An der Wolga will ich bleiben

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Wiedersehen mit Hildegard
1

Mit der Schließung des Theaters war es für Georg vorbei, seinen Lebensunterhalt so leicht und vergnüglich zu verdienen. Auf der Suche nach einem neuen Broterwerb geriet er an den Lohgerber Offenheimer, der im Hintergebäude von Vorsprechers Haus seine Werkstatt betrieb. Da er die Arbeit nicht gerade erfunden hatte, schlug er Georg vor, ihm gelegentlich auszuhelfen. Gewöhnlich nahm er seinen Gehilfen als Kutscher und Diener mit, wenn er über die Dörfer fuhr, um Leder einzukaufen.

Es war schon spät im Jahr, der Raureif hielt sich bis in die Mittagsstunde, als sie auf einer solchen Fahrt auch nach Bachhausen kamen. Bereits seit dem Morgen, sobald ihm das Ziel klar wurde, spürte Georg eine ihm ungewohnte Unruhe, die sich noch steigerte, je mehr sie sich näherten und er einen Wald, einen Hügel, eine Biegung der Wegstrecke erkannte. Wie lange ist es schon her, dachte er, dass ich hier entlanggekommen bin, erst mit den anderen in die Steppe hinein und dann mit Kratzke nach Saratow zurück.

Er hatte den Ort, der jetzt Bachhausen hieß, als einen Flecken mitten in der Wildnis in Erinnerung, trostlos, öde, abgeschieden von der Zivilisation, vom Leben, eine finstere Gegend, wo die Welt mit Brettern vernagelt war und die zermürbten und enttäuschten Menschen sich vor dem einbrechenden Winter in Erdlöchern hatten verkriechen müssen, lebendig begraben. Jetzt war von diesen Elendsbehausungen nichts mehr zu finden; nur ein paar eingefallene und mit Unkraut überwucherte Mulden wiesen noch auf den alten Standort hin. Die roh zusammengefügten Blockhütten wirkten zwar noch nicht einladend, aber nach allem, was Georg bisher in Russland gesehen hatte, waren sie wenigstens menschenwürdige Unterkünfte. Die Äcker, in mühevoller Arbeit von den Siedlern auf der Dorfseite angelegt, lagen jetzt abgeerntet da. Viel schienen sie dem Boden noch nicht abgerungen zu haben, wie die Stoppeln zeigten, die nicht so dicht beisammenstanden wie auf den Feldern in Thüringen, und auch die Kühe auf der Weide jenseits des Baches hatten sich noch keine prallen Bäuche angefressen. Aber es herrschte Leben in der Siedlung, Bauernkarren rumpelten auf den Straßen, Männer und Frauen eilten geschäftig hin und her, und aus einer Hütte am Dorfeingang klang der Gesang heller Kinderstimmen. Der Lohgerber und sein Gehilfe fuhren gerade vorbei, als die Tür aufgerissen wurde und eine Schar Jungen und Mädchen ins Freie stürmte, gefolgt von einem Mann in Georgs Alter, der hinter ihnen abschloss und sich erstaunt umdrehte, sobald er das fremde Fuhrwerk hörte.

„He, Christoph“, rief Georg ihm zu, „das ist aber eine Überraschung!“

„Für mich noch mehr“, antwortete Möhring lachend. „Wir haben uns seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehn.“

Georg sprang vom Bock und eilte auf seinen alten Gefährten zu. „Wie kommst du plötzlich zu so viel Nachwuchs?“

„Seit ich Lehrer geworden bin.“

„Du, Lehrer?“

„Einer musste es ja machen, nachdem der alte gestorben war.“

„Ich hatte keine Ahnung von einer Schule und einem Lehrer in Bachhausen.“

„Der Pauli hat damit angefangen, ein früherer Schulmeister aus dem Taunus. Er hatte die Leute hier überzeugt, dass ihre Kinder auch in der Wildnis lesen und schreiben lernen müssen.“

Georg lachte. „Und jetzt haben die Leute sicher dich davon überzeugt, dass du als Studiosus der geeignete Nachfolger bist.“

„Schulmeister liegt mir mehr als Bauer zu spielen. Und du? Treibst du noch immer in Saratow dein Unwesen?“

„Ja, mal hier, mal da. Diesmal bei einem Lohgerber, wie du siehst. Wir wollen Häute einkaufen.“

