Ronny Rieken

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Ronny Rieken
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Heinrich Thies

Ronny Rieken

Portrait eines Kindermörders


Zweite Auflage 2005

© zu Klampen Verlag · Röse 21 · D-31832 Springe

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

e-mail: info@zuklampen.de

www.zuklampen.de

Satz: thielenVERLAGSBÜRO, Hannover

Umschlag: Matthias Vogel (paramikron), Hannover

Umschlagfoto: Udo Heuer, Hannover

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

ISBN 9783866743489

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über ‹http://dnb.ddb.de› abrufbar.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Prolog

1. Ein Mädchen verschwindet

2. Die Begegnung

3. Ulrike wird vermisst

4. Erinnerungen an den Vater

5. Der Prügelknabe

6. Unterwegs als Schiffsjunge

7. Die Traumfrau

8. Auf Abwegen

9. »Es war das perfekte Leben«

10. Christina

11. Über Nacht zum Soko-Chef

12. Die Trauerfeier

13. Der Speicheltest

14. Die letzten Wochen der Freiheit

15. Wie ein Fahndungserfolg zur Panne wird

16. Die Schwester: »So abgebrüht war er nun auch wieder nicht«

17. Das Geständnis

18. Die Ehefrau: »Man kann ihn doch nicht einfach fallen lassen«

19. Erkundung der Abgründe

20. »Ich habe es wirklich nicht gewollt« – Briefe aus der Untersuchungshaft

21. Der Prozess

22. »Es fehlt an einer emotionalen Bremse« – Gespräch mit Norbert Leygraf

23. Die Schwester: »Mitleid hatte ich die ganze Zeit mit ihm«

24. Befreiung aus mütterlicher Umklammerung

25. Unter Schicksalsgenossen

26. Der Gefängnispsychologe: »Wir wissen einfach zu wenig«

27. Die verwaisten Eltern: Lebenslang im Schatten der Erinnerungen

28. Wieder ist ein Mädchen verschwunden

29. Nachwort: Die Banalität des Bösen

Prolog

»Ein Schelm, der Böses dabei denkt.« Der Spruch des Hosenbandordens steht in ehrwürdigem Französisch über dem historischen Eingangsportal der Justizvollzugsanstalt (JVA) Celle. Eine Inschrift mit Hintersinn. Denn tatsächlich dürfte der flüchtige Besucher der niedersächsischen Herzogstadt Celle hinter der schönen Fassade mit den Türmen und stuckverzierten Giebeln eher ein Schloss vermuten als ein Gefängnis. Ursprünglich sollte eine Universität daraus werden, doch dann wurde ein Zucht- und Tollhaus in Celle dringender gebraucht. Und wenn das Folterwerkzeug auch nur noch im Gefängnismuseum zu besichtigen ist, so hat sich am allgemeinen Bestimmungszweck von der Gründung im Jahre 1716 bis in die Gegenwart hinein kaum etwas verändert. Heute verbirgt sich hinter den denkmalgeschützten Mauern eine der am besten gesicherten Justizvollzugsanstalten Deutschlands. Die JVA Celle I ist die Dauerherberge von Schwerverbrechern und Mördern, von denen viele lebenslange Freiheitsstrafen zu verbüßen haben.

Aus Sicherheitsgründen erhalten die Besucher seit Mitte 2003 Einlass nicht mehr durch das historische Portal mit dem hintersinnigen Spruch, sondern durch einen angebauten Eingangstrakt mit vielen verborgenden Kameraaugen und gespenstischen Sprechanlagen. Und wer einen der Gefangenen besuchen will, muss zuerst eine lange Sicherheitsschleuse passieren und sich gründlich durchleuchten und abtasten lassen. Im Besuchszimmer selbst darf man sich dann wie im Erfrischungsraum eines Freizeitheims fühlen. Gemütlich brummt der Kaffeeautomat, gleich daneben hält ein anderes Selbstbedienungsgerät die übliche Auswahl an Chips, Schokoriegeln und Weingummis bereit. Sogar an eine Spielecke ist gedacht. Schließlich sind unter den Häftlingen nicht wenige Familienväter mit Kindern, wie die Zeichnungen zeigen, die an einer Wand hängen.

Auch Ronny Rieken ist Vater von drei Kindern. Weil er zwei Mädchen ermordet hat, ist er in Haft. Wie fühlt sich einer, der eine solch erdrückende Schuld auf sich geladen hat und womöglich den Rest seines Lebens hinter Gittern verbringen muss?

