DSA: Rabenerbe

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Said durchquerte den düsteren Innenhof und stieg die hölzernen Stufen empor, die an der Außenwand des Gebäudes angebracht waren. Vereinzelt drang Licht aus den Fensteröffnungen, die wegen der mittäglichen Hitze kaum breiter waren als ein Spann. Oben angekommen verharrte er kurz und lauschte hinab in den Hof, ehe er zwei Mal klopfte und die Tür einen Spalt weit aufschob, um hineinzuschlüpfen.

Drinnen empfing ihn das Licht einer einzelnen Öllampe, die den Raum nur spärlich ausleuchtete. Entlang der Wände hatte man eine schmale Bank angebracht und davor einige Sitzkissen. Zerschlissene Vorhänge versperrten den Blick auf die angrenzenden Räume, aus denen das Gemurmel mehrerer Stimmen drang. Der Geruch nach gewürztem Reis, Konchsoße und Ingrim hing in der Luft wie ein schweres Parfüm, ein vertrauter Geruch über die Jahre, die er in diesem Haus verbracht hatte.

»Saidjian.« Rureschas dunkle Stimme erklang hinter einem der Vorhänge, der im nächsten Moment zur Seite geschoben wurde. Ein Lächeln lag auf ihren herben Zügen, als sie hindurchtrat und ihn einen Moment lang musterte. »Nuradjian hatte Zweifel, dass du es schaffen würdest. Aber ich sehe, du hast die Beute mitgebracht.«

Said warf einen Blick auf den Beutel an seinem Gürtel. »Du hast doch hoffentlich nicht daran gezweifelt?«, fragte er und hob einen Mundwinkel zu einem schiefen Grinsen. »Ich habe dir etwas versprochen. Du weißt, dass ich Wort halte.«

»Ich weiß. Und Meister Darjin weiß es auch. Nur Nuradjian, dieser dumme Schazak, nicht.« Rureschas Lächeln vertiefte sich, als sie auf ihn zutrat, und zauberte kleine Grübchen in ihre Wangen. »Ich könnte nie an dir zweifeln«, raunte sie an seinem Ohr und legte die Hand an seine Wange, um ihn im nächsten Moment innig zu küssen.

Said zog sie an sich heran, während er den Kuss ebenso stürmisch erwiderte. Die junge Maraskanerin teilte seit einem guten Jahr sein Lager, und auch, wenn sie nie darüber gesprochen hatten, spürte Said, dass es ihr mehr bedeutete als flüchtiges Vergnügen oder der Wunsch, nicht allein zu sein.

»Ich freue mich, dass ich dich überzeugen konnte«, flüsterte er atemlos an ihren Lippen, nachdem sie sich wieder voneinander gelöst hatten. »Ist Meister Darjin da? Ich sollte ihn nicht warten lassen.«

Rurescha nickte. Ihre Hand ruhte noch einen Moment auf seiner Wange, ehe sie sie sinken ließ. Sie wies mit einer Kopfbewegung auf den Durchlass gegenüber der Eingangstür. »Die hohen Geschwister waren vorhin bei ihm, aber nun ist er alleine.« Ein wissendes Lächeln strich über ihr Gesicht. »Er wird erfreut sein.«

Das hoffte Said. Es war schließlich Meister Darjins Rache, die er verübt hatte. Der Agent der Hand hatte vor vielen Jahren Darjins rechtes Auge genommen, und dafür musste er bezahlen. Ein Auge für ein Auge, um die Dinge wieder ins Gleichgewicht zu bringen und die Schönheit der Welt zu wahren. Nur der Tod des Wirts passte nicht ins Bild, aber Said hatte diese Disharmonie bereitwillig in Kauf genommen. Er war kein Maraskaner, und auch, wenn er im Laufe der Jahre viel über die Philosophie und das Wesen seiner Umgebung gelernt hatte, drehte sich die Welt für ihn auch dann weiter, wenn sie einmal nicht im Gleichgewicht war.

