Die alte Tür

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Die alte Tür
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Helfried Stockhofe

Die alte Tür

Roman

Inhalt:

1. Der Tagesfänger

2. Die Frau im Park

3. Vertrauen und Liebe

4. Verbrechen und Spekulationen

5. Epilog

Kapitel 1, 2 und 4 erzählt der Psychotherapeut

Kapitel 3 und 5 erzählt die Frau aus dem Park

Handlung und Personen sind frei erfunden, Namensgleichheiten mit realen Personen

wären rein zufällig.

Ick sitze da und esse Klops.

Uff eenmal kloppt's.

Ick sitze, kieke, wundre mir,

uff eenmal is se uff de Tür.

Nanu denk ick, ick denk nanu!

Jetzt is se uff, erst war sie zu.

Und ick geh raus und kieke.

Und wer steht draußen?

Icke.

(unbekannter Dichter)

1. Der Tagesfänger

1. Die Intervisionsgruppe der Psychotherapeuten

Obwohl manchen die Leute schon gut bekannt sind, sollte ich doch die Truppe zuerst einmal vorstellen. Es waren drei Psychotherapeutinnen und ein Psychotherapeut, als ich vor einigen Monaten zu ihnen stieß, nun sind wir also fünf:

Die Mutter der Kompanie – ich weiß gar nicht, warum mir immer militärische Begriffe einfallen – ist Inge. Sie ist die Versorgerin, die Kümmerin, aber der Begriff „Gutmensch“ würde ihr nicht gerecht. Man muss Inge nämlich ernst nehmen und ihr Engagement für Leib und Seele der Gruppe als etwas Wichtiges würdigen! Und wenn manche über sie lächeln, dann nicht über ihre herzliche und harmonisierende Ausstrahlung, sondern über die gut gemeinten Gaben, die sie, manchmal prophylaktisch, manchmal spontan reagierend, den konfliktreichen Diskussionen ihrer lieben Kollegen entgegensetzt: Das sind zum einen ihre beruhigenden Wortbeiträge und zum anderen der beruhigende Tee, der, angereichert mit Halbedelsteinen oder irgendwelchen Mineralien, die in der Kanne herumschwimmen, zu rechten Zeit das erhitzte Gemüt abkühlen und Seele und Körper wärmen sollen.

Man merkt vielleicht, ich verstehe nichts davon, deshalb amüsiert es mich im Stillen.

Vielleicht sind es die Diskussionen, warum ich auf militärische Begriffe komme? Nein, dort beim Militär wird vermutlich nicht viel diskutiert.

Also die mütterliche Inge ist eine Psychologin, keine Ärztin. Ist das wichtig? „Psychotherapeuten“ können von ihrer universitären Ausbildung her beides sein. Und in der Tat haben wir auch einen Arzt an Bord, den Max. Aber zu dem komme ich später.

Früher war es wichtig, ob man ein ärztlicher oder psychologischer Psychotherapeut war. Die Psychologen litten unter der Tatsache, stets benachteiligt zu sein, obwohl sie sich als die besser ausgebildeten Psychotherapeuten sahen. Sie waren unterbezahlt, hatten die schlechteren Berufsvertretungen, wurden rechtlich klar benachteiligt und so weiter. Manchmal ist das heute noch so. Aber in unserer Truppe spielt das keine Rolle.

Inge ist also eine Psychologin, aber keine Tiefenpsychologin! Diese Unterscheidung ist wichtig in unserer Gruppe (Gruppe statt Truppe! Na also, es geht doch!)! Durch meinen Beitritt sind die Tiefenpsychologen in der Überzahl! Und das ist gut so! Denn die Verhaltenstherapeuten nehmen immer mehr zu. Ihre Zunahme wird subtil, aber auch offensichtlich gefördert durch verschiedenste Kräfte im Gesundheitssystem. Wie immer liegt das am Geld. Man geht nämlich davon aus, dass Verhaltenstherapie in kürzerer Zeit zu einer Heilung des Patienten beiträgt als die tiefenpsychologischen Verfahren. Das ist natürlich blanker Unsinn! Aber vereinfachtes und kurzfristiges Denken ist schon lange kein Privileg mehr der auf den nächsten Wahltermin fixierten Politiker...

In unserem Team – das klingt doch gleich noch besser! Hab ich etwa an der Teamfähigkeit unserer Truppe gezweifelt? - also, in unserem Team spielt nie die Dauer einer Therapie eine Rolle. Wir kontrastieren hingegen gern die unterschiedlichen therapeutischen Vorgehensweisen, wenn die Fraktion der Verhaltenstherapeuten und die der Tiefenpsychologen kontrovers diskutieren und Inge beginnt, ihren Tee nachzuschenken.

