Tatort Nordsee

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20

Um 9 Uhr morgens des nächsten Tages glich der Deichabschnitt an der Ostkrümmung einer belagerten Festung. Polizeiwagen und andere Pkws parkten, wo gerade Platz war. Der große Auflauf hatte sich in Windeseile herumgesprochen, und plötzlich hatten einige Bewohner erstaunlich viel Zeit nachzuschauen, ob es etwas zu sehen oder zu hören gab am Deich, wo jemand versucht hatte, Lübbert Sieken umzubringen. Die Köpfe steckten zusammen, eine Variante jagte die andere, ein Gerücht hielt nicht lange vor, schon war das nächste in Umlauf.

Die Polizei hatte das Gebiet großräumig abgesperrt, rot-weiße Plastikbänder gespannt, und einige Beamte waren ausschließlich damit beschäftigt, diejenigen, die versuchten, näher an das Geschehen heranzukommen, mit freundlichen, aber bestimmten Worten zurückzuweisen.

August, Wiard und Lübbert waren privilegiert. Sie standen auf der Deichkrone, zusammen mit Ulfert Ulferts und Tanja Itzenga. Einige weitere Polizisten waren vor Ort. Ein paar hatten ihre Digitalkameras gezückt und knipsten fleißig Bilder, andere suchten scheinbar planmäßig die nähere Umgebung ab, Sonstige schauten nur hier und da herum. Manche waren wohl einfach wichtig, so schien es jedenfalls, ohne dass man feststellen konnte, warum sie eigentlich dort waren.

»Und hier standen Sie, als der Schuss fiel?«, fragte Tanja Itzenga.

»Ja«, antwortete Wiard, und auch August bestätigte: »Genau hier.«

»Wo hielten Sie sich auf, Herr Sieken?«

»Na, eben hier«, antwortete dieser. Seine Schulter war verbunden und sein Arm in ein Tragetuch eingewickelt, das um den Hals des Versehrten geschlungen worden war und dem Arm Halt gab.

»Herr Sieken«, Tanja Itzenga wurde deutlicher, »das ist mir bekannt, wo, ganz genau, meine ich, und wohin haben Sie geschaut, in welche Richtung hatten Sie den Rücken gekehrt?«

»Tja«, Lübbert dachte ein wenig nach, »also ich stand etwa zwei Meter von den beiden entfernt«, er ging ein Stückchen weiter, »ungefähr hier. Ich sah in die Richtung von Herrn Saathoff und Herrn Lüpkes, also von hier in Richtung Ost-Süd-Ost, so in etwa.« Er versuchte, sich so aufzustellen, wie er am Abend gestanden hatte, als der Schuss fiel. Er war erstaunt, dass er sich dessen nach so kurzer Zeit nicht mehr sicher war.

»Nein, du warst etwas weiter von uns weg«, warf Wiard ein und machte drei, vier Schritte weiter als Lübbert.

»Nein, wir haben uns schließlich unterhalten, bei dem Schietwedder hätten wir das nicht tun können, wenn ich hier hinten gestanden hätte.«

»Ganz bestimmt«, bestand Wiard auf seine Version, »hier war es, hier bist du angeschossen worden. Allenfalls ein kleines Stück weiter noch …« Wiard machte ein, zwei Schritte und stand an einer etwas anderen Stelle als Sieken.