Der dunkelblonde Mann mit dem blassen Gesicht, der geradewegs aus der Tischlerwerkstatt kommt, schmunzelt, als er hereingeführt wird. Betont locker streckt er die Hand zum Gruß aus.

»Hallo.«

»Guten Tag. Wie geht’s Ihnen?«

»Na ja, kann nicht klagen …«

»Kaffee?«

»Immer.«

Dankbar nimmt Ronny Rieken einen Plastikbecher mit Automaten-Kaffee entgegen. Weitere Gastgeschenke sind nicht gestattet, größere Geldbeträge müssen am Eingang hinterlegt werden. Aber der verurteilte Kindermörder hat seine Gesprächsbereitschaft auch nicht an Geldforderungen geknüpft.

Seit seiner Verurteilung im November 1998 habe ich immer wieder den Versuch unternommen, mit Ronny Rieken ins Gespräch zu kommen. Anfang 2003 schließlich hat er seine Bereitschaft signalisiert.

Da unser Gespräch außerhalb der offiziellen Besuchszeiten stattfindet, ist das Besuchszimmer leer. Nicht einmal ein Justizbediensteter hält Wache.

Drei Totenköpfe zieren den linken Unterarm des Gefangenen, ein Drachenkopf und Flammenball den rechten – Tätowierungen aus der Jugendzeit, eingeätzte Knasterinnerungen. Am linken Ohr trägt Ronny Rieken einen goldglitzernden Ohrring. An der rechten Hand seinen Ehering – das sichtbare Zeichen dafür, dass noch nicht alle Verbindungen zur Außenwelt gerissen sind. Dass da noch etwas ist, das ihm Halt gibt.

Der Mann mit dem Dreitagebart zündet sich eine seiner Selbstgedrehten an und zieht den Rauch durch die Lunge. Daraufhin berichtet er im Plauderton über den Knastalltag, lässt sich bereitwillig nach den verschiedenen Etappen seines Lebens und seinen Straftaten befragen. Es sind grausame Dinge, über die er spricht. In den Worten, die er dafür wählt, kommt die Dramatik bisweilen auch zum Ausdruck. »Schlimm« nennt er, was ihm als Kind angetan wurde, »schlimm« was er später anderen Kindern angetan hat. Doch er verliert keine Träne dabei, lehnt sich zurück, verschränkt die Arme vor der Brust, runzelt die Stirn, schmunzelt, raucht.

Ein Schelm, der Böses dabei denkt.

Drei Stunden steht der Mann in der graublauen Arbeitskluft Rede und Antwort, verzichtet auf das Mittagessen und erklärt sich sofort bereit, das Gespräch an einem anderen Tag fortzusetzen, als ein Justizbediensteter auf das Ende der Besuchszeit hinweist. »Vor einem halben Jahr hätte ich noch keinen Mucks gesagt«, gibt er dem Interviewer mit auf den Weg. »Aber jetzt ist es anders. Ich will reden, ich will mit mir ins Reine kommen. Wird ja auch langsam Zeit.«

Insgesamt zehnmal habe ich Ronny Rieken in seinem Celler Gefängnis aufgesucht, um besser zu verstehen, was mir so unerklärlich schien. Immer wieder habe ich nachgefragt, wenn sich Widersprüche auftaten und die Schilderungen von dem abwichen, was Rieken gegenüber den Kriminalbeamten, Gutachtern oder im Prozess ausgesagt hatte. Gleichwohl wäre es verfehlt zu hoffen, dass am Ende so etwas wie die Wahrheit stehen könnte. Jede Lebensgeschichte bleibt immer subjektiv – dies gilt insbesondere für die Biografie eines Mannes, dessen bisheriges Leben auf Lüge und Täuschung gründete.

 

Um den Blick auf die verhängnisvolle Entwicklung des Sexualstraftäters Ronny Riekens zu weiten, habe ich daher ganz unterschiedliche Sichtweisen einbezogen. Von Familienangehörigen, Polizeibeamten und Psychiatern – und auch von den Eltern der Opfer. Um die Persönlichkeitsrechte der Beteiligten zu wahren, habe ich bei Personen aus dem privaten Umfeld des Täters sowie überlebenden Opfern die Namen geändert.