Der andere Verhaltenstherapeut ist Max. Und noch dazu ist er ein Arzt. Aber das macht ja nichts. Dass ich bei meiner Vorstellung des Teams mit den Verhaltenstherapeuten anfange, gereicht mir als Tiefenpsychologen zur Ehre. Wir Psychologen sind in der Regel von unserem eigenen Verfahren überzeugt... Und dabei heißt es, dass erfahrene Psychotherapeuten sich ohnehin kaum mehr in ihrem Vorgehen unterscheiden, egal, welche Ausbildung sie haben. Vielleicht sind wir noch nicht erfahren genug. Immerhin sind wir aber alt genug: Von Ende Dreißig bis Anfang Fünfzig muss man sich uns vorstellen. Genaueres wissen nicht einmal wir selbst voneinander.

Ich war bei Max... Der gibt sich oberflächlicher als er ist. Warum? Vielleicht hängt das mit seinem Männlichkeitsbild zusammen. Jawohl, männlich ist er. Auf jeden Fall männlicher als ich. Er hat es ja auch leichter, bei seinem Aussehen!

Ihm ist es ziemlich wurscht, ob einer ein Arzt oder Psychologe, Verhaltenstherapeut oder Tiefenpsychologe ist. Ach, hab ich erwähnt, dass auch ein Arzt ein „Tiefenpsychologe“ sein kann? Verdammt, diese unsäglichen Begrifflichkeiten! Jetzt dürfte ich wieder von vorne anfangen: Es gibt drei Möglichkeiten, als ärztlicher oder psychologischer Psychotherapeut ins „Kassenärztliche System“ zu kommen, also in einer eigenen Praxis Behandlungen durchführen und mit den Krankenkassen abrechnen zu können: mit einer verhaltenstherapeutischen, mit einer tiefenpsychologischen oder mit einer analytischen Zusatzausbildung (Letztere kann man von der Theorie her mit der tiefenpsychologischen gleichsetzen). Und da in allen drei Bereichen auch die Ärzte ausgebildet sein können, gibt es, vereinfacht ausgedrückt, unter den Ärzten auch Tiefenpsychologen. Um Himmels willen, hoffentlich fragt jetzt keiner nach den Psychiatern! Was die so treiben, mag ich jetzt nicht erzählen. Nur so viel: Psychiater sind Ärzte.

Ich war bei Max stehengeblieben, dem studierten Arzt und Verhaltenstherapeuten. Vom Medizinerberuf hat er keine Ahnung, er weiß offenbar nicht einmal über die Psychopharmaka mehr als wir anderen. Aber mit den verhaltenstherapeutischen Verfahren kennt er sich gut aus. Auch mit dem Computer. Das ist nicht wichtig im Psychotherapeutenberuf? Von wegen! In unseren Treffen, die sich nicht Truppen-, Gruppen- oder Team-Treffen nennen, sondern Intervisionen, spielt das Gerede um die Geheimnisse unserer Computerprogramme eine große Rolle! Und da brauchen wir unseren Max! Auch da ist er ein ganzer Mann, ein rollentypischer! Interessant ist unser Praxisprogramm vor allem als Abrechnungsprogramm. Und bei der Frage, welche Leistungen warum, wann, wie, wie oft, oder warum nicht abgerechnet werden können, ist er Spitze. Vermutlich verdient Max auch deswegen am meisten von uns. Jedenfalls glaubt das ein jeder. Ich denke ja, dass er auch deswegen am meisten verdient, weil er am skrupellosesten jede Verdienst-Möglichkeit ausnutzt. Dem Ehrlichen und Dummen bleibt das gute Gewissen. Aber nein, ein schlechtes Gewissen hat Max sicher auch nicht.

Max ist wirklich auch ein netter Kerl. Wie Inge. Aber nicht so fürsorglich. Dafür aber viel spaßiger.

An der Spitze der Fraktion der Tiefenpsychologen steht Ilona! Ich gestehe ihr ohne Neid diesen Platz zu, weil sie eine Psychoanalytikerin ist. Sie hat am meisten von uns in ihre Ausbildung investiert, nicht nur finanziell. Sie ist auch die Gescheiteste von uns, die Strengste, die mit der reinen Lehre! Max grinst...