„Bleibt ihr über Nacht hier?“

Georg schaute Offenheimer fragend an, der erklärte, seine Geschäfte würden ihn bestimmt bis morgen aufhalten.“

„Du musst uns unbedingt besuchen kommen“, sagte Möhring zu Georg, „und übernachten kannst du bei uns auch. Wir haben uns viel zu erzählen.“

„Du redest da von `uns´. Bist du inzwischen verheiratet?“

„Im Dezember ist es so weit, sobald das Trauerjahr vorüber ist. Eva, ich meine die Tochter des verstorbenen Schulmeisters, wird nämlich meine Frau. Ich habe von Anfang an im gleichen Haus gewohnt. Und du?“, fragte Möhring lächelnd. „Bist du immer noch nicht in festen Händen? Ich glaube, Hildegard hat dich noch nicht ganz vergessen. Bei jedem, der von Saratow kam, hat sie sich nach dir erkundigt, wenigstens in den ersten Monaten. Aber du hast nie etwas von dir hören lassen.“

„Ja, seitdem ist viel Zeit vergangen, und so schnell.“

Offenheimer trieb zur Eile, er wollte noch vor dem Abend möglichst viele Häute kaufen. Was ihm die Kolonisten anboten, war allerdings weniger, als er erwartet hatte. In den Dürrejahren hatte sich der Viehbestand nicht wie gewünscht vermehrt.

Mit gemischten Gefühlen sah Georg der Begegnung mit Hildegard entgegen. Einerseits freute er sich, andererseits plagte ihn ein schlechtes Gewissen. Er erinnerte sich noch genau, wie er damals beim Abschied ihre Hand genommen und gesagt hatte: „Wenn ich was von Ackerbau und Viehzucht verstände, so wie euer Peter, dann würde ich hier bleiben und mit euch gemeinsam eine neue Existenz aufbauen. Aber ich bin Tuchmacher und deshalb gehe ich jetzt in die Weberei. Spätestens im Frühling sehen wir uns wieder.“

Seitdem war mehr als nur ein Frühling ins Land gezogen, und die Hoffnung, mit dem erlernten Beruf sein Brot zu verdienen, hatte sich nicht erfüllt. Was hatte er nicht alles angefangen, und was war alles gescheitert! Jetzt trat er als Kutscher und Diener eines Lohgerbers vor sie hin, kein Grund, wie er sich eingestehen musste, stolz auf sich zu sein. Aber es lag nicht an ihm, die Verhältnisse waren nun einmal so widrig, und unter anderen Umständen hätte er es längst zum Meister gebracht. Er tröstete sich mit dem Gedanken, nicht er allein habe Grund zum Klagen, den anderen gehe es auch nicht besser, manchen sogar noch schlechter; sie waren vom Regen in die Traufe gekommen und teilten alle mehr oder weniger das gleiche Schicksal mit ihm.

Im ersten Augenblick ihres Wiedersehens wirkte sie ein wenig verlegen, aber vielleicht lag es auch nur daran, dass er sich selbst etwas befangen benahm. Sie war noch schöner geworden, aufgeblüht zu einer jungen Frau, deren Anmut auch nicht durch die ärmliche Kleidung gemindert wurde. Schon nach den ersten Begrüßungsworten war die unsichtbare Trennwand zwischen ihnen gefallen, und in den Blicken, die sie tauschten, lag ein Gefühl von Wärme und Zuneigung.

„Lange nicht mehr gesehen“, sagte er. „Wie geht es dir und deiner Familie?“

„Wie es uns allen so geht. Wir haben Glück gehabt. Keiner von uns ist krank geworden und gestorben, wie du siehst.“ Sie wies lachend auf die Geschwisterschar, die sich im Hof um sie drängte, darunter ein zweijähriges Mädchen, das sich an sie schmiegte.

„Eine echte Bachhausenerin?“

„Ja, hier geboren, meine jüngste Schwester.“

„Sind deine Eltern auch gesund?“

„Sie können es sich nicht leisten, krank zu sein mit sechs Kindern. Das heißt, mich darf ich ja eigentlich nicht mehr dazuzählen.“

Johann Orner hatte aus dem Schuppen einige Häute geholt, über deren Preis er mit dem Lohgerber feilschte.

Gleich hinter dem Haus lag der Gemüsegarten, in dem um diese Jahreszeit nur noch Kohlstrünke auf den Beeten standen.

