An der Wolga will ich bleiben

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Bitteres Brot und Hanswurstiaden
1

Draußen in der Steppe ging es mit der neu gegründeten Siedlung Bachhausen nur schleppend voran. Arm wie eine Kirchenmaus hatten die meisten Einwanderer ihre Heimat verlassen, und arm waren sie seitdem geblieben. Bei den meisten bestand die ganze Habe aus ein paar Kleidungsstücken, die aber nicht warme Pelze ersetzten und gegen den strengen Winter schützen konnten. Nur einige wenige hatten ihren Spargroschen mitgebracht. Schon bei St. Petersburg waren ihnen die staatlichen Tagegelder beschnitten und dann nochmals nach der Ankunft am Siedlungsort gekürzt worden. Manchmal wurde die Zahlung auch ganz eingestellt und durch Mehl ersetzt. Blieb es gelegentlich aus, mussten sie von ihrer letzten Habe Brot bei einem Russen kaufen. Das Roggenmehl reichte nicht aus, war außerdem manchmal hart wie ein Klotz, von Schimmelpilzen durchsetzt und nur mit dem Hammer klein zu schlagen. Was Menschen essen sollten, fraß nicht mal das Vieh. Beschwerden an die Kolonialbehörde in Saratow führten schließlich dazu, dass in vier Wolgastädten sogenannte „Kronsmagazine“ eröffnet wurden, wo die Ansiedler Mehl zum gleichen Preis kaufen konnten, den die Krone dafür gezahlt hatte.

Nicht besser war es um die Fütterung des Viehs bestellt. So erlitt der Tierbestand nicht nur durch Seuchen starke Verluste, sondern auch durch den Mangel an Futter. Wegen der Dürre in manchen Sommern konnte selbst für die wenigen Rinder, Ziegen und Schafe nicht einmal Heu gemacht werden.

Nicht nur Bachhausen, auch die vielen anderen Wolgakolonien wurden immer wieder von todbringenden Krankheiten heimgesucht, so vom „hitzigen Fieber“, wie die Dorfbewohner die typhusähnliche Krankheit nannten, der ganze Familien zum Opfer fielen. Überhaupt stand es trotz der Millionenbeträge um das Siedlungswerk der Zarin nicht gut. Es mangelte vor allem an Zugvieh und Arbeitsgeräten. Meist reichte auch das Saatgut nicht aus, oder es traf verspätet ein, wenn der Boden schon ausgetrocknet war und kein Samen mehr keimte. Zur unzureichenden Ausrüstung kam das ungewohnte Klima hinzu mit strengen Wintern, heißen Sommern und starker Trockenheit. Das alles mussten die Einwanderer erst einmal kennenlernen, um die Landwirtschaft erfolgreich betreiben zu können.

Doch nicht nur für die Siedler galt es zu lernen, sondern auch für ihre Verwaltung im fernen Sankt Petersburg wie vor Ort in Saratow, einer Gemeinde mit damals etwa zehntausend Einwohnern. Die Wolgastadt war Grenzgarnison und zur Verteidigung gegen die Nomaden noch mit Wällen und Gräben umgeben. Mit der Ankunft der Kolonisten wurde Saratow zur Hauptstadt des deutschen Siedlungsgebietes, wo Katharina die Zweite zur Verwaltung das „Kontor der Vormundschaftskanzlei für die Ausländer“ einrichten ließ, das der „Tutelkanzlei“ in Petersburg unterstand.

Wie sich bald herausstellte, waren die von der Regierung gelieferten schwachen Pferde und die Geräte für die Kultivierung der Steppe ungeeignet. Gelang es den Kolonisten, die Saat rechtzeitig zu bestellen, und wuchs das Getreide heran, so wurde es nicht selten von Viehherden der Nomaden zerstört. Als hinderlich erwies sich ferner, dass die Kolonisten nach militärischen Dienstvorschriften von abgedankten russischen Offizieren verwaltet wurden, die selbst nichts von Landwirtschaft verstanden, dafür desto mehr von der Wirtschaft in die eigene Tasche. Sie hatten in den Kolonien leichtes Spiel, dreißig bis fünfzig Familien unter ihr strenges Regiment zu beugen und wie Soldaten an Gehorsam zu gewöhnen. Wer nicht nach der Pfeife tanzte, wurde zur Arbeit unter Aufsicht zwangsverpflichtet oder kam gar ins Zuchthaus.

