An der Wolga will ich bleiben

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Die Wolga hinunter
1

Sechs Wochen hielten sie sich bereits in Oranienbaum auf, als Iwan Kuhlberg bekannt machen ließ, in Kürze werde ein weiterer Transport zur Wolga abgehen. Die über hundert Wagen, die am nächsten Vormittag im Durchgangslager eintrafen, reichten jedoch nur für einen kleineren Teil aller Einwanderer aus, denn inzwischen waren aus Lübeck und Danzig noch einige Schiffe mit Kolonisten gelandet. Unter ihnen hatte Georg alte Bekannte wieder getroffen, von denen er damals bei seiner Abreise von Travemünde getrennt worden war.

„Schon morgen früh soll es losgehen“, verkündete Möhring frohgemut seinem Freund Georg. Ich habe es eben vom Kommissar selbst gehört. Schön, dass wir zusammenbleiben.“

„Boppe reist auch mit uns.“

Möhring lachte. „Für uns Junggesellen ist er verloren. Dem hat seine Flamme den Kopf verdreht. Dauernd steckt er unter ihrem Rock.“

Verschiedentlich hatten die beiden jungen Männer Boppe mit ähnlichen Bemerkungen gehänselt, er aber hatte alles gutmütig über sich ergehen lassen und ihnen entgegengehalten, sie seien nur neidisch, weil sie noch nie ein solches Mädchen gehabt hätten.

Vor dem Aufbruch von Oranienbaum wurden alle in die lutherische Kirche bestellt, in der zu ihrer Verwunderung ein großer weißer Kachelofen stand, wie sie ihn aus der Heimat kannten. Den Grund erfuhren sie aus dem Mund des Pastors selbst, eines Deutschen, der Johann Christoph König hieß und aus Schleiz im Vogtland stammte. In ihrer Muttersprache ermahnte er sie, nie vom rechten Pfad eines Christenmenschen abzuweichen, und las ihnen einen Eid vor, mit dem sie als neue russische Untertanen dem Zarenthron Treue geloben mussten. Wort für Wort sprachen ihn alle nach, bis auf einige wenige, die nur stumm die Lippen bewegten, weil sie glaubten, so künftig tun und lassen zu können, was ihnen passte, ohne ihr Gewissen durch einen Eidbruch zu belasten: entweder in Russland bleiben oder wieder heimkehren.

Nach diesem Gelübde auf die Krone nahmen die Abreisenden Abschied von allen, die noch im Lager zurückblieben. „Es ist ja nicht für ewig“, trösteten sie sich gegenseitig, „in Saratow sehen wir uns bestimmt wieder, auch wenn wir auf verschiedene Orte verteilt werden.“ Ihre Ansiedlung im gesamten Wolgagebiet werde, so hatte man ihnen gesagt, vom „Saratower Betreuungskontor für die Ausländer“ geleitet.

Unter den bereitstehenden Fuhrwerken, die mit nur einem Pferd bespannt waren, suchte sich jeder einen Wagen aus; manche Familien, die mit ihrem Hausrat ausgewandert waren, nahmen auch zwei in Beschlag. Gern hätte sich Georg ein Gespann mit Boppe geteilt, was jedoch leider nicht ging, da dieser, verliebt wie ein Kater, mit seiner Braut ein Gespann besonderer Art bildete, wozu auch noch der Brautvater gehörte; außerdem unterstanden sie einem anderen Vorsteher, dessen Wagengruppe zusammenbleiben musste. So saß Georg allein auf einem Wagen. Sein Gaul, eine schon betagte Schindmähre, schien an allen vieren zu lahmen, als es endlich losging. Aber immerhin setzte sich das Tier in Bewegung und folgte den vier Gespannen vor ihm, alle ohne Zügel. Nur an der Spitze fuhr ein Wagen, der von einem russischen Fuhrmann gelenkt wurde. Sobald er mit der Peitsche das Zeichen zum Aufbruch gegeben hatte, trotteten die Pferde der vier anderen Wagen, die er zu beaufsichtigen hatte, wie selbstverständlich hinter ihm her, ohne auch nur einen Hufschlag von der Spur abzuweichen. Unter Bedeckung durch ein Kommando von sieben Soldaten schlichen sich die Fuhrwerke so gemächlich dahin wie ein Leichenzug. Für eine Wegstunde von fünf Kilometern brauchten sie weitaus länger, wie an den Pfählen längs der Straße abzulesen war, auf denen die Ortsentfernungen in Wersten standen.