Aus all den Textbestandteilen lässt sich kein geschlossenes Bild zusammensetzen. Allenfalls ein Mosaik. Nicht auf eine griffige Erklärung ist dieses Bemühen daher ausgerichtet, sondern auf behutsame Annäherung – Annäherung an das Unfassbare, Annäherung an das vermeintlich Böse.

Das so genannte Böse fällt nicht vom Himmel. Es kommt auch nicht in der Gestalt des Teufels daher. Das Böse hat meistens eine lange Vorgeschichte. »Das eben ist der Fluch der bösen Tat, dass sie fortzeugend immer Böses muss gebären«, hat schon Friedrich Schiller festgestellt. Dies gilt auch für die Verbrechen Ronny Riekens, deren Grausamkeit die Grenzen menschlicher Vorstellungskraft sprengt. Die Ursachen reichen bis in die frühe Kindheit zurück – seelische Verletzungen, die möglicherweise nie ganz verheilten. In geradezu biblischer Wucht zeigt sich an der Lebensgeschichte des Kindermörders, wie die Sünden des Vaters auf den Sohn kamen. Ronny Rieken sitzt heute in derselben Haftanstalt ein, in der sein Vater einst seine Strafe verbüßte – und zwar für ganz ähnliche Delikte. Es ist nicht entscheidend, ob er tatsächlich von seinem Vater vergewaltigt wurde, wie er sagt. Entscheidend ist das negative Vorbild, das Wilhelm Hyazinthus Rieken seinem Sohn vermittelte. Denn trotz der Schläge und Peinigungen liebte Ronny Rieken seinen Vater. Damit war er offen für die Übernahme der fatalen väterlichen Verhaltensmuster. Der Vater, der ihm im Alter von sechs Jahren durch die Festnahme entrissen wurde, lebte gewissermaßen in seinem Innern fort.

Selbstverständlich folgt daraus kein Automatismus, der am Ende wie im Selbstlauf zu den Kindermorden führt. Nicht eine einzige Wurzel, sondern ein Wurzelgeflecht hat das Unfassbare hervorgebracht. Abgesehen von der wissenschaftlich strittigen Frage der genetischen Vorbelastung war es nicht nur die kriminelle Komponente des Vaters, die Ronny Rieken prägte. Auch seine Mutter hat ihn geprägt. In dem Bestreben, den geliebten Sohn vor dem schädlichen Einfluss des Vaters zu bewahren, erklärte sie die Verbrechen ihres Mannes zum Tabu – und legte damit, ohne es zu wollen, den Grundstein für ein Lügengebäude, in dem Ronny Rieken zeitlebens gefangen blieb. Erst war es der Vater, mit dem er sich nicht offen auseinandersetzen konnte, dann waren es seine eigenen Fantasien, die er vor seiner Umwelt verbergen musste. Schließlich waren es seine Taten, die nicht nach außen dringen durften und ihn in ein Doppelleben flüchten ließen. Und vieles spricht dafür, dass Ronny Rieken deshalb nach außen hin so unverdächtig agieren konnte, weil er den Mord an Ulrike Everts in bewährter Manier erfolgreich aus seinem Bewusstsein tilgte.

Solche Lügengespinste lassen sich nicht einfach abstreifen wie Spinnweben. Bei allem glaubwürdigen Bemühen, mit sich ins Reine zu kommen, neigt Ronny Rieken auch heute noch dazu, die Dinge so zu schildern, wie sie ihm nützlich erscheinen und den äußeren Erwartungen entsprechen. Manche Täuschungsstrategien haben sich möglicherweise so tief in ihm festgesetzt, dass er selbst nicht in der Lage ist, Wahrheit und Erfindung zu unterscheiden.

Daraus ergeben sich für die Lebensgeschichte, die im wesentlichen auf den Schilderungen Ronny Riekens basiert, erhebliche Schwierigkeiten. Was kann man von all dem glauben, das so einer erzählt?

Ich habe mich für zwei Verfahrensweisen entschieden, um das Problem zu entschärfen. Zum einen habe ich die Schilderungen Riekens abgeglichen mit Berichten Dritter (Urteilsbegründung, Angaben der Schwester, eines leitenden Polizeibeamten und eines Psychologen, psychiatrisches Gutachten usw.). Zum anderen habe ich markante Darstellungen und Wertungen Riekens als kursiv gesetzte Einschübe hervorgehoben, um den subjektiven Charakter dieser Aussagen deutlich zu machen. Dabei geht es nicht nur um den Inhalt, sondern auch um die Sprache. In der Art und Weise, wie Ronny Rieken seine Entwicklung, seine Taten und sein seelisches Dilemma artikuliert, charakterisiert er sich selbst. Ebenso aufschlussreich ist, wie sich in der – oftmals widersprüchlichen – Selbstreflexion Riekens dessen inneres Ringen widerspiegelt. Dreh- und Angelpunkt dabei ist immer wieder das zwiespältige Verhältnis zu seiner Mutter.