Von der ernsten Ilona wissen wir am wenigsten, was das Private anbetrifft. Auch in der Intervision hält sie sich also an die Regel, alles Private fernzuhalten vom Beruflichen. Nun muss ich aber doch schnell einschieben, was eine Intervision ist! Viele kennen den Begriff der Supervision: Dort bespricht man Fälle bei einem Supervisor, der dafür eine extra Ausbildung haben sollte. Es ist also ein hierarchisches Verhältnis, eine Art Lehrer-Schüler-Verhältnis. Bei einer Intervision gibt es diese Hierarchie nicht: Hier werden Fälle mit Kolleginnen und Kollegen besprochen, als eine kollegiale gegenseitige Supervision, um diesen Begriff noch einmal zu gebrauchen.

Wir fünf sind also eine Intervisionsgruppe. Und wir haben tatsächlich ein großes Interesse an der Fallbesprechung. Ob das für alle Intervisionsgruppen gilt? Ich hoffe es. Manchmal hört man, dass es andere und offensichtlich wichtigere Interessen gibt, zum Beispiel die vorgeschriebenen Fortbildungspunkte zu sammeln, was auch im Rahmen von Intervisionen möglich ist.

Wo war ich? Bei Ilona. Unserer Besten. „Einspruch!“, rufen die anderen. Ilona ist doch eine Prinzipienreiterin, denkt sich Max. Meine Patienten sind bei mir besser aufgehoben, sagen sich die anderen. Ich halt mich da raus. Ilona arbeitet zum Teil mit „tiefenpsychologischer Psychotherapie“, aber überwiegend mit sogenannten „Psychoanalysen“, also einer Therapieform, bei der ein Patient zwei bis drei Mal in der Woche zu ihr kommt und sich auf die Couch legt. Wie die Amerikaner halt. Und von den vielen Spielarten der analytischen Behandlung steht Ilona der Freud´schen Psychoanalyse am nächsten. Sie ist also eine Konservative, eine Echte, eine Kernige. Diese Bezeichnungen würden ihr gefallen, der Ilona! Ja, eine Frau ist sie auch.

Die Bezeichnung „Frau“ würden allerdings alle am meisten der Kollegin Alina zuschreiben. Eine Frau! Keine Mutter! Die Mutter ist ja die Inge! Alina ist unser Küken. So würde jedenfalls Max seine von ihm angehimmelte Kollegin bezeichnen. Alina wird von allen geschätzt. Was man über mich leider nicht sagen kann. Aber das nur nebenbei.

Alina ist eine psychologische Psychotherapeutin, die mit tiefenpsychologisch fundierter Therapie ihre Patienten behandelt.

 

Eine Tiefenpsychologin oder Verhaltenstherapeutin sieht ihre Patienten ein Mal in der Woche, so sehen es die Regeln vor, manchmal auch nur ein Mal alle 14 Tage. Inge sieht das nicht so eng: Meist kommen ihre Patienten nur ein Mal im Monat! Alina jedoch regt sich darüber auf: Das sei keine reguläre Psychotherapie, sagt sie! Recht hat sie! Inge hat dafür aber gute Argumente - aber die lasse ich jetzt einmal unter den Tisch fallen.

Die Tiefenpsychologin Alina ist auch eine Strenge! Deshalb versteht sie sich mit der Analytikerin Ilona gut. Und, wenn mich nicht alles täuscht, schätzt sie auch einiges an mir. Wir drei halten halt zusammen! Manchmal glaube ich, dass die Solidarität unter den Geschlechtern in unserer Gruppe nicht so groß ist wie die innerhalb der Fraktionen. In unserer „Gruppe“? Vielleicht habe ich vorher das „G“ bei „Gruppe“ einfach nur mit einem „T“ verwechselt und bin deshalb auf „Truppe“ gekommen? Ilona rollt mit den Augen und schüttelt mit dem Kopf, Alina grinst.

Ein Strenger bin ich eigentlich nicht. Ein Genauer passt besser. Ein Pedant, denkt sich Inge. Ein Zwängler, sagt sich Max. Ein Zwangsneurotiker, drückt es Alina aus. Und Ilona sagt vorsichtshalber gar nichts. Sie glaubt zu wissen, dass bei mir die verdrängten Ängste das Entscheidende sind. Und übrigens: Für einen Narzissten halten mich sicher alle vier. Zwängler und Narzissten erkennt man offenbar schnell.