In Peterhof, sieben Werst, also gut sieben Kilometer, von Oranienbaum entfernt, wurde zum ersten Mal Halt gemacht. Tagelang zog sich der Aufenthalt hin, da die Kommissare und Beamten noch in der Vormundschaftskanzlei der nahen Residenzstadt Sankt Petersburg alle Amtsangelegenheiten abzuwickeln hatten.

„Ein düsterer Ort“, bemerkte Möhring zu Georg.

„Im Gegenteil, mir gefällt es hier.“

„Ich meine nicht die Gegend, sondern das, was vor vier Jahren nach dem Staatsstreich geschehen ist: Der Gemahl der jetzigen Zarin soll hier eines nichtnatürlichen Todes gestorben sein.“

„Das habe ich auch gehört, aber Genaueres weiß man wohl nicht. Die Meinungen darüber sind geteilt.“

„Ich habe von einem Beamten, der gut Deutsch spricht, erfahren, dass man Peter den Dritten nach dem Staatsstreich zum Landsitz Ropscha gebracht hat, wo er dann Tage später von seinen Bewachern ermordet, wahrscheinlich erdrosselt, worden ist. Der Kaiser soll mit bedecktem Gesicht auf dem Paradebett gelegen haben, und niemand durfte sich lange bei der Leiche aufhalten. Die Wache ließ zwar jeden hinein, führte aber unter dem Vorwand, ein Gedränge zu vermeiden, alle Trauergäste rasch wieder durch eine andere Tür aus dem Totenzimmer hinaus. Er soll übrigens infantil gewesen sein, sogar schwachsinnig.“

2

Nach dem Aufbruch von Peterhof fuhren die Einwanderer tagelang südwärts, ohne durch eine Stadt zu kommen. Nachts fanden sie Unterkunft in russischen Bauerndörfern. Der Transport zu Lande endete in der Nähe von Nowgorod, wo sie auf Schiffe verteilt wurden, um die Reise auf der Mata weiter fortzusetzen. Da dieser Fluss nach einiger Zeit einen Lauf nimmt, der sie zu weit von ihrem Weg abgebracht hätte, wurden sie Tage später wieder ausgeschifft und auf Fuhrwerke verladen bis zur Twerza, einem weiteren Fluss, der bei der Handelsstadt Twer, einem bedeutenden Umschlagplatz für Getreide, in die Wolga mündet. Die Reisenden atmeten auf, dort endlich wieder an Bord von Schiffen gehen zu dürfen, denn in den letzten Tagen waren die Transportwagen mit Gepäck, Kindern und Frauen so stark überladen gewesen, dass die Männer die weite Strecke bis Twer größtenteils zu Fuß zurücklegen mussten. Auf den Wolgaschiffen dagegen, mit denen sie nun stromabwärts fuhren, vorbei an zahlreichen Dörfern und Städten, konnten sie sich von den Beschwernissen der Landreise wieder erholen.

Träge flossen die Tage dahin, so ruhig und gelassen wie die Schiffe die Wolga hinabtrieben. So wäre alles wohl noch eine Weile ohne Abwechslung weiterverlaufen, wenn nicht Georg sowie Möhring und einigen anderen Mitreisenden oberhalb von Kasan die Verpflegung ausgegangen wäre, für die sie an Bord selbst sorgen mussten. Als sie von weitem am rechten Ufer ein Dorf erblickten, baten sie deshalb um die Erlaubnis, sich dort einige Lebensmittel holen zu dürfen, was ihnen der Leutnant, der den Transport leitete, auch gern bewilligte.