Der angrenzende Raum war eine niedrige Halle mit Dachgebälk und einigen aranischen Wänden aus Holz oder Flechtwerk, die einzelne Bereiche abtrennten. Das Haus war früher einmal in viele, kleine Verschläge unterteilt gewesen, die für wenige Oreal an jene Verzweifelte vermietet wurden, die froh waren, überhaupt ein Dach über dem Kopf zu haben. Die Maraskaner hatten es ihren Bedürfnissen angepasst und die Räume erweitert, um sie je nach Bedarf zu unterteilen. Bis zu dreißig Menschen lebten hier, aber im Gegensatz zu der drückenden Enge der Mietskasernen gelang es ihnen, das Zusammenleben harmonisch zu gestalten. Während tagsüber unentwegt Leute kamen und gingen und ein stetes Surren und Brummen der Stimmen so allgegenwärtig war, dass man es kaum noch wahrnahm, war es jetzt am späten Abend ruhig geworden. Auf einer Palmmatte saß eine junge Frau mit zwei kleinen Kindern auf dem Schoß. Sie schaute auf, als Said eintrat, und lächelte kurz, fuhr dann aber fort, in einem hölzernen Mörser Gewürze zu zerreiben. Ihr gegenüber hockte ein hagerer Mann, der an einem Stück Treibholz schnitzte. Sein Blick heftete sich einen Moment lang an Saids Gesicht, ehe er kaum merklich nickte.

Said erwiderte den Gruß des Wächters mit einer angedeuteten Kopfbewegung und trat an ihm vorbei zu der Wand, die den hinteren Bereich abtrennte.

Meister Darjins Reich war das Herz des Hinterhauses, jener Ort, wo man zusammenkam und wo man Hilfe und Rat fand, wenn man danach suchte. Es gab kaum Möbel, nur zwei niedrige Tische und eine Unzahl an Sitzkissen. Der alte Maraskaner saß mit untergeschlagenen Beinen auf einem der zerschlissenen Kissen, dessen Farben im Laufe der Jahre ihre Leuchtkraft eingebüßt hatten. Sein Gesicht war eingefallen, sodass Wangenknochen und Kinn spitz hervorstanden. Die Haare waren an den Schläfen bereits ergraut und am Hinterkopf hochgebunden, den schütteren Bart hatte er in dürre Zöpfe geflochten. Eine Stoffbinde verbarg die leere Augenhöhle, während das andere Auge Said wach und aufmerksam entgegenblickte. Er war nicht allein, zu seinen Füßen kauerte das blutjunge Mädchen, das er erst kürzlich zur Frau genommen hatte, und neben ihm hockte Nuradjian, der Said neugierig entgegensah.

Meister Darjin wartete, bis Said sich ehrerbietig verbeugt hatte. Erst dann wies er auf eins der Kissen. »Du lebst, also warst du erfolgreich.« Es war keine Frage, lediglich eine Feststellung. »Du hast mir gebracht, worum ich dich gebeten habe?«

Said nickte und löste den Beutel vom Gürtel, um ihn vor dem alten Meister abzulegen. Dann ließ er sich nieder, die Beine untergeschlagen. »Er ist der Schwester entgegengetreten.«

»In aller Stille, hoffe ich?« Darjin hob fragend die schütteren Brauen, zog dann aber den Beutel zu sich heran und öffnete ihn. Ein zufriedener Zug glitt über sein Gesicht, ehe er ihn wieder sorgsam verschloss und zur Seite legte. »Preiset die Schönheit der Welt, der du das Gleichgewicht zurückgegeben hast. Ich bin zufrieden mit dir, Said. Sehr zufrieden.«

Said nickte erneut. Seine Mundwinkel zuckten, als er vergeblich versuchte, das stolze Grinsen zu unterdrücken. »Ich freue mich, dass ich Eure Erwartungen erfüllen konnte, Meister Darjin.«

»Mehr als das.« Der alte Maraskaner legte die Handflächen auf die untergeschlagenen Knie, als er den Blick seines wachen Auges wieder auf Saids Gesicht richtete. »Als dein Herr und Vater dich zu mir brachte, war es ein Gefallen, den ich ihm schuldete. Er kam zu mir, weil einige meinten, dass Bande zum Silberberg wertvoll für uns seien. Er wusste, was ich war, ehe die Hand uns jagte und vernichtete, und dennoch verriet er uns nicht. Deshalb habe ich ihm vertraut und dich zu mir aufgenommen. Zwölf Jahre bist du nun bei uns, zwei Mal vier und zwei Mal zwei Jahre. Du hast dich in allen Prüfungen bewiesen, die ich dir aufgetragen habe. Nun hast du den Kreis geschlossen, den die Hand vor vielen Jahren aufgerissen hat.« Sein Blick wanderte zu dem Beutel, ehe er zu Said zurückkehrte. »Es war die letzte aller Prüfungen. Ich habe dir alles beigebracht, was ich weiß. Daher entlasse ich dich nun als ehrbares Mitglied der Bruderschaft und verneige mich vor dir, Said mein Schüler.« Er bewegte den Oberkörper feierlich vor und verharrte einen Moment lang in der Verbeugung. »Deine Reise ist damit vollendet, aber jedes Ende ist nur der Beginn von etwas Neuem. Ruhe nun. Morgen werden wir über deine Abreise sprechen.«