»Klar, und wo ist das Megafon, das ich dann hätte benutzen müssen? Nein, Wiard, du irrst dich.«

Tanja Itzenga schritt ein: »Also bitte, so kommen wir nicht weiter. Nichts gegen Sie, Herr Lüpkes, aber ich habe den Eindruck, der Betroffene selbst weiß am besten, wo er stand.«

»Herr Sieken hat recht«, mischte sich August ein, »er stand genau hier.« August stand nun da, wo Lübbert eben gestanden hatte: »Hier ist er angeschossen worden, Wiard und ich standen etwa so dabei«, er drehte sich ein wenig, »und dann sackte Lübbert … Herr Sieken nach hinten weg.«

»Das ist doch was«, meinte Tanja Itzenga kurz, während Wiard August einen scharfen Blick zuwarf. Itzenga ging zu zweien ihrer Kollegen, streifte dabei beinahe August. Der wollte, bedingt durch seinen biologischen Rhythmus, eigentlich gerade ausatmen. Nun aber sog er stattdessen noch etwas mehr Luft ein, die für einen Augenblick durchmischt war mit dem Duft des Parfums der Hauptkommissarin, dezent zwar, doch deutlich wahrnehmbar für Augusts Nase. Das erschien ihm besser als Kuhstallgeruch, viel besser.

Itzenga besprach sich mit ihren Leuten. Kurze Zeit später gingen die Beamten langsam und aufmerksam nach links und rechts schauend in die Richtung, aus der nach den Angaben Lübberts der Schuss gekommen sein musste. Sie hatten den Bereich schon einmal abgeschritten, doch nun mussten sie es erneut, noch sorgfältiger, keinen Quadratmillimeter auslassend und den Radius ihrer Suche erweiternd. Irgendwo eine Patronenhülse, ein verlorenes Taschentuch, ein Fußabdruck – es musste doch Hinweise geben. Sturm und Regen hatten ganze Arbeit geleistet.

Hauptkommissarin Itzenga sprach längere Zeit mit ihrem Kollegen Ulferts, der von Zeit zu Zeit stark gestikulierte, hierhin und dorthin zeigte und den Eindruck machte, als vertrete er eine andere Meinung als seine Chefin. Eine Polizistin, die eben mit Kollegen in Schussrichtung abgerückt war, kam unvermittelt schnellen Schrittes zurück. Sie hatte Handschuhe an, was Routine war, denn bei den nächtlichen Wetterbedingungen war es mehr als wahrscheinlich, dass Spuren jedweder Art verwischt worden waren.

»Ich habe hier etwas Interessantes«, sagte sie zu Tanja Itzenga, und die beiden entfernten sich ein wenig von den anderen, um ungestört reden und sich das ›Etwas‹ ansehen zu können. Ulfert Ulferts gesellte sich zu ihnen, und die drei machten plötzlich einen wesentlich zufriedeneren Eindruck. Dann kam Ulferts zurück zu Wiard, August und Lübbert. Sie hatten das Treiben, ohne recht eingebunden zu sein, schweigend mit angesehen.

»Unsere Kollegin hier hat zwei Patronenhülsen gefunden, ganz neu, zwar reichlich nass, aber die könnten gestern verloren gegangen sein, oder sie sind vergessen bzw. achtlos weggeworfen worden, wie Jäger das wohl mal machen.«

»Jäger gibt es hier ja schon ab und zu. Wenn es aber der Schütze war? Das ist vielleicht ein Anhaltspunkt, oder?«, kommentierte Wiard, der meinte, etwas sagen zu müssen, weil Ulferts offenbar eine Antwort erwartete.

»Hat einer von Ihnen ein Gewehr?«

»Also ich nicht«, beeilte sich Wiard zu betonen. »Schießen ist nicht so mein Ding.«

»Ich auch nicht. Kein Interesse. Beim Bund musste ich schießen, und seitdem habe ich die Nase voll davon. Ich habe zwar einen Jagdschein, war aber in meinem Leben vielleicht zwei-, dreimal auf Jagd. Keine Zeit und, wie gesagt, eigentlich gar kein Interesse«, pflichtete August bei.

»Wieso fragen Sie uns?«, wollte Lübbert wissen. »Meinen Sie, meine Freunde hier wollten mich erschießen?«

»Sie haben doch sicher schon ›Tatort‹ oder ›Polizeiruf 110‹ gesehen – Kommissare müssen allen Spuren nachgehen.« Die Hauptkommissarin war inzwischen zu ihnen getreten und sah die drei Männer mit durchdringendem Blick an.