Gemeinsam mit Möhring stieß Georg mit einem Boot vom Schiff ab. Eine Zeitlang hielten sie denselben Kurs wie der Segler ein, immer am linken Ufer entlang, gewannen aber, da sie schneller fuhren, bald einen beachtlichen Vorsprung. Kraftvoll warf sich Georg in die Riemen. Zwischen ihnen und dem Dorf am jenseitigen Ufer lag eine Felseninsel, an der sie oberhalb vorbeifahren mussten. Um nicht von der Strömung darauf zugetrieben zu werden, ruderten sie beizeiten quer über den Fluss und kamen glücklich an der Insel vorüber, wo sie dann unvermutet in Stromschnellen gerieten. Wie ein Pfeil schoss ihr Boot durch die reißende Flut, und sie hatten alle Hände voll zu tun, es aus der Brandung herauszuhalten, die gegen die Felsen schlug.

Kurz vor dem Dorf wurde die Wolga wieder breiter und floss nun so ruhig dahin, dass sie mühelos am Landesteg anlegen konnten. Neugierig wurden sie dort von ein paar Bauern empfangen, die das Boot schon von weitem bemerkt hatten. Obwohl keiner die Sprache des anderen verstand, wurden sie rasch handelseinig, da die beiden Fremden bereitwillig den geforderten Preis für die angebotenen Waren zahlten. Reichlich mit Lebensmitteln eingedeckt, fuhren sie, dem Flusslauf folgend, vom Dorf los, in der Hoffnung, südlich der Insel wieder die Strommitte zu erreichen. Doch sie kamen nicht weit. Da sich die Insel auf dieser Seite in eine Sandbank verlor, wurde die Wolga so flach und seicht, dass sie schließlich mit ihrem Boot auf Grund liefen und stecken blieben.

„Mist!“, fluchte Georg und stieg aus. Das Wasser reichte ihm ein Stück bis unter die Knie. „Vielleicht können wir es über die Sandbank wegziehen, bis der Fluss wieder tiefer wird.“

Doch alle Anstrengung blieb vergeblich, sosehr sie sich auch ins Zeug legten. „Was nun?“ Möhring keuchte.

„Wir müssen ein Stück zurückfahren und dann oberhalb der Insel wieder zum jenseitigen Ufer.“

„Mit nur einem Ruder schaffen wir das nie.“

„Du ruderst immer dicht am Ufer entlang, und ich ziehe vom Land aus das Boot an einem Seil.“ Georg deutete auf das Knäuel, das unter der Ruderbank lag. Sobald er die Bootsleine am Bug befestigt hatte, watete er ans Ufer und warf sie sich über die Schulter. Bald hatten sie den Kahn wieder flott. So sauer es Georg auch fiel, das Boot im Schlepptau gegen die Strömung zu ziehen, ging es dennoch eine Weile gut, bis ein zum Fluss hin schief gewachsener Baum ihm den Weg versperrte. Da er unter den tief herabhängenden Zweigen nicht vorwärts kriechen konnte, setzte er sich auf den Stamm und versuchte das Seil darunter hindurchzuziehen. Dabei hatte er jedoch die Strömung unterschätzt, die jetzt, da er nicht mehr mit voller Körperkraft dagegenhalten konnte, das Boot erfasste und abwärts trieb. Er verlor den Halt und fiel vom Baumstamm herab ins Wasser, zum Glück immer noch die Leine in der Hand.

„Hilf mir doch, Christoph!“, schrie er. „Zieh mich raus!“

Möhring ließ die Riemen hängen, beugte sich übers Heck, packte das Seil und zerrte den Kameraden ins Boot.

„Verdammt kalt!“, stieß Georg hervor, wobei er Mühe hatte, die starren Lippen zu bewegen.

 

Um nicht noch weiter abgetrieben zu werden, ließen sie das Boot absichtlich auf eine nahe Sandbank laufen. Einige Dorfbewohner hatten vom Ufer aus den Unfall beobachtet und eilten zur Rettung herbei. Da die beiden auch jetzt noch die Unterstützung der Bauern brauchten, schrien und winkten sie ihnen zu und gelangten schließlich mit Hilfe der Russen wieder zur Anlegestelle, wo sie ausstiegen und so lange im Dorf blieben, bis Georg seine durchnässten Kleider am Feuer getrocknet hatte. Zum Dank für ihre Unterstützung bot er ihnen den Rest seines Geldes an, was sie aber ausschlugen. Da er nicht wollte, dass sie sich umsonst so viel Mühe gemacht hatten, warf er es ihnen zu, als er gerade mit dem Boot wieder vom Ufer abstieß, und dankte ihnen nochmals durch Worte und Zeichen. Am Ufer entlang ruderten sie im ruhigen Fahrwasser eine Strecke aufwärts, weit über die Felseninsel hinaus, um nicht von der Brandung erfasst zu werden, und steuerten dann quer zur Flussmitte, wo sie sich von der Strömung abwärts treiben ließen.