Das Lächeln, das sich gerade noch mit jedem Wort mehr auf Saids Gesicht ausgebreitet hatte, erstarrte. Er blinzelte irritiert. »Abreise? Aber ...«

»Du wirst die Stadt verlassen.« Meister Darjin blickte freundlich, als habe er Saids Erschrecken nicht bemerkt. »In zwei Tagen fährt ein Schiff nach Khunchom. Ich werde dir eine Nachricht an den dortigen Ast des Zweiten Fingers mitgeben. Du wirst von unseren Mühen berichten und davon, dass es mir gelungen ist, Schüler zu unterweisen und einen neuen Ast zu begründen, der grünen wird und stark ist und nicht noch einmal abgeschnitten wird wie ein Blatt vom Stamme eines Axorda-Baumes.«

»Aber ...«, begann Said wieder, räusperte sich dann, um sich zu sammeln. Das durfte nicht sein. Er hatte in den letzten Jahren auf diesen Tag hingearbeitet, um endlich frei zu sein und sein Erbe anzutreten. Es war kein leichtes Erbe als Bastard eines Verräters, aber er war trotz allem der Sohn eines Granden. Der einzige, den sein Vater jemals anerkannt hatte. »Ich kann nicht gehen«, sagte er bestimmt. Erleichtert stellte er fest, dass seine Stimme ihm gehorchte. »Ihr habt selbst gesagt, meine Reise sei vollendet. Ihr habt mich entlassen. Damit kann ich selbst entscheiden, wohin mein Weg mich führt. Ich habe eine Aufgabe, die hier auf mich wartet.«

Meister Darjin lächelte mild. »Das Einzige, was in Al’Anfa auf dich wartet, sind die Dolche der Hand Borons, die dich jagen wird.«

»Und wenn schon.« Said machte eine abwehrende Geste. »Es gab kurz vorher einen Streit in der Taverne. Wahrscheinlich machen sie irgendwelche Seeleute für den Brand verantwortlich. Niemand wird glauben, dass ein verschreckter Schankbursche so etwas tun könnte.«

»Hochmut.« Meister Darjin hob tadelnd den Finger. »Begehe nicht den Fehler, die Hand zu unterschätzen. Das haben wir bereits einmal getan, und wenn auch kein Ding allein dastehen sollte, ist der Irrtum eine Ausnahme. Du wirst nach Khunchom gehen und meine Nachricht überbringen. Vielleicht wirst du eine Weile unter ihnen leben. Du bist zwar ein Fremdijin, aber du bist auch mein Schüler, und das macht dich zu einem von uns.«

Said starrte ihn an, einen langen Herzschlag lang. Dann schüttelte er den Kopf. »Ich kann nicht gehen. Ihr sagt es selbst, ich bin ein Fremdijin, kein Maraskaner. Ich stamme von hier, aus Al’Anfa. Ich habe keine Verpflichtung mehr Euch gegenüber. Alles, was es gab, habt Ihr mit meinem Vater ausgemacht, und das ist nun abgegolten. Lasst mich gehen.«

 

»Nein.« Noch immer ruhte dieses freundliche Lächeln auf Meister Darjins Gesicht, aber es wirkte mit einem Mal entschlossen und gleichzeitig bedauernd. »Als dein Vater zu uns kam, übergab er uns nicht nur seinen Sohn, sondern auch einen Sklaven. Dein Vater ist tot, und daher bin ich es, der nun die Fürsorge für dich trägt. Du gehörst mir, wie du zuvor deinem Vater gehörtest. Du warst ein Sklave, und es gibt keinen Grund, warum du jetzt kein Sklave mehr sein solltest. Niemand hat dich freigelassen, törichter Bursche. Und deshalb wirst du mir gehorchen und in zwei Tagen abreisen. Das ist mein letztes Wort.«

Es dauerte einen Moment, bis Darjins Worte ihren Weg in Saids Geist gefunden hatten, aber noch immer weigerte er sich zu glauben, was er gehört hatte. Seine Hände zitterten, während er sich zur Ruhe zwang und beschwor, sitzen zu bleiben. Die Rache hatte er hingenommen, im Grunde auch verstanden, auch wenn es ihm schwergefallen war, sie mit den Lehren des alten Meisters in Einklang zu bringen. Aber er hatte niemals erwartet, dass Darjin ihm auf diese Weise seinen Willen aufzwingen würde. Maraskaner waren stolz auf ihre Freiheit und nicht bereit, das Joch zu tragen, das ihnen erst die Garether und später die Dämonenbuhlen aufzwingen wollten. Dass ausgerechnet Meister Darjin das Sklavenband erneuerte, riss etwas in ihm auf und hinterließ ein dumpfes Gefühl der Enttäuschung. Kalte Wut, die er lange unterdrückt hatte, drängte jetzt umso schmerzhafter in seinem Inneren empor. Er hatte geglaubt, unter den Maraskanern etwas anderes zu sein als der Sohn einer Mohasklavin, der zwar anerkannt, aber nie akzeptiert worden war. Ein Sklave am lockeren Zügel, aber trotz allem ein Sklave.