Diese Missstände trugen dazu bei, dass es den Kolonisten nicht gelang, sich in den ersten zehn Jahren selbst zu ernähren. Die Schulden wuchsen ihnen über den Kopf. Das Brot der Regierung, auf das sie angewiesen waren, erwies sich als „bitteres“ Brot, das sie keineswegs geschenkt bekamen. Im Winter ließ der Staat öffentliche Arbeiten ausführen, zum Beispiel Schanzen anlegen, Frondienste, die bei strenger Kälte verrichtet werden mussten.

In Bachhausen hatten die Einwanderer nur ein Jahr lang in menschenunwürdigen Erdhütten hausen müssen, bis sie endlich in die von der Krone versprochenen Blockhütten, den sogenannten Kronshäusern, einziehen konnten. Andernorts mussten oft drei bis vier Familien mehrere Jahre in solchen Erdlöchern ausharren. Als seien sie vom Schicksal noch nicht genug geschlagen worden, folgte nun auch Missernte auf Missernte, so dass die Kolonisten nicht einmal den Samen für das nächste Jahr ernteten. Ohne staatliche Unterstützung wäre das Siedlungswerk schon in den Anfangsjahren gescheitert.

Nicht weniger ernst war die Bedrohung durch die nomadisierenden Nachbarn. Als harmlos galten noch die Kalmücken, die sich mit dem Diebstahl des Viehs begnügten. Schlimmer trieben es die Kirgisen und Baschkiren, die ganze Dörfer zerstörten, die Einwohner töteten oder verschleppten und als Sklaven verkauften. Unter diesen Nomaden hatten die Siedlungen östlich der Wolga, auf der sogenannten Wiesenseite, am schwersten zu leiden. Die Bewohner der gegenüberliegenden Bergseite wurden immer wieder von Räuberbanden heimgesucht, die plötzlich die Kolonisten auf Straßen und Feldern überfielen.

Obwohl die Zarin in ihrem Manifest den Kolonisten die Rückkehr in ihre Heimat gestattete, hielt man sich nicht mehr daran, nachdem sie erst einmal im Lande waren. Trotz aller Verbote machten sich dennoch in den ersten Jahren verschiedene Gruppen von Rückwanderern auf den Heimweg. Sie wurden jedoch von Kosaken eingeholt und gewaltsam zurückgetrieben. Immer wieder gab es neue Fluchtversuche, denn die Kolonisten hatten nur den einen Wunsch: weg aus dieser Wildnis - zurück in die alte Heimat!

Auch in Bachhausen spukte der Gedanke in den Köpfen der meisten. Die stete Bereitschaft zum Aufbruch wurde noch durch ein Gerücht bestärkt, wonach ein deutsch sprechender Beamter nach dem Besuch einiger Ansiedlungen auf der Bergseite den Kolonisten versichert habe, es sei durchaus denkbar, sie wieder in ihre alte Heimat zurückzubringen, weil man glaube, sie könnten das Klima nicht vertragen und würden hier alle zugrunde gehen. In Sankt Petersburg habe man die Nachricht erhalten, in Deutschland werde Geld gesammelt, um ihre Heimkehr zu ermöglichen.

Ob dieses Gerücht Hand und Fuß hatte oder aus der Luft gegriffen war, wusste niemand. Überall rief es unter den Kolonisten eine starke Erregung hervor. Auch in Bachhausen war es das Thema, und man fieberte dem Tag entgegen, Näheres darüber zu erfahren. Manche wollte so lange nicht warten. Sie sagten sich, wenn die Regierung schon solche Pläne hege, dann würde man sie vermutlich ungehindert ziehen lassen, sofern sie auf eigene Faust in die Heimat zurückkehrten.