„Wer weiß, wo unser Schiff vor Anker gegangen ist“, seufzte Möhring, nachdem sie eine Zeitlang vergebens danach Ausschau gehalten hatten.

Die Nacht brach herein, doch war es sternklar genug, um vor Klippen und Sandbänken ausweichen zu können. Immer dicht in Ufernähe ruderten sie abwärts, bis sie endlich von weitem einige Lichtpunkte erblickten.

„Es könnten Laternen sein“, vermutete Möhring, „Laternen von unserem Schiff.“

Sie hielten darauf zu und erkannten bald, dass sie sich nicht getäuscht hatten. Mit großem Hallo wurden sie an Bord von ihren Mitreisenden begrüßt; doch gleich darauf wurde ihre Freude durch den Leutnant getrübt, der sich über ihr langes Wegbleiben höchst aufgebracht zeigte. Er hatte den anderen gegenüber geschworen, die beiden Burschen mit Prügeln zu empfangen, ließ sich dann aber erweichen, die Drohung nicht wahrzumachen, als er von ihrem Missgeschick hörte, das sie so lange aufgehalten hatte.

3

„Bestimmt wäre es zu einem Aufstand gekommen, wenn der Leutnant Sie tatsächlich bestraft hätte“, meinte Johann Orner, als er die Lebensmittel in Empfang nahm, die Georg auch für seine Familie besorgt hatte. “Er haut uns genauso übers Ohr wie damals der Kapitän auf dem Zweimaster.“

Georg nickte. „Ich weiß. Deshalb erlaubt er uns ja auch so selten, an Land zu gehen und selbst einzukaufen.“

„Außer er ist selbst dabei und kassiert seine Prozente von den Russen ab, natürlich nur hinter unserem Rücken. Unsereins versteht ja kein Wort von dem, was sie miteinander aushecken.“

„Lange treibt er das nicht mehr mit uns“, knurrte Peter Luck. „Ein Funke genügt!“

Hildegard, mit der sich Georg an Bord gelegentlich unterhalten und angefreundet hatte, blickte ihn lächelnd an: „Ich bin froh, dass alles noch mal gutgegangen ist, vor allem dein Bad in der Wolga.“

„Ich wollte dich doch unbedingt wiedersehen“, scherzte er. Immer fühlte er sich von ihr angezogen, ob er nun mit ihr redete oder sie nur schon von weitem sah. Aber eine engere Beziehung wollte er nicht anknüpfen, dafür war sie ihm mit ihren sechzehn Jahren zu jung, und außerdem hatte er sich geschworen, sich in Russland nicht zu binden. Er war von seiner Heimat aufgebrochen, um Abenteuer zu erleben, Abenteuer jeder Art, auch mit Frauen, doch für eine Liebelei war sie ihm zu schade.

Der Funke, von dem Luck gesprochen hatte, sollte schon bald das Pulverfass sprengen. War bereits zu Lande die Reise der Auswanderer nur langsam vonstatten gegangen, weil die russischen Fuhrleute am Nachmittag nicht früh genug ins Nachtquartier kommen und am nächsten Morgen nicht spät genug aus den Federn kriechen konnten, so schlich sich die Fahrt auf der Wolga nicht weniger im Schneckentempo dahin. Nachts warfen sie immer irgendwo am Ufer Anker, und die Strecke, die sie tagsüber zurücklegten, war stets nur kurz. Der Grund hierfür lag allein in der Profitgier des Leutnants. Seit Twer folgte ihnen ein Proviantschiff, vollgeladen mit Lebensmitteln, die der Leutnant des Begleitkommandos unterwegs immer wieder billig einkaufte und um ein Vielfaches teurer an die Fremden verkaufte. Anfangs hatten die Auswanderer die Versorgung von diesem schwimmenden Laden noch als angenehme Gefälligkeit betrachtet, bis sie dann mit der Zeit den Schwindel durchschauten. Das Fass lief über, als sie schon im Anblick der Kirchtürme von Kasan erfuhren, der Leutnant wolle dort frischen Proviant einkaufen, sie selbst dagegen dürften die Stadt nicht betreten.