Die unterschiedlichen Textelemente stehen unkommentiert für sich. Sie sind so ineinandermontiert, dass sie sich wechselseitig erhellen, aber auch relativieren.

Gefragt ist also ein aktiver Leser, der aus dem Textmaterial eigene Schlüsse zieht. Dieses Buch bemüht sich zwar, Einblick in die Psyche eines Kindermörders zu bringen, verzichtet aber auf abschließende Wertungen. Und selbstverständlich kann es dabei nicht darum gehen, eine Prognose über die Erfolgsaussichten einer Therapie abzugeben.

1. Ein Mädchen verschwindet

Es ist heiß an diesem 11. Juni 1996, 28 Grad im Schatten. Wie üblich ist Ulrike Everts gegen 13 Uhr von der Schule nach Hause gekommen, hat ihre Vögel, Fische und Zwergkaninchen gefüttert und dann mit ihren Eltern Mittag gegessen.

Nach dem Mittagessen lässt die dreizehn Jahre alte Realschülerin sich von ihrem Vater zur Ponyweide fahren, die nur zwei Kilometer vom Wohnhaus der Familie entfernt ist. Der Weg von Jeddeloh II, einem Dorf in der Nähe von Oldenburg, zum Wochenendgrundstück in Harbern führt über den Küstenkanal.

Dahinter warten zwei Shetlandponys auf Ulrike. Das Mädchen mit den blonden nackenlangen Haaren spannt Rex und Sonja vor ihre kleine Kutsche, ihr Vater verabschiedet sich. Wubbo Everts muss zurück in seine Firma, einen Handwerksbetrieb für Kältetechnik.

Gegen 15 Uhr setzt sich Ulrike mit ihrem kleinen Gefährt in Bewegung. Sie fährt ein kurzes Stück auf der Kanalstraße entlang und biegt dann in einen Sandweg ein, der auf beiden Seiten von Eichen und Birken gesäumt wird, den Dortmunder Moorweg. Anwohner beobachten, wie sie ihre Ponykutsche an Maisfeldern und Wiesen vorbeilenkt. Dann verlieren sie das Mädchen aus den Augen. Gut zwanzig Minuten später kehren die Ponys mit der leeren Kutsche zurück. Ulrike ist verschwunden. Spurlos.

2. Die Begegnung

Es war noch angenehm kühl, als Ronny Rieken an diesem Tag gegen halb sechs Uhr in der Frühe das Haus verließ. Jonas, sein anderthalb Jahre alter Sohn, die fünf Wochen alte Maren und Gerda, seine Frau, schliefen noch fest. Wie üblich hatte er sich Butterbrote geschmiert und seine Arbeitskluft angelegt, die blaue Latzhose und das karierte Flanellhemd. Alles sollte so aussehen, als fahre er wie gewohnt zur Arbeit. In Wirklichkeit war er der Arbeit schon seit fünf Tagen ferngeblieben. Das war die Rache. Die Rache dafür, dass sein Chef sich geweigert hatte, ihm eine Woche vor Monatsende einen Vorschuss zu zahlen. Dabei hätte er das Geld dringend gebraucht. Eine Autoreparatur hatte den Rest der Familienersparnisse aufgezehrt. Und die Vorräte im Haushalt waren aufgebraucht, so dass der monatliche Großeinkauf fällig geworden war.