Aber zurück zur hübschen Alina. Sie hat interessante Fälle! Aber auch sie baut manchmal Mist. Nobody ist perfekt! Mit dem Einsatz ihres „Katathymen Bilderlebens“ ist sie manchmal zu forsch. Sie will die schnelle Aufdeckung des Unbewussten. „Oh weh!“, schreit da Max! Der hält nicht viel davon. Seine Methoden sind ihm lieber. Aber das sagte ich schon.

Von Alina wissen wir am meisten. Beruflich und privat. Sie ist sehr offen. Wir wissen zum Beispiel, dass sie manchmal privat mit Max durch die Gegend wandert. Mit mir wandert niemand. Also, niemand von den Kollegen. Es sei denn, die Wanderung wird in den Rahmen unseres traditionellen „Intervisions-Wochenendes“ eingebaut. Vielleicht sind es sogar zwei im Jahr. Ich war noch nie dabei. Bin sehr gespannt, weil ich so etwas von den anderen Intervisionsgruppen hier in der Gegend noch nicht gehört habe. Aber ich kenne da eh nicht viele. Scheinbar mögen sich die Kolleginnen hier in der Gruppe. Mal schauen, wie es Max geht, wenn jetzt plötzlich noch ein zweiter Mann dabei ist!

Die „Truppe“ ist mir vielleicht deswegen eingefallen, weil das auch eine verschworene Gemeinschaft sein soll. Oder ist es mein unbewusster Wunsch, dass ich hier weiterhin eine gute Aufnahme in eine starke Gemeinschaft haben möchte. Aber wozu denn? Es geht doch nur darum, dass wir gut miteinander arbeiten. Quatsch, Vertrauen gehört auf jeden Fall dazu! Sonst kann man sich ja nicht öffnen. Ich öffne mich sowieso nicht gern.

2. Der neue Patient Horst Baron

Jedes Mal, wenn ein Neuer kommt, bin ich sehr gespannt. Passt mein erster Eindruck am Telefon zu seiner Erscheinung, wenn er zum ersten Mal an der Tür steht? Wir sollten uns schnell sympathisch sein, das wäre schön!

Ich habe aber auch immer irgendwelche Beschwerden, bevor ein Neuer kommt. Meist sind es leichte Bauchschmerzen. Wie durch ein Wunder sind die dann verschwunden, sobald die Therapiestunde beginnt. Oder nehme ich sie dann einfach nicht mehr wahr?

Der Neue wirkt unsicher, lächelt aber freundlich bei der Begrüßung und auch sein Händedruck bewegt sich in einem annehmbaren Rahmen. Er hat noch keine Erfahrung mit ambulanter Psychotherapie, war aber schon in einer Klinik und kommt auf Empfehlung einer Patientin, die bei Max in Behandlung ist. Eigentlich hätte er zur Frau Winner gehen wollen, das ist die Kollegin Alina, aber sie hat ihn wegen ihrer langen Wartezeiten an mich verwiesen. Auf jeden Fall solle er tiefenpsychologisch fundierte Therapie machen, sagte seine Bekannte. Eigentlich ist die Bekannte seine Krankenschwester aus der Klinik, in der er nach einer Entführung untergebracht war. Die Krankenschwester habe sich intensiv um ihn gekümmert, weil er sein Gedächtnis verloren habe.

Der Neue heißt Baron Horst. Er wies mich schon in unserem Telefonat darauf hin, dass er kein Baron sei, sondern einfach nur Baron mit Nachnamen heiße. Warum stellt er dann seinen Nachnamen voran?

Ich nutze seinen Namen als Einstieg ins Gespräch, was ihm zusagt: Über Namen lässt sich leicht reden... Der Baron erzählt mir die unglaubliche Geschichte, dass er wegen seines Namens mit einem Baron verwechselt wurde und deswegen entführt worden sei. Und bei der ganzen Sache schlug er wohl mehrfach mit dem Kopf auf und bekam deswegen seinen Gedächtnisverlust. Aber zum Glück sei schon vieles wieder zurückgekehrt! Aber genau das mache ihm zu schaffen! Er sei nun ein ganz anderer geworden! Eigentlich schon zum zweiten Mal. Seine erste Verwandlung sei nach einem Wohnungsbrand gewesen. Er wisse nun gleich gar nicht mehr, was er eigentlich für ein Mensch sei. Sein Leben sei so widersprüchlich. Es wäre besser gewesen, er hätte sich nie mehr daran erinnert, wie er vor der Entführung gewesen sei!

So schnell kommt er also zur Sache! Aber natürlich ist das, was er erzählt, kein Grund, auf Kosten der Krankenkasse eine Psychotherapie zu machen.