„Jetzt legen wir dem sauberen Herrn ein für alle Mal das Handwerk“, empörte sich einer.

„Von seinem Proviantschiff kaufen wir nichts mehr“, rief ein anderer, „nicht für eine Kopeke!“

„Gehn wir zu ihm“, forderte Orner die Mitreisenden auf. „Sagen wir ihm unsere Meinung.“

Laut hörbar bekräftigten alle Auswanderer ihre Absicht, sich nicht länger übervorteilen zu lassen, was den Leutnant auf dem Brückendeck aufmerksam werden ließ. Aus den Wortfetzen, die er aufgeschnappt hatte, wusste er bereits, um was es ging, als eine beträchtliche Schar von Männern erregt auf ihn zukam, angeführt von Orner, den die meisten vorschickten, da sie sich von seiner Besonnenheit am ehesten Erfolg versprachen. Entschlossen, sich sein Geschäft nicht vermasseln zu lassen, trat der Leutnant ihnen entgegen und schnitt Orner kurzerhand das Wort ab, kaum dass dieser den Mund geöffnet hatte.

„Ich führe hier das Kommando“, erwiderte er, „und ich verbiete jedem von euch, an Land zu gehen und sich selbst mit Lebensmitteln zu versorgen.“

Der Unmut, der ihm entgegenschlug, prallte an ihm ab. Statt sich auf ein Wortgefecht einzulassen, wies er den Kapitän an, mitten im Strom Anker zu werfen. Kaum hatten die Kolonisten die Absicht durchschaut, da entlud sich ihre Entrüstung in Angriffslust. Die Heißsporne unter ihnen drohten, die Ankertaue zu zerhauen und selbst die Führung des Schiffes zu übernehmen. Einige rückten schon vor, lautstark von dem aufgebrachten Haufen angetrieben, doch sogleich warfen sich ihnen die russischen Soldaten entgegen. Wutentbrannt feuerte der Leutnant seine Leute an und fluchte, als er selbst bei dem Handgemenge manchen Rippenstoß einstecken musste. Zu guter Letzt blieb ihm nichts anderes übrig als nachzugeben, da die Einwanderer den Soldaten, die von der Schusswaffe keinen Gebrauch machen durften, weit überlegen waren.

„Das ist Aufruhr!“, tobte er. „Auflehnung! Widerstand gegen die Staatsgewalt!“ Und nachdem er einen Schwall von Mutterflüchen ausgestoßen hatte, schwor er ihnen: „Ihr werdet euer Fett noch abbekommen, alle wie ihr da seid, sobald ich eure Meuterei bei der Behörde in Saratow anzeige.“

Gejohle war die Antwort. „Wer selbst Dreck am Stecken hat, zieht am besten den Schwanz ein“, rief einer.

Nur zu gut wusste der Leutnant, dass er keine guten Karten hatte. Sein schwunghafter Handel war rechtswidrig, und so schmollte er noch eine Weile, bis sich dann, eins gab das andere, zwischen den Streithähnen alles wieder einrenkte.

Die Auswanderer hatten ihren Willen durchgesetzt. Die Anker wurden wieder gelichtet, und das Schiff nahm von der Strommitte Kurs auf Kasan, damit dort jeder auf eigene Rechnung Lebensmittel kaufen konnte. Bei ihrer Landung sahen sie erstmals Kalmücken, Mordwinen, Tataren und Nomaden, die in die Stadt gekommen waren, um Handel zu treiben. Neugierig staunte Georg diese verwegenen Gestalten an, die ihm, dem Mitteleuropäer, wie Halbwilde erschienen, und seine Vorstellung von Kanaan, den himmlischen Gefilden, wohin sie nach dem Willen der Großen Katharina geführt werden sollten, verwandelte sich rasch vom Paradies zum Fegefeuer, als er erfuhr, dass diese Leute Bewohner oder Nachbarn des gelobten Landes seien.