»Prima Theorie und gute Schlagzeile: ›Polderbewohner erschießen Nachbarn‹. Ich kenne eine Zeitung, die könnte das ruckzuck ganz groß aufmachen«, meinte Lübbert, beinahe etwas erbost. August wurde indessen blass. Mordverdächtig?

»Und wie hätte das funktionieren sollen? Schließlich standen wir alle drei hier nebeneinander«, warf er ein.

»Wer sagt denn, dass die Version, die Sie mir erzählt haben, so auch stimmt?« Itzenga musterte ihn mit kritischem Blick.

»Sie glauben uns nicht? Das nenne ich aber massives Misstrauen.«

»Das gehört zu meinem Job. Wenn ich jedem alles glauben würde, könnte ich meine Arbeit nicht machen. Sie glauben gar nicht, was einem alles aufgetischt wird. Und die Leute blicken einem fest in die Augen und sind gerne bereit, einen Eid auf ihre Aussage zu leisten. Ich sage aber gar nicht, dass ich Ihnen nicht glaube. Ich muss lediglich alle Möglichkeiten ausloten.«

»Und man hat schon Pferde kotzen sehen«, fügte Ulfert Ulferts hinzu und fuhr fort: »Aber die Wahrscheinlichkeit ist gering, dass es einer von Ihnen war, das gebe ich zu. In Ihren Dateien war auch nichts weiter zu finden, daher glauben wir Ihre Version erst einmal.«

»Dateien?«, staunte August.

»Personendatenbank für bundesweite Fahndungen«, antwortete Ulferts.

»Und da stehe ich drin?«

»Nicht direkt«, erklärte jetzt Tanja Itzenga, »aber für uns ist es ein Leichtes, ganz schnell eine Menge Informationen über jedwede Person zusammenzutragen.«

»Ach, das ist mir neu«, August war sprachlos, und Wiard meinte nur: »Da siehst du mal, wie naiv du bist. Big brother is watching you. Die wissen alles über uns, und wir wissen gar nicht, wer uns schon registriert hat und wo und warum, wo Fotos gespeichert sind und wie viele Kredite wir zu welchem Zinssatz bei welcher Bank haben.«

»Im Moment ist unsere Recherche günstig für Sie – und über Ihre Kredite dürfen wir nicht reden«, lachte Itzenga. »Aber davon abgesehen – kennen Sie Leute hier im Polder, die ein Gewehr besitzen, die auf Jagd gehen, die Jäger sind?«

»Es gibt außer August einige mit Waffenschein im Polder«, bestätigte Wiard.

»Dann nennen Sie uns mal ein paar Namen. Wir müssen so schnell wie möglich denjenigen finden, der hier herumballert. Er scheint nicht ungefährlich zu sein …«

»Vorsichtig ausgedrückt«, merkte Wiard an.

Die Polizisten durchkämmten den Deichabschnitt noch den ganzen Tag, während Tanja Itzenga und Ulfert Ulferts sich gegen Mittag wieder auf den Weg nach Aurich begeben hatten. Sie würden sofort eine Kontrolle aller Polderbewohner veranlassen, die im Besitz eines Waffenscheines und in aller Regel dann auch von Waffen waren, diese beschlagnahmen, Waffen und Kleidung nach Schmauchspuren untersuchen und allerlei Weiteres in die Wege leiten. August war mittags ebenfalls nach Hause gefahren, er hatte die Nase gestrichen voll. Er wollte wieder morgens melken, nachmittags Getreide zur Raiffeisengenossenschaft bringen und danach Tee trinken, mit Henrike und den Kindern. Hauptsache, sie würden nicht zu viel Krach machen oder sich streiten. Das alles war jetzt nicht möglich. Er hatte sehnsüchtig auf ein erlösendes ›Herr Saathoff, wenn Sie nach Hause wollen …‹ gewartet, das aber nicht gekommen war. Schließlich hatte er nachgefragt, und Ulferts hatte geantwortet:

 

»Ach so, na ja, warum nicht?«

Leicht genervt war August losgefahren. Der Deich (immer hatte er gerne erwähnt: »Ohne Deich – das wär’ kein Leben!«) missfiel ihm mehr und mehr.