So dachten auch einige Einwanderer in der Kolonie Katharinenstadt, wo mehrere Familienväter mit ihren Frauen und Kindern, insgesamt achtzehn Personen, mitten im Winter einen heimlichen Fluchtversuch unternahmen. Sie besaßen noch genügend Mittel, um eine so weite Reise durchzustehen. Russische Fuhrleute aus Beresnik sollten sie bis zur polnischen Grenze bringen, von wo aus sie sich weiter durchschlagen wollten. Die Russen steckten zwar den Lohn ein, dachten aber nicht daran, die Flüchtlinge zum verabredeten Ziel zu fahren. Sie brachten die Kolonisten nur auf die Insel gegenüber Beresnik, mitten im Strom, schlugen alle tot und raubten sie aus. Erst Jahre später wurde das Verbrechen entdeckt und die Insel seit jener Zeit Mordinsel genannt.

Als das Frühjahr anbrach, glaubten an die zwanzig Deutsche aus Bachhausen, es nicht mehr länger in der Steppensiedlung aushalten zu können. Zwei Tage nur blieben sie unterwegs. Schon am ersten Abend war es, da sie keine Landkarte besaßen, zu Streitigkeiten über den richtigen Weg gekommen, der eine deutete nach Westen, der andere nach Osten, und da die Furcht vor den Gefahren, die nach ihren Vorstellungen überall auf sie lauerten, von Stunde zu Stunde wuchs, kehrten sie schließlich wieder nach Bachhausen zurück.

Dort wie andernorts hielten sie weiterhin an dem Irrglauben fest, die Regierung werde demnächst die Gründung von Kolonien an der Wolga wieder aufgeben und alle Einwanderer in die alte Heimat zurückbringen. Unter dieser jahrelangen Aufbruchsstimmung litt der Aufbau der Dörfer. Sie warteten vergebens.

2

Georgs Annahme, von seinem Lohn und den Tagegeldern mit der Zeit so viel auf die hohe Kante zu legen, um den Vorschuss zurückzahlen zu können, erwies sich schon bald als trügerisch. Denn mit Vorsprechers Fabrik ging es steil bergab, nachdem der Staatskredit verbraucht war. Da es an Aufträgen fehlte, gab es nicht genug Arbeit und darum auch weniger Lohn. Bald war Georg noch als Einziger im Betrieb übriggeblieben, doch da er aus Mangel an Beschäftigung größtenteils feiern musste, sank sein Verdienst ständig. Nur mit den Tagegeldern konnte er seinen Lohnausfall ersetzen. Als ihm diese eines Tages gestrichen wurden, sah er sich gezwungen, den Rest seines Vorschusses anzugreifen. Schließlich kam der Tag, an dem er die letzten Kopeken in die Tasche steckte. Dennoch war er zuversichtlich, später wieder genug verdienen und den Vorschuss voll zurückzahlen zu können, da ihm Vorsprecher wiederholt Hoffnungen machte:

„Haben Sie noch etwas Geduld. In Kürze erwarte ich von Freunden einen größeren Betrag, mit dem ich den Betrieb wieder in Schwung bringe. Dann werde ich Sie auch für Ihre Treue zu meinem Teilhaber machen. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort!“

Der Unbekümmertheit seiner Jugend war es zuzuschreiben, dass er sich von diesem Bankrotteur einwickeln ließ. Um jetzt schon seine Dankbarkeit zu zeigen, demnächst Teilhaber eines Fabrikanten zu sein, ließ sich Georg zu manchen Arbeiten herab, zu denen er sich unter normalen Verhältnissen nicht hergegeben hätte. So half er überall aus, holte und spaltete Holz für Herd und Ofen und ging seiner Meisterin, so brummig sie auch war, im Haushalt zur Hand. War in der Küche Ebbe, nahm er sich einen Pack Tücher und Schärpen unter den Arm und klopfte an jeder Tür an. Da er fließend Russisch sprach, gelang es ihm, hin und wieder eine Kundin zu beschwatzen. Brachte er etwas Geld nach Hause, empfing ihn Frau Vorsprecher höchst freundlich und nannte ihn die Stütze des Hauses. Hatte er dagegen nichts verkauft, so konnte sie sich die Bemerkung nicht verkneifen:

 

„Eigentlich sind Sie hier überflüssig, ein Esser mehr, sonst nichts. Wir könnten mit allem allein fertig werden, wenn mein Mann nicht dauernd den russischen Weibern nachliefe.“

Trotz solcher Vorwürfe ging er weiter hausieren, und wurden ihm zehn Türen vor der Nase zugeschlagen, versuchte er sein Glück an der elften unverdrossen weiter. Was Georg auch anpackte, es reichte vorn und hinten nicht. Der Lohn für seine Gelegenheitsarbeiten in Vorsprechers Betrieb tröpfelte immer spärlicher und bestand schließlich nur noch aus leeren Worten über eine rosigere Zukunft, die täglich weiter im Nebel entrückte. Hatte er eine Fuhre Holz geholt, sich im Haushalt nützlich gemacht oder beim Hausieren Glück gehabt, lud ihn zwar Frau Vorsprecher zu einigen Mahlzeiten ein; aber um auch an den übrigen Tagen etwas zum Essen zu haben, musste er sich nach anderen Erwerbsquellen umsehen.

Da er Geige spielen konnte, kam er mit zwei anderen Deutschen ins Gespräch, die früher einmal in den Dörfern am Main bei Hochzeiten und Taufen, auf Jahrmärkten und Kirmessen aufgespielt und ihre Instrumente mitgebracht hatten. Da sie sich in derselben Notlage befanden, kamen sie überein, als Trio durch die Wirtschaften zu ziehen. Die Fiedel, die sich Georg bei ihnen auslieh, war zwar keine Stradivari, aber so mancher Misston ging in den Melodien der zweiten Violine und der Bassgeige seiner Mitspieler unter. Was in ihrer Heimat Anklang gefunden hatte, kam leider bei den Russen nicht an, die lieber zur Balalaika tanzten als zu dieser ungewohnten Musik.

Eines Abends, als Georg in einem Wirtshaus einen Teller Borschtsch löffelte, sprach ihn ein Italiener an, dem er dort gelegentlich begegnet war. Es hatte ihn gleichfalls nach Saratow verschlagen, und da auch sein Beutel leer war, kam er auf den Einfall, den Winter über einige Possen und Schwänke aufzuführen.

„Ich habe mich eine Zeitlang auf deutschen Bühnen herumgetrieben“, erzählte er, „weiß also, wie man Theater spielt. Was mir noch fehlt, sind ein paar Schauspieler. Wie wär’s mit Ihnen?“

„Dazu habe ich kein Talent.“

„Haben Sie es denn schon mal versucht?“

„Nein.“

„Wieso wollen Sie es dann wissen?“

Georg zuckte mit den Schultern. „Ob das Ganze überhaupt durchführbar ist, es fehlt doch an allem.“

„Eben nicht, wir haben hier ein Publikum, das leicht zufrieden zu stellen ist.“

„Aber wo wollen Sie Theater spielen, wenn es kein Theater gibt?“

„Einen geeigneten Saal habe ich längst gefunden, und zwar auf dem Speicher des Hauses, in dem ich wohne. Wir brauchen nur eine Bühne zusammenzuzimmern - und schon kann’s losgehen.“

„Fehlen also nur noch die Schauspieler.“

„Nicht alle. Ich zum Beispiel spiele die Heldenrollen, dazu bin ich geradezu geboren.“

„Ich denke, Sie wollen Possen und Schwänke geben?“

„Ja, und den zugkräftigsten Possenreißer habe ich schon unter Vertrag. In Saratow kann man auf den Hanswurst noch weniger verzichten als auf deutschen Bühnen. Er muss sogar noch derbere Späße treiben, um das Zwerchfell der hiesigen Zuschauer zu erschüttern.“