„Was macht die Landwirtschaft?“, erkundigte sich Georg. „Dein Vater war doch Köhler.“

„Inzwischen ist er Bauer geworden wie wir alle. Ohne Peter hätten wir es nicht so rasch geschafft.“

„Damit habt ihr wohl einen guten Fang gemacht.“

„Wir mögen ihn alle, er ist bei uns wie zu Hause. Schade, dass ihr euch nicht sprechen könnt. Er ist für einige Tage fortgefahren, um auf eigene Faust Saatgut zu beschaffen. Es ist ja alles so schwierig hier.“

„Ich weiß.“

„Erzähle mal, wie es dir ergangen ist. Wir haben so lange nichts voneinander gehört.“

„Was ich alles erlebt habe, das ist eine lange Geschichte. Also um von vorn anzufangen...“

Doch weiter kam er nicht. Der Lohgerber war mit Orner handelseinig geworden und rief Georg zu, die Häute aufzuladen. Sie wollten noch einige andere Bauern aufsuchen.

„Ich schlafe heute Nacht bei Möhring“, sagte Georg zu Hildegard. „Komm doch rüber, wenn du kannst, dann haben wir Zeit genug, über alles zu reden.“

Sie kam auch, als es schon dunkel war. „Lange kann ich nicht bleiben“, erklärte sie, „ich habe Mutter versprochen, ihr noch beim Nähen zu helfen. Jeden Tag geht etwas kaputt, besonders bei den Jungen.“

Dennoch blieb sie über zwei Stunden. Sie hing an Georgs Lippen, und wenn sie glaubte, er habe dieses oder jenes nicht ausführlich genug erzählt, erkundigte sie sich nach weiteren Einzelheiten. Endlich war das eingetreten, was sie sich seit langem ersehnt hatte: das Wiedersehen mit dem jungen Mann, zu dem sie sich hingezogen fühlte wie zu keinem anderen. Wie oft schon hatte sie vom Dorfrand in Richtung Saratow geschaut, wohin Georg damals bei seiner Abreise ihren Blicken entschwunden war. Jedes Mal wenn sie zur Ausfahrtstraße kam, hatte sie nach ihm Ausschau gehalten, als müsse er gerade in diesem Augenblick in der Ferne auftauchen, und führte der Zufall sie nicht dorthin, ließ sie sich von der Sehnsucht treiben. Doch von alldem gestand sie ihm jetzt nichts.

Auch Georg spürte eine starke Zuneigung zu ihr. Schade, dachte er wiederholt, dass wir uns nicht früher kennengelernt haben, in Gera zum Beispiel, in Berlin oder sonst wo auf meiner Wanderschaft durch Deutschland. Sie hätte mir die Flausen aus dem Kopf getrieben, in Amerika Abenteuer zu suchen, um dann im finsteren Russland zu stranden.

 

Aber das Schicksal hatte es anders mit ihnen gemeint, und er war so blind, nicht zu sehen, dass es vielleicht besser für ihn gewesen wäre, in Bachhausen auszuharren, statt nach Saratow auszuweichen. Jetzt, so schien es, war es zu spät für eine Wende. Denn wie er von Möhring und dessen Braut erfahren hatte, lief alles darauf hinaus, dass Hildegard eines Tages Peter Luck heiraten werde. Ihre Eltern seien sehr dafür, niemand könne in die Zukunft schauen, und da sei es ratsam, wenn ein junger Mann, noch dazu ein Bauer, die Wirtschaft leite. „Übrigens, die Blockhütte, die jetzt als Schule dient, ist das Haus, das eigentlich als Kronshaus für dich gebaut worden ist. Die Leute, die zunächst darin gewohnt haben, sind gestorben, aber wenn du zurückkommst, kannst du jederzeit darin einziehen.“

Mitternacht war schon vorüber, und Hildegard hatte sich längst verabschiedet, als Möhring diese Bemerkung machte; doch Georg hatte nur den Kopf geschüttelt. Was sollte er dort allein? Er wäre sich verlassen vorgekommen, der Ort war ihm fremd geworden.