Ich konfrontiere ihn: „Herr Baron, das ist sehr bedauerlich für sie, aber wenn Sie sich schon wieder an das meiste erinnern, dann kommt der Rest wahrscheinlich auch noch. Und dass Sie das durcheinanderbringt, ist keine Krankheit, die man psychotherapeutisch behandeln muss!“

Er stutzt und überlegt, schwankt vielleicht zwischen Erleichterung und Enttäuschung. Ich aber merke: Ich war zu forsch! Bei mir meldet sich der Bauch: Er gluckert und grummelt. Mir ist das peinlich.

Ich lege nach: „Sehen Sie das anders?“

„Nein, nein!“, erwiderte er schnell. Dann überlegt er wieder.

„Oder gibt es noch etwas anderes?“, frage ich ihn.

„Ich dachte...“, stottert er, „ich dachte, ich bin vielleicht schizophren? Oder ich hab so zwei, drei verschiedene Persönlichkeiten. Und außerdem...“ Schon wieder hält er inne und schaut in den Boden.

„Ja?“, sage ich.

„Seitdem stimmt etwas nicht mit mir!“

„Ja?“, wiederhole ich.

Offenbar schämt er sich. Oder das, was er sagen will, ist so wenig glaubhaft, dass er es sich nicht sagen traut. Er schweigt.

Ich mache ihm Mut: „Herr Baron, Sie brauchen sich hier für nichts genieren! In diesem Raum ist schon alles gesagt worden, was es in der menschlichen Seele gibt und vieles, was es nicht gibt!“

„Also..., ich kann es schwer beschreiben“, sagt er zögerlich, „aber mit meinem Geruch stimmt etwas nicht.“

„Wie mit Ihrem Geruch? Mir ist noch nichts aufgefallen.“

„Nein. Ich meine, ich rieche anders als vorher. Also, ich meine, ich rieche die Menschen anders. Viel stärker. Und vor allem, wenn sie reden.“

„Wenn sie reden?“ Jetzt macht er mich neugierig.

„Ist das nicht schizophren? Wenn man alles stärker riecht?“

„Wie kommen Sie denn da drauf?“

„Das hat mir die Malinda gesagt.“

„Die Malinda?“

„Ja, das ist meine Bekannte, die Krankenschwester. Die kennt sich aus. Aber nicht, dass Sie meinen, die hätte gesagt, ich sei schizophren. Sie hat nur gesagt, das mit den Sinnesverstärkungen käme manchmal bei Schizophrenie vor.“

Diese Malinda scheint eine gescheite Person zu sein.

„Ja, Sie haben schon Recht. Manche psychisch Kranke haben in bestimmten Situationen durchaus verstärkte Sinneswahrnehmungen. Das kann sehr belastend sein.“

„Naja, belastend ist es bei mir nicht so sehr. Aber eben ganz komisch.“

„Und das kam nach der Entführung?“

„Ja. Mir war ein Stein auf den Kopf gefallen. Und danach hab ich das bemerkt.“

Jetzt lasse ich mir die Geschichte genauer erzählen. Der Baron war also das erste Mal ohnmächtig, weil er gestolpert und auf einen Felsen aufgeschlagen war und das zweite Mal, als er versucht hatte, aus einer Hütte auszubrechen, in der er gefangen gehalten wurde. Da rollte ihm ein Stein vom Dach der Hütte auf den Schädel. Und seitdem hat er das mit dem Geruch.

Ich erinnere mich nun an seine Bemerkung, dass er vor der Entführungsgeschichte schon einmal ein anderer geworden sei und zwar nach einem Wohnungsbrand.

„Und was war das für ein Brand, nach dem sie schon einmal ein anderer geworden sind?“

„Ach ja. Da hat unser Haus gebrannt. Das war vor zwei Jahren.“ Er hält inne, bevor er anfügt: „Und da sind meine Eltern ums Leben gekommen.“

Ich zucke zusammen, aber er sagt das eher kühl, was mich wundert. Scheinbar ist seine Elternbeziehung auch nicht gerade die beste gewesen. Ich will ihn aber nicht schon wieder konfrontieren und versuche, empathisch zu bleiben.

„Oh, das war schlimm! Ja, das glaube ich, dass man da ein anderer Mensch wird!“

„Nein. Damit hängt das nicht zusammen!“, kommt wie aus der Pistole geschossen.