»Ich habe verstanden«, sagte Said und senkte den Kopf, um Darjins Blick auszuweichen. Er wollte nicht, dass der Meister in ihm las wie in einem offenen Buch. Er sah immer noch auf die Strohmatten, die den Boden bedeckten, als er sich erhob. Seine Worte klangen seltsam hohl in seinen Ohren, als er wieder zu sprechen anhob. »Erlaubt, dass ich mich zurückziehe. Ich bin müde.«

»Geh nur.« Meister Darjin machte eine freundliche Geste mit der Hand, um ihn zu entlassen. »Du wirst morgen noch einige Besorgungen erledigen, ehe du aufbrichst. Ruhe dich aus, mein Junge. Rurescha ist erfreut, dass du wieder bei ihr bist. Aber höre.« Er hob den knochigen Finger. »Solltest du daran denken zu fliehen oder dich mir zu entziehen, werde ich Nuradjian anweisen, dich zu töten. Dies wird er auch tun, sollte er den Eindruck gewinnen, dass es notwendig ist.«

»Es wird nicht notwendig sein«, antwortete Said leise. Er neigte den Kopf und drehte sich um, ohne den alten Maraskaner noch einmal anzusehen. Er sollte sich ausruhen, aber nicht, um sich auf die Reise vorzubereiten. Stattdessen würde er darüber nachdenken, was er tun sollte.

III

Esmeraldo

Al’Anfa. Esmeraldo ließ den Namen langsam auf der Zunge zergehen, während sein Blick zufrieden über die Stadt wanderte, die sich unter ihm ausbreitete. Es war ein langer Weg gewesen, aber nun war er hier, im Herzen der Schwarzen Perle, auf dem Silberberg.

Seine Finger legten sich auf den warmen Marmor der Brüstung, die den Balkon der Villa Paligan umgab. Ein Kunstwerk, wie alles, was die Großen seines Hauses geschaffen hatten, und gleichzeitig ein Zeugnis ihres Anspruchs, als Einzige der Grandenfamilien auf eine vizekönigliche Herkunft zurückblicken zu können. Von hier überblickte man die Stadt und den Hafen, in dem stetig Schiffe ein- und ausliefen, blickte man auf den Koloss, der mit erhobener Feuerschale und breitbeinig über der Hafeneinfahrt stand, die Paläste und Mietskasernen und die gewaltige Bal-Honak-Arena. Sein Amtssitz in Sylla war prachtvoll gewesen, doch war er kein Vergleich zu dem Anwesen der Familie Paligan, das ein selbstbewusster Vorfahr an dieser exponierten Stelle errichtet hatte. Eine hohe Mauer umschloss den gesamten Silberberg und hielt die Fana fern, aber während die anderen Granden oft nur den Blick aufs offene Meer und allenfalls auf den Hafen hatten, thronte die Villa Paligan wie ein gleißender Diamant über der Stadt. Macht und Reichtum waren nur etwas wert, wenn man bereit war, sie zu zeigen, und das Haus Paligan war nicht dafür bekannt, mit einem von beiden zu geizen.

Zufrieden richtete sich Esmeraldo auf und drehte sich zu dem Sklaven um, der im Schatten der Arkaden stumm gewartet hatte. Es war in der Tat ein langer Weg gewesen, vom unbedeutenden Spross einer halb erloschenen Nebenlinie zur rechten Hand des Schwarzen Generals. Und wenn es nach ihm ging, war das noch längst nicht das Ende.

Mit knappem Blick maß Esmeraldo den Sklaven, einen hochgewachsenen Utulu mit ebenholzschwarzer Haut und glänzendem Kraushaar, auf dem ein Hauch von Goldstaub lag. Der Leibdiener, den Goldo ihm für seinen Aufenthalt in der Stadt zur Verfügung gestellt hatte, war ein schöner Mann. Kein hübsches Mädchen dieses Mal, aber das war Esmeraldo nur recht. Khayas Tod dauerte ihn immer noch, auch wenn er notwendig gewesen war. Manchmal musste man eben Opfer bringen, um Größeres zu erreichen. Und er, Esmeraldo Paligan, war bereit, jedes Opfer zu bringen.