2

In aller Frühe brach er mit Offenheimer auf. Nachdem der Lohgerber in zwei Dörfern seine Geschäfte abgewickelt hatte, fuhren sie auf dem Rückweg zu einer weiteren deutschen Siedlung, als sie unterwegs von einem Schneegestöber überrascht wurden. Der Sturm tobte mit solcher Gewalt, dass die Pferde scheuten und die Männer sich nur schreiend verständigen konnten. In wenigen Minuten wurde es nachtdunkel, so dicht fegten die Flocken vom Himmel herab über die Steppe, und in kurzer Zeit war die Fahrspur verweht.

„Weiß der Teufel, wo es langgeht“, fluchte der Lohgerber. „Bei dem Unwetter sieht man weder Weg noch Steg.“

Da es unmöglich war, überhaupt noch die Richtung zum nächsten Dorf auszumachen, und sie daher Gefahr liefen, sich in der Wildnis zu verirren, mussten sie wohl oder übel im Freien ihr Lager aufschlagen, zumal die Nacht ohnehin bevorstand. Mit Mühe spannten sie die verängstigten Pferde aus und banden sie hinten am Wagen an, auf den sich Offenheimer niederlegte und mit ein paar Häuten zudeckte. Georg dagegen hielt es für besser, für sein Lager eine Kuhhaut auf dem Schnee auszubreiten und eine andere über sich zu ziehen. Der herabfallende Schnee, so hoffte er, werde ihn dann wie ein Federbett vor der schneidenden Kälte schützen.

Tatsächlich fühlte er sich auch einigermaßen behaglich und schlief sogar eine Weile ruhig, bis er schließlich durch die immer schwerer werdende Schneedecke auf der Rinderhaut erwachte. Da die Last ihm wie ein Bleiklotz auf der Brust lag, begann er sich aus dem Schnee hervorzuarbeiten, erst behutsam, dann rasch, als er die Pferde schnauben hörte, wie alle Tiere aus russischer und kalmückischer Zucht zu tun pflegten, wenn sie einen Wolf in der Nähe witterten. Er sprang auf, holte aus dem Fuhrwerk eine Flinte und legte sich auf die Lauer. Die Nüstern der Pferde wiesen ihm die Richtung, aus der sich, kaum waren einige Atemzüge vergangen, der Wolf heranschlich. Georg drückte ab. Er hatte gut gezielt, das Raubtier machte einen Satz in die Luft und blieb dann im Schnee liegen.

Durch den Schuss war Offenheimer aufgeschreckt. Die Kälte auf dem Wagen hatte ihm stärker zugesetzt als Georg unter der Schneedecke. Er fror und klapperte so mit den Zähnen, dass er kaum ein Wort hervorbrachte. Wie verstört starrte er seinen Gehilfen an, als er erfuhr, was geschehen war, und näherte sich dem erlegten Wolf erst dann, nachdem Georg ihn durch einen Fußtritt gegen den Kadaver davon überzeugt hatte, dass keine Gefahr mehr drohe.

„Wo ein Wolf ist“, stieß Offenheimer stockend hervor, „da sind auch noch andere. Was sollen wir nur tun?“

„Schlafen ist zu gefährlich“, meinte Georg. „Wir müssen alles tun, um uns wachzuhalten. Am besten trampeln wir uns einen Pfad und laufen hin und her.“

Stundenlang gingen sie so auf und ab, schlugen die Arme zusammen und lauschten dann und wann in die Nacht hinaus, manchmal mit dem bangen Gefühl, durch die Finsternis hindurch von Raubtieraugen belauert zu werden. Obwohl sie hundemüde waren, wagten sie es nicht, sich auch nur kurze Zeit hinzusetzen aus Sorge, dabei einzuschlafen und zu erfrieren.

„Es kommt hier nicht selten vor, dass ein Mensch erfriert“, erzählte der Lohgerber. „Im letzten Winter hat es einen Bekannten von mir erwischt. Russen haben ihn später gefunden und ihm die Kleider geraubt. Doch nicht genug damit, sie haben sich an dem Toten auch noch versündigt, Gott sei’s geklagt. Roh wie diese Kerle nun mal sind, haben sie den steif gefrorenen Leichnam mit dem Kopf voran in den Schnee gerammt und ihm seine Tabakspfeife, die ja so viele Russen nicht mögen, in den Hintern gesteckt.“

Mit Ungeduld sehnten sie den Anbruch des Tages herbei, der ihrem Gefühl nach viel länger auf sich warten ließ als üblich. Der Sturm legte sich, und bald hörte es auch auf zu schneien. Als es endlich dämmerte, nahm Georg sich ein Pferd und arbeitete sich mühsam durch den Schnee, um die Fahrspur zu suchen. Zum Glück fand er eine Stange, die zusammen mit anderen den Weg ins Dorf kennzeichnete. Um jedoch bis zu dieser Strecke zu gelangen, mussten sie sich erst eine Bahn freischaufeln und die Kufen unter dem Wagen befestigen, um so aus dem Fuhrwerk einen Schlitten zu machen.