O ja, die kategorische Weigerung seines Chefs, Entgegenkommen zu zeigen, hatte ihn geärgert. Furchtbar geärgert. Ohnehin hatte er das Gefühl, dass ihn die Leiharbeitsfirma, in deren Sold er stand, ausnutzte. Hinzu kam der weit entfernte Arbeitsplatz. Für die Fahrt von Elisabethfehn zur Ölraffinerie in Wilhelmshaven brauchte er gut anderthalb Stunden. Da ging ein Großteil des Lohns schon für den Sprit drauf – von der Zeitvergeudung durch die Fahrerei einmal ganz abgesehen. Die Arbeit an sich war nicht schlecht. Kühlwasserleitungen verlegen, Ventile reinigen, Rohre verschrauben. Alles mögliche. Was so an Bauschlosserabeiten anfiel. Denn obwohl er eigentlich Maschinenbauer war, hatte ihm die Leiharbeitsfirma einen Bauschlosserjob vermittelt. Kein Problem – wenn nicht diese verteufelt lange Fahrtstrecke gewesen wäre. Und dann eben die kleinliche Weigerung der Zeitarbeitsfirma, ihm den Vorschuss zu zahlen. Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte.

Seiner Frau hatte er nichts von seinem Privatstreik erzählt. Die hätte ihm nur Vorhaltungen gemacht, dass er leichtfertig seinen Arbeitsplatz aufs Spiel setze und nicht an die Kinder denke, die versorgt werden wollten. Dieser Streiterei wollte er aus dem Wege gehen. Darum hatte er einfach so getan, als fahre er weiter brav zur Arbeit.

In Wirklichkeit fuhr er erst einmal zu seiner Mutter zum Frühstücken. Die wohnte im gleichen Dorf, nur ein paar Straßen weiter in einem Haus bei ihrem zweiten Mann Paul, Ronny Riekens Stiefvater – einem älteren Herrn, der mit ihm gern über die Metallverarbeitungsbranche fachsimpelte und somit ein recht gutes Verhältnis zu seinem Stiefsohn, dem gelernten Maschinenbauer, unterhielt.

Die beiden alten Herrschaften waren natürlich eingeweiht. Margot Rieken war stolz, mit ihrem Sohn ein Geheimnis zu teilen – stolz, dass ihr Ronny ihr mehr vertraute als seiner eigenen Frau.

Das kam ihr natürlich sehr entgegen. Für meine Mutter war immer schon klar, dass Gerda nichts taugt. Die hat doch jede Gelegenheit, genutzt, um mich zu warnen vor meiner Frau. Dass sie mich bloß ausnutzt, diese Schlampe. Ich konnte es schon nicht mehr hören, habe Gerda manchmal auch verteidigt. Aber letzten Ende ist wahrscheinlich immer irgend was hängen geblieben.

Dabei verstand sich Ronny Rieken im übrigen nicht schlecht mit Gerda. Er hatte sie schon gekannt, als sie noch zur Schule gegangen war. Nur über Fragen der Kindererziehung waren die beiden in jüngster Zeit gelegentlich aneinandergeraten – manchmal so heftig, dass sie nachts auch schon mal in getrennten Betten schliefen.

Ich konnte es einfach nicht mit ansehen, wenn sie den Kleinen geschlagen hat – und sei es auch nur auf die Finger. Ich hatte schließlich als Kind am eigenen Leibe erfahren, wie schlimm das ist, verprügelt zu werden.

Möglicherweise war er einmal sogar derart geschlagen worden, dass sein Nasenbein brach. Ein leichter Knick in der Nase blieb davon zurück, eine Missbildung, die ihm den Spottnamen »Krummnase« eingetragen hatte. Dabei hatte er ansonsten eigentlich keinen Grund, sich über sein Äußeres zu beklagen: schlank, sportlich dunkelblond – er musste sich nicht verstecken.

Doch die Heimlichtuerei mit der vorgetäuschten Fahrt zur Arbeit belastete ihn. »Ich werde es ihr heute Abend beichten«, sagte er darum an diesem Morgen seiner Mutter. »Irgendwann kriegt sie es sowieso spitz.«

»Unsinn, wie soll die das denn rauskriegen«, entgegnete seine Mutter.

»Die ist doch auch nicht blöd. Die muss sich doch bloß den Kilometerstand angucken.«

»Dann fährst du eben nach Wilhelmshaven, damit du auf die Kilometer kommst. Das Benzingeld will ich dir schon geben.«

Er war schon an den Tagen zuvor ziellos durch die Gegend gefahren, um Kilometer und Arbeitszeit vorzutäuschen. Auch an diesem Tag verließ er nach mehreren Tassen Tee gegen 10.30 Uhr das Haus seiner Mutter in Elisabethfehn und lenkte seinen mars-metallicroten Opel Omega mit der auffälligen Funkantenne am Heck in Richtung Oldenburg.