»Gehen wir«, befahl er und löste sich endgültig von dem Ausblick und der warmen Marmorbrüstung. Er straffte die Schultern. »Der Rat erwartet mich.«

Nach der Einnahme der Stadt hatte Oderin du Metuant eine Weile mit dem Gedanken gespielt, die Paliganthermen am Sklavenmarkt wieder in Besitz zu nehmen und zu seinem Amtssitz auszubauen. Letztendlich hatte er sich dann doch mit dem alten Gebäude begnügt, in dem früher der Rat der Zwölf getagt hatte. Im Gegensatz zu den Thermen lag es unmittelbar vor den Toren des Silberbergs und abseits des geschäftigen Treibens, das die Straßen der Stadt Tag und Nacht umfasst hielt. Als Procurator des al’anfanischen Imperiums und Herrscher über Al’Anfa hatte der General es eigentlich nicht nötig, einen Rat einzuberufen, aber du Metuant war klug genug, um zu wissen, dass selbst der weitsichtigste Mann Berater brauchte, die weiter blickten als er selbst. Außerdem diente sein Kleiner Rat auch dazu, die Befindlichkeiten der miteinander ringenden Mächtegruppen zu befriedigen.

Gardisten in nachtschwarzen Rüstungen wachten auf den Stufen vor dem Eingangsportal. Sie grüßten zackig, als Esmeraldo sich ihnen näherte, und traten beiseite, um ihn einem blassen Amtssklaven zu überlassen, der ihn zum ehemaligen Ratssaal führte.

Früher einmal hatte der Saal den Sitzungen des Hohen Rats gedient, ein heller Raum mit großzügigen Bogenfenstern, durch die Licht und ein angenehm kühler Wind ins Innere drang. Wo früher die große Ratstafel gestanden hatte, erhob sich nun ein gewaltiger Kartentisch, der die meridianische Halbinsel zeigte. Anders als sonst üblich hatte man sich jedoch nicht darauf beschränkt, die Küstenlinien und Straßen als Intarsien einzuarbeiten, sondern die verschiedenen Hölzer so verformt, dass sie Berge, Täler und Flussläufe so naturgetreu wie möglich wiedergaben. Ein Kunstwerk, stellte Esmeraldo bewundernd fest, und zugleich kaum mit Gold aufzuwiegen, wenn man einen Krieg plante, bei dem die örtlichen Gegebenheiten eine entscheidende Rolle spielen.

Auf einem der Diwane an der Wand unter dem Rabenbanner lümmelte ein dunkelhaariger Mann mit sorgsam gestutztem Bart und wachen Augen, die Esmeraldo neugierig entgegenblickten. Er trug einfache, aber gepflegte Kleidung, und sein sehniger Körper verriet, dass er seine Zeit nicht mit Orgien und anderen Lustbarkeiten verbrachte. Das musste Lucio ter Ubrecht sein, der vor dem Einmarsch des Generals noch als geächteter Aufrührer und Anführer einer Rebellengruppe gegolten hatte. Oderin du Metuant hatte ihn in seinen Rat geholt, um die Stimme der Straße zu hören und den besitzlosen Massen das Gefühl zu vermitteln, ein Ohr für ihre Sorgen zu haben. Ihm gegenüber ruhte eine Frau, deren Alter schwer zu schätzen war. Langes schwarzes Haar fiel ihr offen über die Schultern, die nur von einer Gewandspange bedeckt waren. Das Kleid aus fließender Seide ließ mehr erahnen als es verbarg, und dennoch zeigte es einen erstaunlich keuschen Schnitt, als habe die Grandessa eigens für diesen Besuch den Anschein von Förmlichkeit wahren wollen. Der Blick jedoch, mit dem sie Esmeraldo musterte, schien wie von Rahja selbst beseelt, sodass er nicht anders konnte, als einen Moment bei ihr zu verharren und ihren stummen Gruß lächelnd zu erwidern.

»Der grimmige Kor mit Euch, Paligan«, riss ihn eine harsche Stimme aus der Betrachtung und zwang seinen Blick auf die andere Seite des Kartentischs, wo mit verschränkten Armen Alena Karinor stand. Die Nichte des verblichenen Großexekutors, die inzwischen als rechte Hand des Generals galt, war wie immer angetan in ihrem Harnisch, eine hochgewachsene Frau mit kantigem Gesicht und der Statur einer Soldatin. Ihre Miene blieb düster, während sie ihm knapp zunickte. »Ihr hattet eine gute Reise?«

»Boron zum Gruße, Commandanta Karinor«, antwortete er und neigte ebenfalls grüßend den Kopf. »Ich kann nicht klagen. Selbst Stürme und Piraten würden mich nicht abhalten, dem Imperium meinen Dienst anzutragen.«

»Das ist erfreulich zu hören«, klang die Stimme des Generals von der anderen Seite des Kartentischs und ließ Esmeraldo unwillkürlich Haltung annehmen.