Das nächtliche Erlebnis hatte Georgs Stimmung nach seiner Abfahrt von Bachhausen noch mehr gedrückt und ließ ihn den unglückseligen Einfall, nach Russland zu gehen, noch bitterer bereuen als bei früheren Anlässen.

Ostrog und Tataren
1

Die meisten Kolonisten, die nicht bereits vor ihrer Auswanderung nach Russland in der Landwirtschaft tätig gewesen waren, lebten unter erbärmlichsten Verhältnissen, ständig den Hungertod vor Augen. Zu allem Übel kam auch noch die Räuberei der Kalmücken, die nach der Ansiedlung der Einwanderer an den Grenzgebieten der neuen Dorfbezirke nomadisierten. Wo immer sie eine günstige Gelegenheit witterten, trieben diese überaus gewandten Reiter das Vieh weg. Gefürchtet waren auch die Diebeszüge der Zigeunerbanden, die auf der Suche nach Beute durch die Kolonien streiften. Bisweilen lagerten Scharen umherziehender Zigeuner oder Kalmücken in der Nähe einer Siedlung, schlugen an die fünfzig bis hundert Zelte oder Jurten auf und überwinterten dort. Bei Tage streunten sie als Bettler durch die umliegenden Ortschaften, stahlen alles, was nicht niet- und nagelfest war, und raubten in der Nacht, was sie am Tage ausbaldowert hatten. Wo nur möglich, holten sie das Vieh von der Weide und verschleppten sogar Kinder, die ihre Eltern nie wiedersahen.

In dieser Notzeit machte im Jahre 1767 das Gerücht die Runde, die Zarin Katharina selbst werde alle Kolonien besuchen, um selbst zu prüfen, wie die Missstände am besten zu beheben seien. In Bachhausen wie auch andernorts kamen die deutschen Siedler jedoch erst gar nicht dazu, die hohe Landsmännin auf dem Zarenthron gebührend zu empfangen, da es schon bald hieß, die Kaiserin sei zwar auf dem Weg ins Wolgagebiet gewesen, aber nur bis Simbirsk gekommen und dort durch die Hiobsbotschaft zurückgehalten worden, unter den Ausländern herrsche die Pest. Kein Wort davon stimmte, doch einige hochgestellte Persönlichkeiten, die den Scharfblick der Regentin scheuten, hatten es verstanden, diese Falschmeldung so geschickt in die Welt zu setzen, dass die Zarin kehrtmachte und nach Sankt Petersburg zurückreiste.

Entgegen den Ankündigungen des Manifestes von 1763 unterstanden die Kolonisten der Rechtsprechung des Woiwoden von Saratow. Obwohl Nikita Strojew, der dieses Amt innehatte, freigebig mit Staatsgeldern um sich warf, waren die Deutschen nicht mit ihm zufrieden gewesen, da er mit ihnen wie mit Russen umsprang. Deshalb hatten die Siedler in Sankt Petersburg darum gebeten, für sie ein eigenes Gericht zu schaffen, was ihnen umso eher bewilligt wurde, da man auch in der Tutelkanzlei aus denselben Gründen auf den Verwaltungsbeamten nicht gut zu sprechen war. Zwar errichtete man schon bald in Saratow ein Kontor der Petersburger Tutelkanzlei, doch sollten noch neun Jahre vergehen, bis die Rechtslage der Kolonisten dem Manifest angeglichen wurde.