„Und wer soll das sein?“

„Stengel, ein Deutscher.“

„Johann Stengel aus Zeitz“, fiel Georg lebhaft ein, „ich kenne ihn, ein umwerfender Spaßvogel. Er ist schon seit vierundsechzig in Saratow. Seitdem reißt er in den Kabachen seine Possen und zeigt auch einige Kunststückchen als Taschenspieler, wie ich mich selbst überzeugt habe. Mit den Kopeken und Naturalien, die er dabei kassiert, kommt er gut über die Runden.“

„Aber noch besser, wenn er bei mir als Hanswurst auftritt, das war ihm sofort klar, als ich ihm meinen Plan darlegte. Mit diesem Fisch an der Angel kann nichts schiefgehen. Wo er auch auftritt, hat er die Leute sofort fest im Griff. Jahrelang ist er mit einem Jahrmarktsdoktor als lustiger Rat und Narr umhergezogen, bis ihn das Schicksal nach Saratow verschlagen hat. Wenn einer das Zeug für die Hauptrolle des Harlekins hat, dann Stengel.“

Georg lachte. „Da gebe ich Ihnen Recht. Keinem ist das bunte Jäckchen so auf den Leib geschnitten wie ihm.“

Sie saßen noch eine Weile beisammen, bis der Italiener schließlich auch Georg für sein Theater geködert hatte mit der verlockenden Aussicht, dabei mit wenig Mühe viel Geld zu verdienen.

In Kürze gewann der Theaterdirektor aus eigenen Gnaden noch einige andere Deutsche für die Bretter, die die Welt bedeuten, allerdings nur Männer, wie er beklagte, bis auf eine einzige weibliche Darstellerin, deren Verpflichtung für die edle Kunst ihn ein gutes Stück Arbeit gekostet hatte. Die gebürtige Hamburgerin war nämlich als Haushälterin bei einem unverheirateten Lebemann beschäftigt, der einen Schwall von Einwänden gegen den Drang der jungen Dame zu Höherem vorbrachte, vor allem wohl weil er wollte, dass sie die Rolle einer Liebhaberin nur in seinen eigenen vier Wänden spielen sollte. Der Schönen aber lag viel daran, das Angebot des Italieners anzunehmen, der es verstanden hatte, im Voraus ihrer Eitelkeit mit dem zu erwartenden Beifall zu schmeicheln, mit dem das Publikum sie überschütten werde. Unter Einsatz all ihrer weiblichen Waffen, von denen sie ein ganzes Arsenal besaß, gelang es ihr schließlich, ihren Herrn und Gebieter zu überreden, ihrer Karriere freien Lauf zu lassen.

3

Um genügend Zuschauer auf die Beine zu bringen, musste die Bevölkerung erst mal mit der Nase auf das unerhörte Ereignis gestoßen werden, was Georg übernahm, da er von der ganzen Mimensippschaft am besten Russisch sprach. Denn in Analphabetistan, wo sich die Schriftgelehrten an den Fingern einer Hand abzählen ließen, mussten Anschlagzettel durch Ausrufe ersetzt werden. Um mehr Aufsehen zu erregen und gleich auf Anhieb die Neugier zu wecken, wurde er von Stengel begleitet, der als Hanswurst kostümiert tagelang mit ihm durch die Straßen zog, mehrere Male die Kabachen der Reihe nach abklapperte und sogar einen Abstecher nach der gegenüberliegenden Kosakenstadt machte. Schon der bloße Anblick des buntgefleckten Harlekins fesselte die Aufmerksamkeit der Menge; doch er wusste ihre Wissbegier noch stärker zu spannen durch seine Possen und die so viel verheißende Fummelei an seinem gewaltigen Hosenknopf, aus dem er öfter eine Prise Tabak anbot, vor allem Frauen, die gebannt sein Herumfingern mit Stielaugen verfolgten. Spätestens dann kamen die ersten Zurufe, was das denn alles vorstelle, worauf Georg wie ein Marktschreier seinen Spruch vom Band ließ:

„Das ist nur ein kleiner Vorgeschmack all der Genüsse und Lustbarkeiten, die wir euch in unserem Theater darbieten. Ihr werdet dort Wunderdinge erleben, Herrlichkeit über Herrlichkeit schauen und die leibhaftige Verführung in Person mit euren eigenen Augen berühren dürfen, dass euch Hören und Sehen vergeht.“