Und dann erzählt er mir, dass er nur überlebt habe, weil der Hund des Nachbarn so gebellt und ihn aufgeweckt hatte. Und dass er vorher alle Tiere gehasst und danach die Tiere geliebt habe.

Mir kommt diese Verwandlung doch etwas seltsam vor. Besonders die krasse Kehrtwendung. Aber vielleicht drückt er das nur so krass aus.

„Wie hat sich denn Ihr Tierhass gezeigt vorher?“, frage ich nach.

„Ich hab die gejagt.“

Nun, da bin ich verblüfft. „Das machen doch Jäger auch. Und die lieben doch die Tiere. Sagt man jedenfalls immer wieder.“

„Ich hab einen Luchs geschossen!“

Trotz meiner Überraschung reagiere ich schmunzelnd: „Das machen Jäger auch, höre ich.“

Er nickt und wird langsam ärgerlich, weil er glaubt, dass ich ihm etwas ausreden will. Bei mir beginnt indes der Kopf zu brummen.

„Ich hab seit meiner Kindheit immer Tiere umgebracht!“

Das klingt brutal. Aber überzeugt mich. Offenbar ist da viel Aggression im Spiel gewesen.

„Muss wohl eine schwere Kindheit gewesen sein!“, behaupte ich. „Als Kind liebt man doch normalerweise die Tiere.“

Er senkt seinen Kopf und schweigt.

Ich führe das Gespräch weiter: „Und nach dem Brand haben Sie die Tiere geliebt?“

Jetzt denkt er nach. Vielleicht ist ihm die Formulierung doch auch selber zu stark. „Also...“, sagt er, „... danach hab ich zumindest die Menschen gehasst, die den Tieren nachstellen.“

„Ach so. Vorher haben Sie selbst den Tieren nachgestellt und sich und die anderen Menschen nicht gehasst, sondern geliebt, und nachher haben Sie die gehasst, die die lieben Tiere umbringen.“

Ich bleibe absichtlich bei starken Formulierungen, aber alles wird ihm zu kompliziert. Vielleicht denkt er auch, ich sei sarkastisch. So hatte ich das aber nicht gemeint! Auf jeden Fall drücke ich mich wieder einmal zu umständlich aus! Mein Kopfbrummen wird zu einem Pfeifen in den Ohren.

Dann überrascht er mich erneut.

„Ich glaube, das ist nicht wirklich so gewesen. Ich war früher zwar stolz, wenn meine Jagd erfolgreich war. Aber eigentlich ist das mit dem Hass anders. Eigentlich gab es bei mir immer den Hass. Vorher und nachher. Eigentlich hab ich nie die Menschen geliebt. Und auch die Tiere nicht übermäßig.“

So kann einer im ersten Gespräch nur reden, wenn er mit Selbstreflexion Erfahrung hat. Vermutlich haben die in der Klinik gut mit ihm gearbeitet.

„Der Hass ist also wichtiger als die Liebe!“, antworte ich und interpretiere drauflos: „Der Hass hat sich nur verschoben. Anfangs von Menschen auf die Tiere - und später wieder zurück auf die Menschen!“

Das scheint er zu akzeptieren.

Und ich setze noch eins drauf: „So sehr verändert haben Sie sich damals also gar nicht!“

Das beruhigt ihn offenbar. Es könnte ihn auch kränken...

Und ich lege nach: „Vielleicht haben Sie sich nach Ihren Kopfverletzungen auch gar nicht so sehr verändert, wie Sie glauben!“

Das gefällt ihm offenbar weniger.

3. Die Supervisorin mit den kleinen Händen

Außer in der kollegialen Intervision bespreche ich meine Fälle auch noch in einer Einzel-Supervision. Meine Supervisorin ist eine Psychoanalytikerin. Ich besuche sie in der Regel ein Mal im Monat. Die Supervisorin ist etwa 20 Jahre älter als ich und sie flößte mir anfangs mit ihrer athletischen Figur und ihrem festen Händedruck Respekt ein. Ich musste mehrmals genau hinschauen, um zu bemerken, dass dieser Hüne tatsächlich eine Frau ist. Die Brust könnte auch ein Muskelpaket sein, dachte ich, und die Stimme einem Mann gehören, aber ihre kleinen Hände und Füße passten weder zur großen Gestalt, noch zu einem Mann! Ich kam zu dem Ergebnis, dass die Ärmste doch irgendwie etwas missgebildet sei. Mit ihrem Händedruck und ihrem festen Auftreten will sie wohl ihre einzigen Zierlichkeiten auch noch vergessen machen! Sie will wohl ein Mann sein!

