die Gruftis riefen mich Schneller Tod. Aber niemals hieß ich Mutzelkopp. Das schmeckte mir doch verdammt fischig. Ich hätte dafür Kauers pomadisierten Skalp von seinem Schädel ziehen sollen.

Doch ich gab den anderen ordentlich Pfötchen und machte vor jedem einen Knicks. Sie hatten allesamt einen Blick drauf, als wüssten sie nicht, in welche Schublade sie mich stecken sollten. Aus der Neuzeit war von ihnen keiner mehr. Sie waren alle Mittelalter bis finsterstes Tertiär. Schimmel hatte jeder schon angesetzt in diesem Verlies.

An der Tür stieß ich mit Firat zusammen. Meine blaue Feder rutschte hinters Ohr, was ich sofort korrigierte. Ich habe keinen Schimmer, ob der Terz beabsichtigt war. Aber er sah mich an, als sollte ich eine stilreine Entschuldigung loslassen. Ihm war eine Zange aus der Werkzeugtasche gefallen. Er machte keine Anstalten, sich zu bücken. Alle standen an der Tür und guckten auf die Zange und auf mich. Schließlich krümmte sich Kauer und steckte das Werkzeug in Firats Tasche zurück.