Nach diesen Anfangsworten erzählte er ihnen, welches Stück sie aufführen würden, und warf ihnen geschickt ein paar Brocken der Handlung als Köder hin, jedoch bloß so viel als ihm nötig schien, die Neugier der Gaffer zu reizen, ohne sie zu befriedigen. Die Einführung in das erhabene Werk der Dichtkunst war auch deshalb angebracht, weil nur verschwindend wenige der erhofften Zuschauer die Sprache verstanden, in der es gespielt wurde.

Der Werbefeldzug führte zum gewünschten Erfolg. Auf allen Straßen sprach man erwartungsvoll von der kommenden Aufführung und war so vollgestopft mit Neugier, sie zu sehen, dass sich der Theaterdirektor ein volles Haus versprach und mit einer Geschwindigkeit, wie man sie bis dahin in Saratow noch nicht erlebt hatte, den Dachboden seines Hauses zum Festspielhaus ummodeln ließ. Flugs verdoppelte er die Eintrittspreise auf zehn, zwanzig und sogar fünfzig Kopeken, für einheimische Verhältnisse gesalzen und gepfeffert, was aber dem Zustrom der Menschenmenge keinen Abbruch tat. Der Andrang war sogar so groß, dass viele keinen Platz mehr fanden und mit der Versicherung vertröstet wurden, in wenigen Tagen werde das Spektakel des Jahres wiederholt.

Um das Publikum, das, von wenigen Deutschen abgesehen, die sich wie Erbsen im Ozean verloren, zur Hälfte aus Russen und zur anderen Hälfte aus Kosaken, Kalmücken und Tataren bestand, zwischen den Aufzügen zu unterhalten, hatte die Direktion eine Art Orchester verpflichtet, eine Violine, einen Bass und ein Klavier, das Maas für den guten Zweck auslieh und auch eigenhändig nach allen Regeln der Kunst bearbeitete.

Das Stück, mit dem die Diener Thalias und Melpomenes debütierten, war eine Haupt- und Staatsaktion, in der sich zwei spanische Prinzen wegen einer Liebschaft in den Haaren lagen und die mit Mord und Totschlag endete. Der ältere der beiden Brüder, Don Pedro, wurde vom Direktor höchstpersönlich verkörpert, der jüngere, Don Alfonso, von dem Handwerksburschen Georg. Ihrer gemeinsamen Geliebten verlieh die mit Reizen gesegnete Hamburger Exhaushälterin verführerisch Gestalt. Diese drei sowie der Handwurst nebst einigen Statisten bildeten das gesamte Ensemble.

Als der Vorhang aufging, stelzte Don Pedro mit stocksteifen Schritten auf der Bühne umher, wobei er sich seine Liebespein von der Seele jammerte und tief zu Herzen gehend über die Grausamkeit Doña Marias, seiner Geliebten, klagte, bis endlich der Harlekin erschien und mit seinen Späßen Don Pedro die Trübsal aus dem Busen blies. Herr und Diener trieben nun eine Zeitlang arge Possen, die vom Publikum schallend belacht wurden, was wiederum die Schauspieler nötigte, immer gellender zu schreien, nicht zuletzt deswegen, weil die Zuschauermenge, von den Lachsalven einmal abgesehen, auch nicht gerade mucksmäuschenstill dasaß. Denn alle, die der Sprache nicht mächtig waren, die da von den Brettern herab an ihr Ohr drang, bestürmten die wenigen, die Deutsch verstanden, ihnen Wort für Wort zu übersetzen, was von den Lippen der begnadeten Schauspieler über die Rampe kam, wodurch ein betäubendes Getöse entfacht wurde, da die Redeschlachten gleichzeitig an mehreren Fronten entbrannten.