 

Inzwischen bemerke ich die Widersprüchlichkeiten aber kaum mehr und mein Respekt gründet sich nun auf das enorme Wissen und das feine Gespür meiner Supervisorin. Wenn mir jetzt die kleinen Hände und Füße auffallen, tendiere ich dazu, an meiner Wahrnehmung zu zweifeln. Mit der stimmt vermutlich etwas nicht.

Wir haben uns schätzen gelernt. Zur Einzelsupervision komme ich immer sehr gut vorbereitet. Allerdings glaube ich öfters ein Lächeln zu erkennen, wenn ich wieder einmal einen Fall auspacke – und das Auspacken meine ich wörtlich, denn ohne meine schriftlichen Unterlagen fühle ich mich nackt. Aber ich bilde mir eben ein, dass sie mich trotzdem mag.

Heute erzähle ich ihr von meinem Neuen, dem Patienten Horst Baron, und gerate in Schwierigkeiten, weil ich normalerweise die Namen meiner Patienten nicht nenne, aber hier einfach nicht umhin kann, diesen Pseudotitel ins Gespräch zu bringen. Doch sie sagt mir, dass sie von dieser Entführung ohnehin gehört habe und auch die Presse nicht die Namensnennung vermeiden konnte, weil sonst die ganze Sache wohl nicht verständlich gewesen wäre. Puh, ich bin entlastet! Es ist aber nicht so, dass ich zu wenig Vertrauen in meine Supervisorin hätte. Die würde nie und nimmer irgendwelche Namen weitergeben. Aber ich will ihr gegenüber korrekt sein, mir nicht die Blöße geben, dass ich die Schweigepflicht verletze. Sie gehört ja auch zu den strengen Analytikerinnen, wie meine Intervisionskollegin Ilona, und ich bin mir nicht sicher, ob sie, wenn ich Namen nenne, nicht innerlich die Nase rümpfen würde – geht denn das innerlich? Unwillkürlich muss ich an den mit der Nase wedelnden Unionspolitiker Kauder denken, aber das nur nebenbei. Und ein Naserümpfen meiner Supervisorin wäre mir ganz und gar nicht wurscht. Da würde mein Intervisionskollege Max nun wieder grinsen und mir sagen, ihm gehe so etwas am Arsch vorbei.

Also, ich erzähle ihr vom Baron und betone dabei besonders seine Identitätsprobleme. Aber sie bleibt an der Geschichte mit dem Geruch hängen! Ich solle da doch einmal in die Überlegungen mit einbeziehen, dass es sich hier bei der gleichzeitigen Aktivierung von zwei Sinnen um eine Synästhesie handeln könne und die sei anerkanntermaßen keine Krankheit. Normalerweise sei die angeboren, trete aber meist bei Frauen auf. Und normalerweise beträfe das die Verbindung zwischen Tönen und Farben, wie bei der bekannten Pianistin Grimaud, aber auch die Kopplung anderer Sinne sei doch möglich. Und im Übrigen habe sie schon davon gehört, dass durch Unfälle, die das Gehirn betreffen, solche Erscheinungen ausgelöst werden könnten.

Ich vermute, dass sich meine Supervisorin kürzlich mit diesem Phänomen beschäftigt hat – oder sie ist ein Klassik-Fan und hat sich mit der Pianistin Grimaud befasst.

Ja, dann ist doch dieser Mann noch weniger ein Fall für die Psychotherapie, behaupte ich. Innerlich hatte ich mich aber schon längst entschieden habe, diesen interessanten Patienten in Behandlung zu nehmen - eine geeignete Diagnose für die Krankenkasse würde mir schon einfallen. Ich will aber noch den Segen meiner Supervisorin.

Nun ja, meint sie, der Verlust der Eltern, das Trauma der Entführung und die Geschichte mit dem Luchs, die ja sicher rechtliche Folgen gehabt habe, seien wohl genug aktuelle Anlässe, die den Patienten labilisiert und seine Aggressions-, Selbstwert- und Selbstbild-Problematik an die Oberfläche gespült hätten. Ganz zu schweigen von den amnestischen Störungen.

Dann konfrontiert sie mich: „Warum wollen Sie ihm das Kranksein ausreden?“

Das sind die Momente, in denen ich mir in den Arsch beißen könnte. Ich habe mich verrannt, habe provokativ eine Meinung vertreten, die ich eigentlich gar nicht habe. Natürlich sehe ich die Störungen auch alle – und jetzt soll ich mich rechtfertigen für etwas, was ich gar nicht meine. Wie kriege ich wieder die Kurve? Ich kriege sie nicht.