In Oldenburg steuerte er den Hafen an der Hunte an. Schiffe gucken. Auch mit den Matrosen plauderte er gern. Er war ja selbst noch vor einigen Jahren als Binnenschiffer die deutschen Wasserstraßen rauf und runter gefahren. Eine schöne Zeit, die aber natürlich der Vergangenheit angehörte – wie manches andere, was er in seinen 28 Lebensjahren schon so gemacht hatte.

Mit Blick auf die Schiffe und in Gedanken an Gerda verspeiste er an diesem Mittag auf einer Bank im Oldenburger Hafen geruhsam seine Butterbrote und beschloss schließlich, die Heimreise anzutreten. Da es noch zu früh war, wollte er aber nicht die Hauptstraße nehmen. Er entschied sich für die Nebenstrecke – immer am Küstenkanal entlang. Dabei hörte er Seemannslieder von Ronny. »Wo die Nordseewellen schlagen an den Strand …« Er kannte diese Schlager schon seit Kindheitstagen. Seine Mutter schwärmte für Ronny. Darum hatte sie auch ihren Sohn nach ihrem Lieblingssänger benannt. Genaugenommen ihre beiden Söhne. Denn bevor Ronny II geboren war, hatte es schon Ronny I gegeben, der bereits wenige Tage nach der Geburt gestorben war. Auf jeden Fall sah der Zweitgeborene keinerlei Grund, sich seines Namenspatrons zu schämen. Im Gegenteil. Auch ihm gefielen die Lieder. Und so hatte er neben aktuellen Pop-Hits immer auch etliche Kassetten mit Countryand-Western-Songs, Schlagern, Volksliedern oder Seemannsliedern von Ronny im Auto. Er konnte so schön abschalten dabei.

 

»Ick heff mol n Hamburger Veermaster sehn …«

Im Laufe des Tages war es immer heißer geworden. Um sich ein wenig Kühlung in seinem Opel Omega zu verschaffen, hatte er das Seitenfenster heruntergekurbelt. Das Funkgerät, das im Auto installiert war, war selbstverständlich abgeschaltet. Gerda hatte schließlich zu Hause auch eine Funkanlage, ebenso wie ihre Eltern, die ebenfalls in Elisabethfehn wohnten. Was, wenn sie ihn plötzlich auf dem Kanal hatten? Sein ganzes Lügengebäude wäre ja sofort eingestürzt.

Immer wieder musste er an das Gespräch denken, das er am Abend mit seiner Frau führen wollte. Er war es einfach leid, dauernd diese ausweichenden Antworten geben zu müssen, wenn sie ihn fragte, wie es bei der Arbeit gewesen war. »Ach, wie immer« oder »Heute war’s eigentlich ganz schön« hatte er immer herumgedruckst. Damit sollte Schluss sein. Aber wie konnte er Gerda schonend beibringen, dass er die Arbeit geschwänzt hatte?

»Auf der Reeperbahn nachts um halb eins,

ob du ’n Mädel hast oder auch keins …«

Erst halb drei. Die Zeit wollte einfach nicht vergehen. Er sah, wie sich auf dem Küstenkanal ein Schiff näherte, parkte, stieg aus und hockte sich an die Uferböschung, um den Kahn näher in Augenschein zu nehmen. Er sah, dass das Motorschiff Kies geladen hatte – wie manche der Schiffe, auf denen er einst auch gefahren war. Als der Kasten an ihm vorbeigezogen war, setzte er seine Autofahrt fort.

Zwanzig vor drei. Die Zeit kroch dahin wie eine Schnecke. Ganz gemächlich kurvte er mit seinem Opel durch die Straßen. Auf einem Aufkleber an der Heckklappe stand zwar großspurig » … tschüß Gti«, aber bei dem Tempo, das er an diesem heißen Nachmittag fuhr, hätte jeder Radfahrer mithalten können.

In der Nähe der Ortschaft Harbern bog er in einen Sandweg ein, den er bisher noch nicht gefahren war. Junge Birken und Eichen säumten den Weg, der zwischen Maisfeldern und Wiesen hindurchführte. »Dortmunder Moorweg« stand auf einem Schild. Es war so trocken, dass es staubte. Um die sinnlose Fahrerei ein wenig aufzulockern und etwas Zeit zu schinden, hielt er am Ende des Sandweges an, wechselte die Kassette und schaltete von Ronnys Seemannsliedern auf Ronnys Golden Hits um. Er zündete sich eine Zigarette an und schob seinen Ellenbogen aus dem Seitenfenster.