Es war fünf Jahre her, seitdem er Oderin du Metuant das letzte Mal gesehen hatte, aber es schien ihm, als sei der General keinen Tag gealtert. Im Gegenteil, in seinen Augen zeigte sich eine Entschlossenheit, die Esmeraldo in Port Corrad selten an ihm gesehen hatte. Noch immer war er eine beeindruckende Erscheinung, ein Soldat, der die meiste Zeit seines Lebens im Feld oder auf dem Exerzierplatz verbracht hatte und der es ebenso gewohnt war, die Last der Rüstung zu tragen wie die der Verantwortung. Die graumelierten Haare trug er kurz, das kantige Gesicht zeigte die Spuren eines harten Lebens ohne Ausschweifungen. Aufrecht und eisern stand er da in seiner schwarzen Plattenrüstung und blickte Esmeraldo ernst entgegen.

»Ich entbiete Euch meinen Gruß, Procurator.« Esmeraldo trat einen Schritt vor und führte die Faust zur Brust. »Ich freue mich, Euch bei bester Gesundheit zu sehen.«

»Boron zum Gruß, Esmeraldo.« Die Stimme des Generals klang wie erwartet weder erfreut noch verärgert über sein Erscheinen. Es geschah selten, dass du Metuant sich anmerken ließ, was er dachte, und wenn, dann sicher nicht in diesem Kreis. »Wir hatten Euch bereits erwartet. Ihr kennt sicher Donna Shantalla Karinor?« Oderin deutete auf die Grandessa.

»Don Esmeraldo und ich hatten vor Jahren das Vergnügen, aber ich bin mir nicht sicher, ob er sich noch daran erinnert.« Shantalla lächelte liebenswürdig. »Ich bin aber sehr erfreut, Euch hier zu sehen. Meinen Glückwunsch, Commandante.«

»Ich danke Euch.« Esmeraldo nickte, während er sich zu erinnern versuchte, wann er schon einmal mit der schönen Grandessa gesprochen hatte. Als Kind hatte er unter den Zorganpocken gelitten und war von den Folgen so entstellt gewesen, dass seine Familie ihn lange von allen Festlichkeiten ferngehalten hatte. Als er älter geworden war, hatte er mit viel Wein und Rauschkraut zu vergessen gesucht, wie es um sein Gesicht bestellt war, sodass viele dieser Nächte in einem Nebel des Vergessens versunken waren. Erst, als er beschlossen hatte, sich nicht länger dem Selbstmitleid hinzugeben, sondern sein Schicksal in die Hand zu nehmen, hatte sich das geändert. Er hatte einen Magier dafür bezahlt, dass er die Pockennarben verschwinden ließ, und war zum Militär gegangen, wo er in Oderin du Metuant einen harten, aber fähigen Dienstherrn gefunden hatte. Seine Begegnung mit Donna Shantalla musste in die Zeit des selbstzerstörerischen Rauschzustands gefallen sein, sodass er beschloss, es lieber dabei zu belassen. »Es ist lange her, seitdem ich mich das letzte Mal längere Zeit in Al’Anfa aufgehalten habe. Erinnerungen verblassen angesichts der militärischen Notwendigkeiten, aber es lassen sich sicher neue schaffen.«

»Ohne Zweifel.« Der Blick der Grandessa verharrte noch einen Moment lang bei ihm, und es schien Esmeraldo, als vertiefe sich ihr Lächeln in einem Anflug sanften Spotts.

»Donna Shantalla ist hier, weil wir über den Stand der Flotte sprechen müssen«, unterbrach Oderins Stimme das stumme Zwiegespräch. »Commandanta Alena Karinor ist Euch bereits bekannt. Senhor ter Ubrecht ist an den militärischen Unternehmungen nicht beteiligt, aber ich lege Wert darauf, seine Stimme zu hören. Ihr kennt einander?«

 

»Nur flüchtig. Wir sind uns begegnet, ehe ich nach Sylla aufgebrochen bin.« Esmeraldo lächelte schmal, während sein Blick zu dem dunkelhaarigen ehemaligen Rebellen zurückkehrte, der ihn unverhohlen musterte. »Ich freue mich, Euch hier wiederzusehen. Es ist eine ganze Weile her.«