Begleitet von einem Kosakentrupp machte eines Tages der Leiter des Saratower Kontors, Oberstleutnant Resanow, eine Besichtigungsreise durch die Wolgakolonien, zum Schrecken der Deutschen, deren Rücken die Peitschen der Kosaken zu spüren bekamen. Besonders knöpften sie sich solche Siedler vor, deren leere Häuser und unbestellte Felder nicht erkennen ließen, wozu sie ihre Vorschüsse verwendet hatten. Ganz unschuldig litten sie nicht unter der Züchtigung, doch waren sie weniger schuldig, als es dem Oberstleutnant schien, der an ihnen seine durch die Verweise aus Petersburg gestaute Wut ausließ. Die Verantwortung für diese Übelstände hatten die Politiker zu tragen, die so viele Menschen zur Landwirtschaft zwangen, von der sie nichts verstanden.

Nach der Rückkehr Resanows wurden Vorkehrungen getroffen, die Schlimmes befürchten ließen. Nahe der Stadt standen acht Kasernen, von denen sich jeweils zwei gegenüberlagen. Vier davon ließ der Leiter des Saratower Kontors nun durch rundum gezogene Planken zu einem Block vereinigen, der, wie es hieß, für liederliche Kolonisten bestimmt sei. Tatsächlich lieferte man auch, sobald der Bretterzaun errichtet war, von allen Kolonien die Menschen dort ein, die von der Tutelkanzlei als Faulenzer, Lumpenpack, Gesindel und verarmte Hungerleider eingestuft wurden. Abgesehen von der Freiheit ging es diesen ständig bewachten Gefangenen gar nicht so übel, denn während sie in den Kolonien oft nichts zu beißen gehabt hatten, war jetzt ihre Verpflegung bei leichter Arbeit zwar karg aber ausreichend. Außerdem wurden in dem neuen Ausländergefängnis auch Siedler festgehalten, die aus ihren Kolonien geflohen und wieder aufgegriffen worden waren. Obwohl allgemein bekannt, welches Schicksal jedem Flüchtling drohte, gab es viele Einwanderer, die durch Not und Unzufriedenheit mit ihrer Lage zur Flucht getrieben wurden. Die meisten, die von Kosakenstreifen erwischt worden waren, hatten versucht, sich nach Polen durchzuschlagen, und wurden nun nach einer scharfen Züchtigung mit der Knute zu den anderen gesteckt.

Um unterwegs nach Westen nicht auch eingefangen und ausgepeitscht zu werden, flüchteten verschiedene Kolonisten ostwärts zu den Kalmückenhorden, um von dort aus über China nach Europa zu gelangen. Diese Verzweiflungstat führte sie jedoch nicht in die Freiheit, sondern in die Knechtschaft unter den Nomaden, wo sie ein noch traurigeres Dasein fristeten als bisher.

Wie lange die Kolonisten im Gefängnis bleiben sollten, wusste niemand so recht. Allgemein hieß es, sie würden darin zur Besserung erzogen und dann nach dem Willen der Kaiserin zu einem neuen Einsatz abgeschoben, was immer das bedeuten mochte. So betrachtet, konnten sie in dieser Besserungsanstalt noch einigermaßen zufrieden sein, verglichen mit dem schauderhaften Kerker, den sie auf ihrer Durchreise gesehen hatten. Er wurde Ostrog genannt, wie alle befestigten Anlagen schlechthin, ein viereckiges Bauwerk von ungefähr hundert Schritten auf dem Markt gegenüber der Hauptwache, durch doppelte Palisadenwände bewehrt. Die äußere Reihe der oben zugespitzten Schanzpfähle von beträchtlicher Höhe wurde durch Querhölzer mit dem Innenraum verbunden, der tief in den Boden geschlagen war. In diesem Lager unter freiem Himmel waren die Gefangenen Tag und Nacht jedem Wetter ausgesetzt. Regen und Schnee, Hitze wie Kälte, wovor sie sich nur in die selbstgescharrten Erdlöcher verkriechen konnten, in denen sie auch wie wilde Tiere schliefen. Täglich wurde einer von ihnen hinaus vor die Palisadenwand gebracht und mit einem Halseisen an einen Pfahl gekettet, um ihm Gelegenheit zu geben, von den Vorübergehenden eine milde Gabe zu erbetteln, die man in den Holznapf vor ihm zu werfen pflegte. Alle Almosen wurden unter den Gefangenen verteilt.