Da sah er, wie sich vom Kanal her eine kleine Kutsche näherte. Zwei Minipferde waren davor gespannt, winzige Ponys. Auf dem Kutschbock saß, wie er bald erkannte, ein Mädchen mit blonden Haaren. Der Anblick nahm ihn gefangen, erregte ihn.

Während Ronny »Hohe Tannen« besang, beobachtete er gebannt, wie das Mädchen mit seiner Kutsche nach einer Weile anhielt, abstieg, die Zügel ihrer Pferdchen ergriff und wendete. Zu Fuß neben der Kutsche hergehend, entfernte sich das Mädchen wieder von ihm.

Das wollte er nicht zulassen. Seine Erregung wuchs. Er wollte das Mädchen haben. Er fuhr hinter der Kutsche her, überholte sie auf der rechten Seite. Der Weg war schmal. So musste er sich mit dem Auto regelrecht an dem Kind vorbeizwängen. Als er ein kleines Stück vorgefahren war, hielt er an, drehte die Scheibe an der Fahrerseite herunter und wartete auf die Kutsche und das Mädchen. Die Luft im Auto war trotz des offenen Fensters stickig, völlig verqualmt.

»My Bonnie is over the ocean«, sang Ronny.

Aber Ronny Rieken hörte nicht hin. Er drückte seine Zigarette aus und starrte auf den Weg.

Als das Mädchen an seinem Auto vorbeiging, streckte er blitzschnell seine Hand aus dem Seitenfenster und packte das Kind. Er krallte sich in den Haaren des Mädchens fest. Im nächsten Moment sprang er aus dem Auto, wechselte den Griff und umschlang sein Opfer. Das Mädchen schrie und trat verzweifelt um sich. Dabei starrte es den kräftigen blonden Mann im Holzfällerhemd mit weit aufgerissenen Augen an. Bei dem Gerangel entglitten dem Mädchen die Zügel, so dass die Shetlandponys ihren Weg allein fortsetzten.

Doch Rieken, der sonst panische Angst vor Pferden hatte, achtete nicht auf die Ponys.

Da ist dann wieder dieses Programm abgelaufen, dieses – blöder Ausdruck, aber ich habe kein besseres Wort dafür – dieses altbekannte Programm, da gab es kein Zurück mehr.

Er zerrte das angststarre Mädchen zum Heck seines Autos, zwängte es mit dem Kopf zuerst in den Kofferraum, schlug die Klappe zu, setzte seine Fahrt fort. Mit hoher Geschwindigkeit raste er über den Feldweg in Richtung Konsorstraße. Er hatte das Mädchen natürlich nicht nach seinem Namen gefragt, wusste also nicht, dass es Ulrike hieß. Er interessierte sich auch gar nicht dafür. Er verspürte weder Mitleid noch Angst, beobachtet zu werden. Und als Ulrike im Kofferraum weinte, drehte er einfach die Musik lauter.

»Kleine Annabell,

musst nicht traurig sein …«

Wilde Fantasien schossen ihm durch den Kopf. Er stellte sich vor, was alles er tun konnte mit dem Mädchen, das er in seiner Gewalt hatte und dem er all seine Wünsche aufzwingen konnte. Nur ein Ziel war es, das er vor Augen hatte, als er zum Küstenkanal zurückfuhr: seinen rund zehn Kilometer entfernten Lieblingsplatz, eine kleine Uferwiese im Schatten von Bäumen und Büschen, nicht weit entfernt von der Tierkörperbeseitigungsanstalt Kampe. Oft schon hatte er hier geangelt und vor sich hin geträumt. Doch an diesem heißen Juninachmittag sollte es auf dem kleinen Wiesenstück nicht so beschaulich zugehen.

Bevor er das Mädchen aus dem Kofferraum zerrte, nahm er die Hälfte des Nylonstrumpfs, den er immer im Auto hatte. Schon einmal hatte sich eine Strumpfhälfte als Keilriemenersatz bewährt. Diesmal aber nutzte er den Strumpf auf andere, ebenfalls erprobte Weise. Er verband dem Mädchen damit die Augen.