Am Schluss des Aktes verwandelte sich Don Pedro wieder in einen ernsthaften Menschen, als er von Harlekin, seinem Kundschafter und Merkur, erfuhr, Doña Maria quäle ihn nur deshalb so herzlos, geradezu wollüstig, weil sie im Geheimen seinen Bruder mit ihrer Gunst beglücke. Mit grässlichen Gebärden und Grimassen tobte Don Pedro nach diesem Tiefschlag auf der Bühne herum und schwor, jeder Zoll ein Mann, seinem Nebenbuhler blutige Rache, zu dessen Ausführung er wild entschlossen davonstürzte.

Der Vorhang fiel, und die Zuschauer, meist Männer und Liebhaber schöner Frauen und darum sachkundig durch und durch für solche männlichen Schicksalsschläge, riefen „bravo!“ und „schön!“ und bedankten sich mit tosendem Beifall.

Im zweiten Akt kam es dann, wie es kommen musste. Das Drama nahm seinen Lauf in einem Garten mit einem Baum im Hintergrund, an dem Harlekins Leben enden sollte. Doch zuvor prangerte Doña Maria die Zudringlichkeit des verhassten Don Pedro an und hauchte singend ihre wärmsten Empfindungen für ihren heiß geliebten Alfonso ins Parkett, wozu sie Gitarrengeklimper begleitete, das in diesem Notfall einer Violine entlockt wurde. Verzückt von ihrem Gesang tänzelte Don Pedro herbei, doch ehe sich der Unhold ihr zu Füßen werfen konnte, schwebte sie wütend davon und räumte ihren Platz für Don Alfonso, der sich im Handumdrehen mit seinem Bruder in ein Gefecht verwickelte, zuerst mit Worten, dann mit dem Degen, eine Auseinandersetzung auf Leben und Tod, die auch der herbeieilende Harlekin nicht mehr schlichten konnte. Denn urplötzlich durchbohrte der blanke Stahl Prinz Alfonsos jugendliche Brust, eine Wunde, die selbst den hart,gesottensten Kosaken zur Strecke gebracht hätte. Um seinen Tod glaubwürdiger zu machen, hatte sich Georg eine blutgefüllte Schweinsblase unter die Weste gesteckt, die er in dem Augenblick, als er dahinsank, mit einer Nadel durchstach. Das hervorquellende Blut verursachte beim Publikum eine durchschlagende Wirkung, und mancher Tatar und Kalmücke hielt den Prinzen tatsächlich für tot, sogar für mausetot, wie Harlekin es ausdrückte.

 

Nach dieser Schandtat suchte der Bösewicht das Weite und Harlekin den gemeuchelten Prinzen wieder zum Leben zu erwecken, was aber vergebens blieb, weswegen er sich selbst die Schuld an dessen Ermordung in die Schuhe schob, weil er so unvorsichtig Alfonsos Techtelmechtel ausgeplappert hatte. Von Gewissensbissen gepeinigt, holte er einen Stuhl herbei, warf einen Strick über den untersten Ast des Baumes und wollte sich gerade mit gotterbarmender Armesündermiene erhängen, als mit dem umfallenden Stuhl auch der Vorhang fiel und Maas auf den Tasten seines Klaviers die Arie Wie sie so sanft ruhn hämmerte, die Doña Maria mit hamburgischem Zungenschlag hinter den Kulissen gesanglich begleitete.

Normalerweise wäre damit das Drama zu Ende gewesen - nicht so dagegen in Saratow, wo Russen und Kosaken, Kalmücken und Tataren ihrer Unzufriedenheit über den Ausgang lautstark Luft machten. Wenn sie ein solches Unheil vorausgeahnt hätten, wären sie schon nach dem ersten Akt gegangen, meinten sie, da sie nicht gekommen seien, sich traurig stimmen, sondern sich durch Späße unterhalten zu lassen, kurz und gut um zu lachen. Nicht nur der Tod des edlen Prinzen bedrückte sie, auch die Klagemelodie und Doña Marias Grabgesang hatten dazu beigetragen, ihr Gemüt zu trüben.