Auch Lübbert Sieken hatte sich irgendwann in sein nahe gelegenes Haus zurückgezogen, da sich offenbar nichts Entscheidendes tat, und wenn, wurde es nicht mitgeteilt. Außerdem wollte er sich endlich ein wenig von dem Schreck erholen. Seine Verletzung schmerzte, er wollte eine starke Tablette nehmen und versuchen, ein wenig zu schlafen. Es dauerte lange, bis ihm klar wurde, dass es schon fast an ein Wunder grenzte, dass er bei all dem, was jetzt im Polder passierte, quicklebendig war.

Als es dämmerte, rief der Einsatzleiter seine Leute zu sich. »Schluss für heute, es wird dunkel, ich denke, wir haben das, was überhaupt brauchbar ist, gefunden. Mehr dürfen wir hier auch nicht herumtrampeln. Die Grasnarbe ist ja schon durchgelatscht, und darunter wird’s reichlich matschig. Also, unser Fußballplatz hält mehr aus. Aber was soll’s, ist nicht unser Bier.«

Die Leute waren froh, endlich Feierabend zu haben. Innerhalb von zehn Minuten war der Deich leer, sämtliche Wagen hatten sich auf und davon gemacht. Zurück blieb die Stille, die eigentlich typisch war für die Abende am Deich. Dass die Grasnarbe dem Ansturm der vielen Menschen nichts Rechtes hatte entgegensetzen können, war kaum jemandem aufgefallen. Holger Janssen, der einzige aus dem Polder stammende Polizist, hatte schon eine Stunde nach Mittag den Auftrag erhalten, herauszufinden, wer im Polder offizieller Waffenscheinbesitzer war. Er hätte wohl als Einziger den schlechten Zustand des Deiches bemerken können. Vielleicht saß er aber gerade über dem Antrag, sein Privatauto für Dienstzwecke gebrauchen zu dürfen und dementsprechend die Kostenerstattung einzufordern. August und Wiard hatten sich angesichts der mangelnden Widerstandskraft der Deichbedeckung vielsagende Blicke zugeworfen. Beiden war durch den Kopf gegangen: Puddingdeich … Puddingdeich …

21

»Es muss sich bald mal etwas tun, die Dinge müssen sich klären. Ich verstehe nicht, wie hier jemand herumlaufen kann und niemand hat ihn gesehen, mir wird langsam bange«, sagte Henrike, als sie und August abends im Wohnzimmer saßen und einen französischen Landwein aus dem Hérault tranken.

»Also, wenn das mit Mord und Totschlag enden kann, dann ist Gefahr im Verzug«, stotterte August mehr, als dass er es deutlich aussprach.

»Die Polizei hat so viele Spuren ohne Ergebnis verfolgt – eine der nächsten wird die richtige sein«, meinte Henrike. »Man kann froh sein, dass das ein schlechter Schütze war. Stell dir mal vor, Lübbert wäre jetzt tot. Da hätten Wiard und du aber ganz schön alt ausgesehen – von wegen, am späten Nachmittag kam bei Sturm und Regen von irgendwo ein Schuss. Ich kann den Ulferts verstehen.«

»Du stehst also aufseiten der Polizei?«, in Augusts Stimme schwang Empörung mit.

»Muss ich auf irgendeiner Seite stehen?«

August überlegte einen Augenblick.

»Hast ja recht.« Er ließ sich ins Sofa zurückfallen, nahm einen großen Schluck Wein, schwieg und blickte ins Leere.