»Wir haben uns zuletzt an jenen blutigen Tagen gesehen, als Ihr die Anhänger der Duumvirn bestrafen ließet.« Lucio ter Ubrecht hob die Mundwinkel. »Da Euer Ruf als Schlächter des Südens inzwischen verblasst, gehe ich davon aus, dass Ihr mit Euren Gegnern in Sylla milder umgegangen seid?«

»Ihr wisst, dass es nötig war, das Gesindel in seine Schranken zu weisen«, erwiderte Esmeraldo ungerührt. Natürlich, es konnte diesem selbsternannten Volkstribun der Straße nicht schmecken, dass er damals hunderte dieser Hungerleider aufschlitzen und an Pfähle nageln ließ. Zu tief saß das Misstrauen der Fana gegenüber den Granden, vor allem bei Gestalten wie diesem Rebellen, der sein Leben dem Kampf gegen die Silberberger gewidmet hatte. Esmeraldo beschloss, ihn zu ignorieren.

»Bei dem, was uns bevorsteht, erwarte ich eher taktisches Geschick, als gnadenlose Härte.« Oderin trat um den Kartentisch herum. Seine grauen Augen fingen einen Herzschlag lang Esmeraldos Blick, ehe er die Arme hinter dem Rücken verschränkte. »Ihr wisst, wohin uns dieser Krieg führen wird?«

»Ich habe eine Vermutung.«

Der General nickte und blickte auffordernd in Alenas Richtung. »Dann führt kurz aus, Commandanta.«

Die Gestalt der jungen Offizierin straffte sich. »Das Ziel ist das Kemireich«, begann sie mit ungerührter Miene und trat an den Kartentisch. Mit knapper Geste deutete sie auf den Dschungel südlich des al’anfanischen Imperiums. »Die Lage dort hat sich in den letzten Monden verschärft. Königin Ela ging auf Druck der Horasier zuletzt verstärkt gegen die radikale Sekte der Corvikaner vor, die eine Rückkehr borongefälliger Herrschaft und eine Ausrottung aller horasischen Einflüsse in Kemi fordern. Viele Einwohner Kemis stehen hinter diesen Ideen, auch wenn sie zögern, ihrer Königin, der Nisut, die Gefolgschaft aufzukündigen. Prinzessin Rhônda, die Schwester der Nisut, wurde auf Geheiß der Horasier für geächtet erklärt. Sie ist eine fromme Dienerin des Göttlichen Raben und wird von vielen Kemi inzwischen als die wahre, von Boron erwählte Herrscherin des Landes verehrt. Die Zuspitzung der Lage und das Hilfegesuch Prinzessin Rhôndas verlangen, dass wir ihre Sache zu der unseren machen. Wir werden an der Nordküste Kemis landen und von dort aus in mehreren Vorstößen gen Rahja vorrücken«. Sie deutete auf die Karte, wo sich dichter Dschungel erstreckte, nur unterbrochen von einigen mäandernden Flüssen. »An der Südküste des Landes werden sich unsere Banner vereinen, um auf die Tempelinsel Laguana überzusetzen«. Sie zeigte auf eine kleine Erhebung in der Bucht südlich von Khefu. »Dort werden wir Königin Ela stürzen, Rhônda als rechtmäßige Nisut einsetzen und den Ruhm und die Macht des Imperiums bis an die Grenzen des Südmeeres ausdehnen.«

Esmeraldo nickte verstehend. Kemi also. Jenes Dschungelreich, das schon Patriarch Tar Honak vor gut dreißig Jahren versucht hatte, dem Imperium einzuverleiben. Damals war der Vorstoß am Widerstand der Bevölkerung, dem unwegsamen Gelände und nicht zuletzt am Ableben des Patriarchen gescheitert.

»Ist denn sicher, dass sich die Menschen dort auf die Seite der Prinzessin schlagen werden?«, fragte er. »Gegen den Willen der Kemi ist das Land kaum zu halten, sodass es nur eine Frage der Zeit wäre, bis Rhônda wieder gestürzt würde.«

»Der Krieg steht unter dem Schutz und im Zeichen des Herrn Boron«, sagte Oderin, der mit undurchsichtiger Miene den Ausführungen gefolgt war. »Es wird kein gewöhnlicher Feldzug, sondern ein Triumphzug zu Ehren des Göttlichen Raben, bei dem Kemi und Al’Anfa Seite an Seite gegen die Ketzer aus dem Norden stehen. Deshalb werden wir auch nicht mit der Flotte nach Laguana fahren, sondern durch das Land ziehen, um die Bevölkerung unter Rhôndas Banner zu einen.«