Verzweifelt versuchte Ulrike sich zu befreien. »Lass mich los, lass mich bitte, bitte gehen«, flehte sie den Mann an. Und der versprach: »Wenn du ruhig bist, bringe ich dich zu deiner Kutsche zurück.«

Aber das sagte er nur so. Er breitete seine rote Wolldecke aus, begann, Ulrike auszuziehen. Als sie sich wehrte, versetzte er ihr eine derart harte Ohrfeige, dass sie sich nicht mehr zu regen wagte.

Jetzt forderte er sie auf, sich vor ihm hinzuknien. Wie berauscht kostete er ihre Ohnmacht aus, warf sie zu Boden, würgte sie mit ihrem T-Shirt, um ihren letzten Widerstand zu brechen.

Er zwang sie, sein Glied in den Mund zu nehmen, drang mehrmals in sie ein.

Dann war da auf einmal das Geräusch eines sich nahenden Autos. Er horchte auf, hielt inne. Auch das Mädchen musste das Auto gehört haben. Es riss sich los, sprang hoch und schrie. Doch schon im nächsten Moment hatte er es wieder gepackt, niedergedrückt und ihm den Mund zugehalten. Dann ging alles ganz schnell. Er ergriff die losen Enden des T-Shirts, das noch um Ulrikes Hals geschlungen war, und zog zu. Ganz fest. Er beobachtete, wie das Kind röchelte. Doch er ließ nicht locker. Erst als Ulrike nach zwei bis drei Minuten kein Lebenszeichen mehr von sich gab, ließ er los.

Daraufhin legte er den erschlafften Körper in den Kofferraum und fuhr weiter. Aber wohin? Nach und nach kam ihm zu Bewusstsein, was er getan hatte. Entsetzt von seinem eigenen Tun zündete er sich eine Zigarette an. Es war weniger Mitleid, das ihn quälte. Es war vor allem die Kinderleiche im Kofferraum, die ihn mit Sorge erfüllte. Was, wenn er in eine Polizeikontrolle geriet? Wahrscheinlich würden sie ja schon nach dem Kind fahnden. Es war klar, dass er die Leiche schnell wieder loswerden musste. Aber wie?

Um zur Ruhe zu kommen, drehte er die Musik lauter.

»Oh, my Darling, oh my Darling,

oh my Darling Clementine ….«

Er atmete durch, drückte seine Zigarette in dem überquellenden Aschenbecher aus und zündete sich gleich eine neue an, während er sein Auto durch Oldenburg in Richtung Osten steuerte. Irgendwann hatte er die Gemarkung des Dorfes Loy erreicht. Er kannte den Ort. Eine Tante von ihm hatte hier einmal gewohnt. Hinter Loy erstreckte sich ein Naturschutzgebiet, das Ipwegermoor, eine abgeschiedene Gegend. Er bog in einen Feldweg ein. Als er gerade ein passendes Waldstück entdeckt hatte und anhalten wollte, sah er in der Ferne einen Bauern über einen Acker tuckern. Um nicht beobachtet zu werden, setzte er seine Fahrt fort. Während er über einen Waldweg holperte, sog er hastig den Rauch seiner Zigarette ein, achtete nicht darauf, dass ihm die Asche auf die Hose fiel. Irgendwann hatte er die Gellener Torfmöörte erreicht.

Als er sich sicher wähnte, hielt er an einem Rastplatz für Wanderer und holte den Leichnam aus dem Kofferraum. Gut 500 Meter trug und schleifte er das tote Kind durchs Gestrüpp, bis er zu einer Senke kam, die von einem Hügel verdeckt wurde. Da er mittlerweile völlig verschwitzt und erschöpft war, beschloss er, die Leiche in der Senke abzulegen, von der er annahm, dass sie längst ausgetrocknet war – fälschlicherweise, wie sich später herausstellen sollte.

Er bedeckte die nackte Kinderleiche mit Laub, verbuddelte auch die Kleidung des Mädchens, hockte sich an den Grabenrand und rauchte zwei Zigaretten. Dabei ergriff ihn erneut Entsetzen über sein Tun. Wie hatte das nur passieren können? Was war bloß los mit ihm?

Da es noch zu früh war, nach Hause zurückzukehren, legte er einen Zwischenstopp an der Oldenburger Schleuse ein. Ein Frachtschiff, vermutlich mit Kohle beladen, schob sich heran. Er beneidete den Mann, der mit einer Pfeife in der Hand über das Deck schlurfte.

Für die Rückfahrt nach Elisabethfehn benötigte er eine knappe Stunde. Um abzuschalten, hörte er wieder Seemannslieder von Ronny.