»Ein bisschen Ruhe kann uns allen nicht schaden. Ich bin müde, ich geh ins Bett«, sagte Henrike schließlich.

»Ja«, August erwachte aus seinen Gedanken, »morgen muss ich unbedingt zum Melken da sein, Vater wird kein zweites Mal akzeptieren, die Arbeit allein zu übernehmen.« Er lächelte, wenn auch etwas gequält, während ihm durch den Kopf ging: Unentschuldigt beim Melken gefehlt!

»Bei Mordversuchen an unserem Deich macht auch dein Vater eine Ausnahme.«

»Bist du abgebrüht.«

»Zu viel ›Tatort‹ geguckt, zu viele Krimis gelesen«, gab Henrike zurück, stand auf, sammelte die Gläser ein und wollte in die Küche gehen, als August sie zurückhielt: »Lass mein Glas bitte hier. Ist ja noch ein Schluck Wein übrig, ich will ein bisschen nachdenken.«

»Das geht auch ohne Wein … denk nicht zu viel nach, lass das mal die Itzenga und den Ulferts machen.« Henrike drückte August einen Kuss auf die Stirn und wünschte beim Hinausgehen eine gute Nacht. August blickte ihr nach, nickte nur, blieb sitzen und sinnierte noch einmal über die letzten Tage.

Als er am nächsten Morgen pünktlich im Melkstand erschien, hatte er eine ziemlich schlechte Nacht hinter sich. Er hatte sich hin und her geworfen im Bett und musste immer und immer wieder an die Geschehnisse denken. Der Steinwurf, das Loch im Reifen des Treckers, die Schüsse am Deich. Er bekam Angst. Dass diese Deichgeschichte jemanden dazu verleiten könnte, auf einen anderen zu schießen, das war zu viel. Nicht nur für ihn, viele Bewohner waren mittlerweile verunsichert. Und wenn es doch ein dummer Zufall war? Eben doch einer, der heimlich ein bisschen auf Entenjagd war? Es gab genügend Polderbewohner, die sich über die Naturschutzauflagen aufgeregt hatten, die in den letzten Jahren immer schärfer geworden waren und die die Entenjagd, wie auch andere Dinge, fast unmöglich gemacht hatten. Immerhin war Wild lange Zeit eine wichtige Nahrungsquelle der Polderbewohner gewesen, später war die Kaninchen- und Entenjagd ein beliebtes Hobby. Und dann, dann kamen die Grünen … oder wer war für das Verbot der Entenjagd im Heller verantwortlich? Davon abgesehen, kein Jäger würde auf Menschen schießen. Ein Querschläger fiel auch aus. Wieso, verdammt noch mal, stapfte an einem derart stürmischen, kalten und nassen Abend jemand durch das Deichvorland, hatte ein Gewehr bei sich und schoss auf Menschen? Zumal sich August, Lübbert und Wiard letztlich rein zufällig an diesem Tag, zu dieser Zeit, an diesem Abschnitt des Deiches eingefunden hatten. Niemand hatte davon gewusst, nur Henrike. Niemand hätte also ein gezieltes Attentat planen können … Ein Schuss, der sich aus Versehen gelöst hatte, vielleicht weil der Schütze bei dem Regen an der Kante einer Grüppe ausgerutscht war? Konnte sein, war aber doch sehr unwahrscheinlich. August fand einfach keine Erklärung dafür, und wenn er daran dachte, dass Lübbert Sieken auch hätte tot sein können, wurde ihm fast schlecht. Bei dem Gedanken, dass Wiard und er direkt neben Lübbert gestanden hatten, lief es ihm kalt über den Rücken. Wieso Lübbert? Wieso jemand, der noch nie einer Fliege etwas zuleide getan hatte? Wenn, dann hatte er sich selbst geschädigt mit seiner Sauferei, aber andere … nie. Vielleicht hatte der Schuss ja auch ihm, August, gegolten? Aber August konnte an sich ebenso nichts finden, was einen Mordversuch hätte rechtfertigen können. Nein – der Schütze musste es auf Lübbert abgesehen haben, er war schließlich etwas weiter entfernt von Wiard und ihm gewesen, wie heute Morgen noch auf dem Deich nachgespielt, auf Geheiß Tanja Itzengas. Oder derjenige, der den Schuss abgegeben hatte, war ein miserabler Schütze. Vielleicht …

Ein lautes Rufen riss August aus seinen Gedanken.