Und die Kemiprinzessin in die Abhängigkeit des al’anfanischen Imperiums zu zwingen. Esmeraldo nickte erneut und mit einer gewissen Hochachtung vor dem General, der aus den Niederlagen der letzten Jahrzehnte gelernt zu haben schien. »Dann dient die Flotte lediglich dem Aufmarsch?«

»So ist es. Die Truppen sind bereits auf dem Korfeld vor der Stadt versammelt und erwarten ihre Befehle zum Einschiffen«, sagte Alena. »Sobald Donna Shantalla ihren Zusagen endlich nachkommt und ihre Galeeren dem Aufgebot zugeführt hat, ist das Heer marschbereit.«

Shantalla lachte leise. »Bitte, Ihr tut ja so, als hingen die Verzögerungen nur an mir. Meine Werften arbeiten mit aller Kraft, sodass ich Euch versichern kann, dass die Schiffe rechtzeitig zur Verfügung stehen. Wenn es Euch bis dahin gelingt, den Patriarchen von der Borongefälligkeit dieses Unterfangens zu überzeugen, damit er der Kriegserklärung seinen Segen gibt.«

»Ich gehe nicht davon aus, dass er daran Zweifel hegt«, erwiderte Lucio von seinem Diwan aus. Er hob einen Mundwinkel. »Schließlich hat er Prinzessin Rhônda über Jahre unterstützt und gefördert. Ich halte sein Schweigen eher für Berechnung. Er wird Euch seinen Segen nicht geben, ehe Ihr nicht auf Knien zum Tempel gekrochen und ihn selbst darum gebeten habt.«

Oderin schüttelte den Kopf und schien etwas erwidern zu wollen, als Stimmen vor der Tür laut wurden.

»Ihr könnt hier nicht durch! Der General ist beschäftigt und empfängt Euch jetzt nicht.«

»Natürlich empfängt er mich«, schnappte eine raue Stimme. »Geht und teilt es ihm mit. Oder soll ich es ihm selbst sagen?«

Die Antwort des Gardisten ging in einem Scheppern unter. Im nächsten Moment wurde die Tür zum Besprechungsraum aufgestoßen.

»Was habt Ihr Euch dabei gedacht, du Metuant?«

Esmeraldo fuhr herum. Aus den Augenwinkeln sah er, wie auch Alena sich spannte. Ihre Hand glitt zur Waffe, aber Oderin gab mit einem knappen Wink zu verstehen, sich nicht einzumischen. Mit unbewegter Miene blickte er dem hochgewachsenen blonden Mann entgegen, der mit einer harschen Geste dem nachfolgenden Gardisten bedeutete, ihn besser nicht aufzuhalten.

»Don Rezzan.« Oderins Stimme klang kühl, aber nicht überrascht. »Ihr ersucht um eine Audienz?«

»Ich ersuche nichts. Ich muss Euch sprechen.« Der Grande blieb vor dem Kartentisch stehen und nickte erst dem General, dann Shantalla knapp zu. Als sein Blick Lucio streifte, schnaubte er abfällig. Dann wandte er sich wieder an Oderin. »Was habt Ihr Euch dabei gedacht?«, wiederholte er. »Glaubt Ihr, mich für dumm verkaufen zu können?«

»Und was glaubt Ihr Euch erlauben zu können, Rezzan Zornbrecht?«, fuhr Lucios Stimme scharf dazwischen.

Der Grande hielt inne, sein Kopf ruckte herum, und für einen Moment meinte Esmeraldo, der Zornbrecht werde den selbstgefälligen Fana mit einem Fausthieb von seinem Diwan schleudern. Seine Hand schloss sich schon um den Griff seines Säbels.

Doch dann ergriff Shantalla das Wort. »Bitte, Don Rezzan.« Sie lächelte sanft. »Mäßigt Euch. Wir befinden uns in einer Besprechung, wie Ihr zweifelsfrei seht. Euer Anliegen hat sicher Zeit bis später?«

Rezzan Zornbrecht verengte die Augen, und eine Erwiderung schien ihm schon auf der Zunge zu liegen. Doch stattdessen entspannten sich seine Züge, und er wandte sich Oderin zu, der den ganzen Wortwechsel ungerührt verfolgt hatte. Ein spöttisches Lächeln umspielte Rezzans Mund. »Verzeiht, ich konnte nicht wissen, dass Eure Zeit nahezu gänzlich Donna Shantalla und dieser Gossenratte gebührt. Ich werde mir nun trotzdem die Freiheit nehmen, mein Anliegen vorzubringen, wenn Ihr erlaubt.«