In jenen Tagen, da er noch Gelegenheitsarbeiten für den Lohgerber ausführte, kam Georg wieder einmal an diesem Ostrog vorbei, als er von innen die Schmerzensschreie mehrerer Männer hörte, die bereits eine Menschenmenge angelockt hatten. Georg mischte sich unter die Leute, die sich erbost über die Schinderei unterhielten. Zwar verhinderten die Palisaden die freie Sicht ins Lager, aber einige Ritzen, von Zuschauern dicht belagert, ließen deutlich erkennen, was drinnen vor sich ging. Wie Georg erfuhr, hatte es sich herumgesprochen, dass der Fluchtversuch einiger Gefangener gescheitert war. Seit längerem schon hatten sie mit Messern, von einem hilfreichen Bekannten über den Zaun geworfen, einen Stollen unter den Palisaden zu graben begonnen, um aus ihrer qualvollen Kerkerhaft zu entfliehen. Den ersten wenigen schlossen sich bald all ihre Leidensgefährten an, die schichtweise den Kriechgang ausscharrten, immer auf der Hut vor den Wachen. Mit ihrer mühseligen Arbeit waren sie schon weit gekommen, als sie verraten wurden. Der Lagerkommandant, der erst kürzlich den Posten übernommen hatte und sich Autorität verschaffen wollte, machte nicht viel Federlesens und ließ alle Gefangenen mit der Pletka auspeitschen. Diese kleinere Peitsche mit einem dünnen, am Ende gespaltenen Riemen wurde nicht nur zur Bestrafung der Leibeigenen gebraucht, sondern für leichte Vergehen auch bei Freien.

 

Gegen die beiden Rädelsführer aber wütete der Lagerkommandant noch grausamer. Für ihre Auspeitschung ließ er die Koschky verwenden, die sich von der Knute durch ihren längeren Stiel unterschied und durch den Riemen, der unten nicht spitz zulief, sondern über die ganze Länge hinweg gleich dick war. Man riss ihnen die Kleider vom Leib, warf sie nackt auf den Boden und band sie mit den Händen an die Ringe, die sich an den Enden eines mannslangen Balkens befanden, um die Arme so weit wie möglich auseinander zu spannen. Die Beine wurden mit einem Strick gefesselt, mit einer Schlinge daran, in die ein Wachsoldat trat, damit der Gepeinigte die Knie nicht an sich ziehen konnte. Ein anderer Soldat stand am Kopf jedes Rädelsführers, auf den der eine von oben, der andere von unten mit der Koschky schlug, und zwar mit solcher Wucht, als gelte es einen Eichenklotz zu spalten. Das Gebrüll der Gemarterten ließ die Luft erzittern, aber der Kommandant gebot erst dann Einhalt, als die Verurteilten zu Tode gehauen waren.

Die Erregung der Ohrenzeugen draußen vor den Palisaden steigerte sich lautstark in Empörung, sobald das schwere Balkentor aufgestoßen wurde: ein Anblick, der selbst den hartgesottensten Russen das Blut in Wallung brachte. Ohne Scheu vor Folgen verwarfen sie die Barbarei des Kommandanten und spendeten reichlich Kopeken in die beiden Holznäpfe, die neben den Erschlagenen standen.

„Was nützt ihnen das jetzt noch“, meinte Georg zu seinem Nachbarn.

„Es ist für ihre armen Seelen bestimmt“, erklärte man ihm. „Die Priester sollen mit dieser Spende ein Totenopfer darbringen für die von der Justiz Ermordeten.“

Besser erging es da den Verhafteten, die wegen geringfügiger Übeltaten in einem Lattenverschlag im Vorsaal des Kontors eingesperrt wurden. Oft genug fand Georg diesen engen Raum überfüllt, voll gepfercht mit dreißig bis vierzig Personen, Männern wie Frauen, die ebenfalls jeden Vorübergehenden anbettelten. Mutwillige, die gern Schindluder mit den Gefühlen anderer trieben, leisteten sich zuweilen die schändlichen Spaß, ihnen ein paar Kopeken hinzuwerfen und lachend zuzuschauen, wie die armen Teufel darüber herfielen und sich um die Münzen rauften.

Jeder Kolonist, der nach Saratow abgeführt wurde, konnte sich glücklich preisen, wenn er weder in den gefürchteten Ostrog noch in den Lattenverschlag kam. Doch auch die Gefangenen, die in den zur Besserungsanstalt umgebauten Kasernen einsaßen, verwünschten oft genug ihren erträglicheren Aufenthalt dort, wenn sie ihre Lage mit den Verheißungen verglichen, die ihnen von den russischen Werbern vorgegaukelt worden waren.