»August, verdammt noch mal, bist du taub von dem Schuss geworden, oder was?« Sein Vater stand vor ihm. »Sag mal, schläfst du? Die Kühe müssen raus«, er deutete auf die Tiere, die beide Männer mit ihren großen, runden, dunklen Augen anstarrten und die offensichtlich fertig gemolken waren, »und die neuen müssen rein!« Dabei zeigte er auf die Kühe, die vor dem Gatter standen und deren Blick weitaus hektischer zu sein schien, fürchteten sie doch, eventuell nicht gemolken zu werden (wahrscheinlich ein schauderhafter Gedanke für eine Kuh mit prall gefülltem Euter).

»Oh, Scheiße«, fluchte August. »Ich war gerade nicht bei der Sache.«

»Das merkt man«, sein Vater schüttelte nur den Kopf.

»Mistgeschichten sind das. Hab alles um mich herum vergessen …, schon gut, ich mache jetzt weiter.«

»August, lass dich da nicht zu tief reinziehen«, riet sein Vater, »du machst dir zu viele Gedanken. Das Wichtige ist hier, wo du jetzt stehst, der Melkstand, der Hof, lass die Finger von den anderen Sachen. Das regelt die Polizei. Schlimm genug, was hier im Moment los ist, im Polder. Und blöd genug, dass ihr am Deich herumgelatscht seid. Der Hof bringt das Geld für uns alle hier, den müssen wir in Ordnung halten. Und ihr rennt bei Wind und Wetter am Deich rum …« Sein Vater hatte den strengen Blick, den er bei ernsten Geschichten aufsetzen konnte, auch im Alter nicht verlernt. Und August kannte ihn nur zu gut.

»Ja, klar«, raunte er seinem Vater leicht ärgerlich zu, »du kannst dich auf mich verlassen. Raus mit euch«, rief er, öffnete das Gatter rechts per Knopfdruck, schloss es wieder und ließ dann die ungemolkenen Kühe herein, wieder per Knopfdruck, die sich nicht zweimal bitten ließen. Vater und Sohn arbeiteten stillschweigend weiter, doch August hatte die ganze Zeit das Gefühl, dass sein Vater ihn Augen mit strengem Blick beobachtete. Er war erstaunt, dass der Respekt vor seinem Vater immer noch so hoch war – schließlich war er inzwischen schon einiges über 40 Jahre alt.

Henrike staubsaugte, als August nach dem Melken ins Haus kam. Der kleine Gero lief hinter ihr her und rief ständig: »Auch, auch, auch!« Henrike hatte aber offenbar keine Lust, ihm den Staubsauger zu überlassen, wohl wissend, dass das früher oder später in lautem Geheul enden würde.

»Gib ihm den Sauger doch mal kurz, dann ist Ruhe.«

»Das glaubst auch nur du. Außerdem will ich fertig werden. Gero rennt mit dem Ding hierhin und dahin, ohne dass irgendetwas weggesaugt wird.«

»Ich würde ihm das Teil einfach mal in die Hand drücken.«

»Der Herr Pädagoge könnte mir statt kluger Ratschläge vielleicht lieber eine Tasse Tee anbieten. Ich sauge jetzt zu Ende. Basta. Wenn du keinen Tee machst, gibt’s eben keinen. Jedenfalls ist keiner fertig.«