Besorgt darüber, künftig vor leerem Haus spielen zu müssen, entschloss sich deshalb der Direktor Knall und Fall noch einen weiteren Aufzug aus dem Boden zu stampfen. Harlekin trat an die Rampe und versicherte, er habe mit dem Erhängen nur gespaßt, und auch Alfonso alias Georg musste wieder auf die Bühne eilen und den Zuschauern durch seine leibhaftige Erscheinung beweisen, dass er nicht ganz und gar gestorben sei. Um die verscherzte Gunst des Publikums wiederzugewinnen, trieb Don Pedro mit dem Hanswurst allerlei Jux und Schabernack, erstarrte dann aber plötzlich zur Salzsäule, als sein totgemordeter Bruder Alfonso unverhofft in ein weißes Tuch gehüllt als Geist erschien und dem Mordbuben mit der Faust drohte. Unfähig, sich von der Stelle zu rühren, schickte er den bibbernden Harlekin vor, das Begehr des Geistes zu erkunden, wozu sich der Ärmste erst dann unter Zittern und Zagen ermannte, als sein Herr mit dem gezückten Degen nachhalf. Kaum war er in den Bannkreis des Geistes eingedrungen, als dieser den Hanswurst an der Schulter packte und sich mit Satansgeheul auf seinen Rücken schwang. Schreiend, als werde er am Spieß gebraten, und unter vergeblichen Versuchen, die gespenstische Last abzuschütteln, galoppierte Johann Stengel aus Zeitz bei Merseburg einige Male mit dem Tuchmachergesellen aus Gera auf der Bühne herum, begleitet vom Jubel der Zuschauer, die jetzt endlich voll auf ihre Kosten kamen.

Ein volles Haus für die zweite Haupt- und Staatsaktion wenige Tage später war damit gesichert, und auch noch einige andere Stücke von ähnlichem dichterischem Rang und Klang fanden regen Zuspruch, nur dass in dem einen Pedro Alfonso und Alfonso Pedro hieß. Ein erfrischender Kopekenregen füllte die Kasse, und obwohl der Direktor sich davon den Löwenanteil unter den Nagel riss, war Georg mit seinem Happen dennoch zufrieden. Seine Gage als eine der tragenden Säulen des Saratower Künstlertheaters hätte für seine bescheidene Lebensführung sogar ausgereicht, wenn dem Unternehmen nicht bald der Atem ausgegangen wäre. Denn leider hatte der Brot- und Leibherr der Primadonna davon Wind bekommen, dass der eine oder andere lose Bühnenbube die Liebhaberrollen hinter den Kulissen mit höchstpersönlicher Lust weiterspielte. Da er nun aber für dieses Fach die Venus von der Waterkant ausschließlich für sein Privattheater engagiert hatte, verbot er ihr nach einigen Aufführungen, sich auf den Brettern, die die Welt bedeuten, je wieder zur Schau zu stellen. Zwar bemühte sich das gesamte Ensemble, diesen einschneidenden Verlust zu ersetzen, doch vergebens, denn unter den wenigen deutschen Einwanderern weiblichen Geblüts war kein einziges hierfür passendes Frauenzimmer aufzutreiben. Schon riet Maas dem Direktor, in den wie verstreuten Kolonien des Wolgagebiets eine groß angelegte Suchaktion nach einer seiner abgetakelten Elbsirenen in die Wege zu leiten, als ein zweiter, noch weniger auszubügelnder Abgang der aufblühenden Kunst in Saratow den Todesstoß versetzte. Stengel hatte sich als Harlekin die Gunst eines vornehmen Russen in einem so hohen Grad erworben, dass dieser ihn unter großzügigen Bedingungen als Diener und Spaßmacher zu sich nahm. Zwar setzte der Direktor alle Hebel in Bewegung, die Stütze seines Musentempels zu behalten, doch Stengel war klug genug, in das irdische Haus des Russen zu ziehen statt im Luftschloss des Italieners zu bleiben. So unerwartet verwaist, versuchte der Schauspieldirektor, Georg für die Rolle des Hanswurstes zu gewinnen, doch da dieser weder Lust noch Talent dazu hatte, verschwand die Welt des Scheins in Saratow für die nächsten Jahre in der Versenkung.