„Ja, aber welche Erkrankungen sollen das denn sein? Wir müssen doch handfeste Diagnosen angeben, wenn wir Psychotherapie beantragen!“

„Aber Herr Weber...“ - Oh je, jetzt wird es ernst! Sie redet mich mit meinem Namen an! - Sagte ich schon, dass ich Jonas Weber heiße? - „... Sie können da doch im ICD nachschauen und sich einige Diagnosen heraussuchen, die auf den Patienten zutreffen!“

Diese von der Weltgesundheitsorganisation WHO herausgegebenen Klassifikationskriterien bilden die Grundlage unserer offiziellen Diagnosen im Gesundheitssystem. Und natürlich kann ich dort nachschauen! Warum muss sie mir das so scharf sagen? Ich sollte das Thema wechseln:

„Was sagen Sie denn zu der Identitätsproblematik?“

Sie lässt sich zum Glück darauf ein. Vermutlich war es auch ihr peinlich, mich so in die Ecke zu drängen.

„Ich hab vorhin schon gedacht, dass der Patient offenbar eine Orientierung braucht. Sein Wertesystem im Überich ist so ungefestigt. Zuerst war es wohl eine Orientierung an den Werten seines Vaters und dann, nach dessen Tod, an dazu konträren Werten, hinter denen aber keine engen Beziehungen zu diesen anderen Wertträgern stehen, also zum Beispiel zu anderen Naturschützern. Die neuen Werte bleiben also ohne feste Grundlage.“

„Aber diese plötzliche Veränderung...“

„Ja, das Plötzliche ist erstaunlich. Vielleicht hängt das mit einem Schuldgefühl zusammen?“

„Mit einem Schuldgefühl?“

„Nun, er hat überlebt, aber seine Eltern sind beim Brand gestorben. Oder noch krasser: Er hätte seine Eltern womöglich retten können. Oder noch eine Stufe extremer: Er war sogar schuld am Brand!“

„Wenn man es noch weiter zuspitzen will, heißt das: Er hat seine Eltern willentlich oder zumindest unbewusst gewollt umgebracht!“, ergänze ich. Ich hatte eh schon solche Fantasien.

„Aber wieso sollte das dazu führen, dass er plötzlich zum Tierschützer wird?“, frage ich zweifelnd nach.

„Ich hab das so verstanden, dass ihm der Schutz der Tiere nicht so wichtig ist, wie sein Hass auf die Tierfrevler.“

Ich nicke zustimmend.

„Vielleicht verschiebt er seine Mordabsichten auf die Tierfrevler und bekämpft sie auf diese Weise. Also eigentlich macht er eine Art Reaktionsbildung, also, das, was er fühlt, will er nicht bei sich wahrhaben, verschiebt es auf andere und bekämpft es dort.“

Die Psychoanalytiker können sich doch alles so zurecht-biegen, wie sie es brauchen, denke ich mir.

„Dann wäre es kein Wunder, wenn ihn das alles durcheinanderbringt“, sage ich zustimmend. „Aber da würde die Therapie sehr schmerzhaft für ihn werden, wenn sie all diese Dinge aufdeckt.“

„Haben Sie denn gehört, dass eine Therapie ein Labsal sein soll?“

Ich schmunzele und denke an Max und Inge, die beide so oft betonen, wie leicht und locker ihre Therapien funktionieren, nur die Patienten stärkend und nie schmerzend. Gleichzeitig verachte und beneide ich diese therapeutischen Vorgehensweisen. Die machen es sich leicht! Was Max übrigens nie leugnet. Er sei doch nur der stärkende Begleiter seiner Patienten. Und warum soll er denen und vor allem sich selbst das Herz noch schwerer machen?

„Also, wenn´s blöd kommt, dann kriegt er statt einer Erleichterung durch unsere Gespräche, einen zusätzlichen Leidensdruck, weil er merkt, dass er immer derselbe Arsch geblieben ist!“

„Also, Herr Weber, Sie drücken sich wieder aus!“, erwidert meine Supervisorin lächelnd und droht mir spaßeshalber mit dem Zeigefinger ihren winzigen Hand. Inzwischen kennt sie mich und weiß, dass ich manchmal zu drastischen Worten greife. „Aber, Sie haben Recht. Manchmal muss man Gebäude einreißen, um sie auf festen Fundamenten wieder aufzubauen.“