August spürte, dass die Möglichkeit, in die Küche zu verschwinden und Tee zu machen, in diesem Moment gar nicht so schlecht war. Und ein noch harmonischeres Teetrinken würde es geben, wenn er Gero kurzerhand mitnähme. Er schnappte den Kleinen, der sich zunächst wehrte. Nachdem ihm August aber etwas ins Ohr geflüstert hatte, ließ er sich ohne Schwierigkeiten mit in die Küche nehmen. Hier angekommen, setzte August Gero in seinen Stuhl, gab ihm ein paar Gummibärchen, schloss die Tür und stellte Teewasser auf. Er setzte sich an den Tisch, schlug das neue landwirtschaftliche Wochenblatt auf und begann zu lesen, was ihm aber nur kurze Zeit gelang, da Gero auf alle Bilder zeigte und mit einem kurzen »Is das?« fragte, was darauf zu sehen war. August gab die entsprechenden Antworten: »Kuh«, »Trecker«, »Bauer mit Kuh«, »Bauer auf Trecker«, »Sämaschine«, »Mähdrescher«, »Mähdrescher mit GPS-Empfänger«.

Hier fragte Gero: »Warum?«

»Dann weiß der Bauer immer, wo er ist.« August fand seine Erklärung selbst nicht sehr überzeugend. Gero war aber offenbar damit zufrieden, er setzte sein monotones »Is das?« fort, als Henrike hereinkam.

»Fertig«, verkündete sie. »Danke, dass du Gero mitgenommen hast, er war wirklich kaum auszuhalten, den ganzen Vormittag schon und nach dem Mittagessen genauso. Irgendwann ist man dann selbst genervt und kann das Genöle einfach nicht mehr hören.«

August hatte zwischenzeitlich den Tee aufgegossen, der nun in der Kanne zog, und die Milchschüssel auf den Tisch gestellt, auf der sich bereits schöne, fette Sahne abgesetzt hatte, die in Kürze im Tee landen und das sehenswerte ›Wulkje‹ bilden würde.

»Gibt’s was Neues zum Polderkrimi?«, fragte Henrike, nachdem August ihr den ersten dampfenden Tee eingeschenkt hatte. Mit einem speziell geformten Schöpflöffel, eher eine Kelle in Kleinformat, die man an den Rand der Milchschüssel hängen konnte, hatte er die Sahne hinzugegeben.

»Polderkrimi«, wiederholte August abfällig, »ich finde das Ganze nicht lustig, Henrike. Es ist eine ernste Sache, wenn hier jemand rumballert, auch auf Menschen, zudem welche, die man gut kennt. Und irgendwo muss der ja jetzt sein …«

»Nein, es ist nicht witzig«, reagierte Henrike mit ernstem Gesichtsausdruck, »ist aber ja fast ein Krimi – und das hier, am Ende der Welt. Ich habe eben beim Postholen Anni Harms getroffen, die kam gleich angelaufen und regte sich auf, dass morgens um kurz nach 7 Uhr schon Holger Janssen mit einem Kollegen vor der Tür gestanden hätte. Die beiden hätten ihren Mann befragt und sich alle Gewehre zeigen lassen, er ist ja Jäger. Und genau seien sie gewesen. Wann er das letzte Mal wo auf Jagd gewesen sei, wann das letzte Mal geschossen, ob es dafür Zeugen gäbe, und so weiter. Anni war ganz schön aufgeregt.«

Die Familie Harms wohnte auf dem Nachbarhof der Saathoffs. Die Namen Manni und Anni passten natürlich prima in Kombination, und im Polder liefen die beiden in Anspielung auf eine größere Bekleidungsunternehmenskette unter ›M & A‹. Manni ging selten auf die Jagd und wenn, dann nur auf Treibjagden, zusammen mit vielen anderen. Die letzte Treibjagd im Polder lag allerdings schon zwei Jahre zurück. Das hätte sogar August bestätigt.

 

»Ist ja auch nicht so prickelnd, wenn man zu einem Mordversuch befragt wird«, bemerkte er nach einer Weile und schenkte eine zweite Tasse Tee ein.

»Gut, dass du kein Jäger bist, allenfalls auf dem Papier«, sagte Henrike etwas geistesabwesend. Ihr Blick haftete auf einer Überschrift im landwirtschaftlichen Wochenblatt zum Thema ›Gutachten bestätigt Versäumnisse der Regierung: Renten nicht gesichert – wie Hausfrauen sich privat gegen Altersarmut absichern können‹.

Und wovon bezahlen?, hingen Henrikes Gedanken einen Moment lang dieser Überschrift und dem ersten, fett gedruckten Abschnitt hinterher. 100 bis 200 Euro solle man in die private Altersvorsorge stecken, stand da. Sie dachte kurz an die Kredite für Melkstand, Laufstall und neuen Schlepper. Wie denn, bitte schön, arbeiten, um im Alter abgesichert zu sein, unter diesen Umständen?!

»Und wenn ich aktiver Jäger wäre, du wirst wohl nicht vermuten, ich würde dann so mir nichts, dir nichts drauflosschießen, im strömenden Regen, bei starkem Nordwestwind, zum Beispiel auf Leute, die am Deich spazieren gehen?«

Henrike musterte ihn kritisch, nippte an ihrem Tee und antwortete dann: »Nee, wohl eher nicht.« Sie lächelte. »Hoffentlich wird bald alles aufgeklärt. Das ist nicht gut für den Polder. Zweimal hat Anni im Nebensatz schon gesagt, dass der und der, ja, von dem könne sie sich das vorstellen …«

»Hat sie Namen genannt?«

»Ja, klar, immer mit dem Hinweis auf Verschwiegenheit – aber man kann ihr eh kaum etwas glauben, sie ist und bleibt eine Tratschtante. Gibt’s noch eine Tasse?«

August schenkte ihr schweigend die dritte Tasse Tee ein.

»Der ist gut.«

»Ohne Tee wäre doch alles nichts. Ich fahre gleich zu Wiard. Die Itzenga will noch mal mit uns sprechen, ohne Lübbert. Um 11 Uhr soll ich da sein.«

»Ja, wenn Frau Itzenga das sagt … ist ’ne schöne Frau. Ich habe sie kurz gesehen, gestern, als sie hier vor unserem Haus mit ein paar Kollegen sprach.« Sie schaute August intensiv an.

»Ja, stimmt, sie sieht ganz gut aus, doch … hätte nicht gedacht, dass sie Polizistin oder gar Hauptkommissarin ist, und dann noch bei der Mordkommission.«

»Also bleib immer sachlich beim Verhör,« Henrike lächelte August an, »nicht dass die nächste Besprechung abends in einem gemütlichen Restaurant bei Candle-Light in Norden stattfindet.«

August war verblüfft über den Spürsinn seiner Frau. Er dachte kurz nach, sah Hauptkommissarin Itzenga vor seinem inneren Auge (ja, sie sah bannig gut aus) und hätte sich, wenn die Zeit gewesen wäre, auch ein gemütliches Restaurant bei Kerzenschein vorstellen können. Dann aber riss er sich von dem Gedanken los und verkündete: »Abends hat der Bauer nichts in der Stadt verloren. Schon gar nicht, um mit einer Hauptkommissarin essen zu gehen. Abends muss er schlafen, damit er morgens seine Kühe melken kann. Und der Bauer, mit dem du gerade sprichst, hat eine Superfrau gefunden und will keine andere, schon gar keine Polizistin – da schwebten ja ständig Mord und Totschlag über unseren Köpfen, für mich wäre das nichts.« Er stand auf und küsste Henrike auf den Mund.

»Na, hoffentlich«, Henrike schlang die Arme um ihn. Gero, der die ganze Zeit erstaunlich still in seinem Hochstuhl gesessen hatte, schaute die beiden mit großen Augen an: »Is das?«

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