Auf ihrer Weiterfahrt südlich von Kasan gewann die Wolga in der flachen Steppe immer mehr an Breite, die stellenweise mehrere Kilometer betrug und den Fluss wie einen See erscheinen ließ. Das Spiel der Wellen und die Fische, die häufig in dichten Schwärmen am Schiffsrumpf entlangglitten, boten eine angenehmere Unterhaltung als der Anblick der öden Ufer, die in den Reisenden nicht den Wunsch weckten, an Land zu gehen.

Ihre Hoffnung, noch in diesem Jahr Saratow zu erreichen, zerbrach, als der Winter sie über Nacht bei Sysran im Gouvernement Simbirsk überfiel, nur zweihundert Kilometer von ihrem Bestimmungsort entfernt. Gewohnt an ihr heimisches Klima mit allmählich wechselnden Jahreszeiten waren sie nun von dem ungestümen Umschwung vom Sommer zum Winter umso mehr überrascht. Schon der erste Schnee blieb liegen, so bitterkalt war es geworden. Die Wolga erstarrte innerhalb weniger Stunden, und das Eis hatte die Schiffe bald so fest im Griff, als lägen sie auf Grund. So blieb den Auswanderern nichts anderes übrig, als von Bord zu gehen und die Weiterfahrt bis zum Tauwetter im Frühling zu verschieben. Achtzehn Wochen waren sie bereits unterwegs gewesen und mussten jetzt, dem Ziel so nahe, Winterquartiere in einigen nahe gelegenen Dörfern beziehen. Die Gruppe, die mit Georg dem Vorsteher Kratzke unterstand, wurde in dem Kirchdorf Panschino bei russischen Bauern untergebracht.

4

Noch nie hatte Georg in einer so armseligen Kate gewohnt wie in Panschino, obwohl der Bauer, dem er zugewiesen wurde, für die örtlichen Verhältnisse in einem gewissen Wohlstand lebte. Doch die Freundlichkeit, mit der ihm die Bäuerin begegnete, ihre Heiterkeit und Lebenslust, wog alle Mängel und Missstände auf. Sie war es auch, die ihn im ständigen Umgang mit der Landessprache vertraut machte, so dass er ihr bald schon die Gegenstände um ihn herum und die Dinge des täglichen Bedarfs auf Russisch nennen konnte. Über jedes neue Wort, das er aus ihrem Munde lernte, zeigte sie sich stets so entzückt, dass sie sogleich die vollen Lippen zu weiteren Lauten formte, was ihm, durchaus nicht ungern, Gelegenheit bot, an ihren Lippen zu hängen und dabei oft genug auch tief in die Augen zu schauen. Georgs Lerneifer wuchs, je mehr er in seiner Wirtin und Lehrerin eine verlockende Evastochter sah, jung und begehrlich, mit der er sich auch von ganzem Herzen über anderes unterhalten hätte als nur über Allerweltskram.

Seine Neigung zu ihr ließ ihn mitleiden, wenn sie, im Gegensatz zu ihrer frohen, beschwingten Natur, zuweilen missmutig und vergrämt dreinschaute. Der Grund dafür schien ihm die manchmal lieblose Behandlung durch ihren Mann und dessen Eltern zu sein, die mit ihrer ledigen Tochter unter demselben Dach lebte. Sie sprachen oft heftig mit ihr, schimpften sogar, und obwohl Georg aus dem Wortgepolter nicht klug wurde, schloss er dennoch aus dem rauen Ton und den bösen Blicken, dass sie ihr keine Nettigkeiten an den Kopf warfen. Bei diesen Auseinandersetzungen hörte er oft das Wort „Kinder“ fallen und erfuhr schließlich von der Gescholtenen, die Ursache ihres Kummers sowie der Unzufriedenheit ihres Mannes und seiner Eltern sei ihre Kinderlosigkeit. Obwohl ihre Ehe schon seit einigen Jahren bestehe, sei sie noch kein einziges Mal schwanger geworden, was bei den Russen für Mann und Frau als Schande gelte. Diese vertrauliche Enthüllung wurde durch Gesten und Mienen begleitet, die dem lernbegierigen Handwerksburschen verrieten, dass die lebensprühende und leider immer noch fruchtlose bessere Ehehälfte dem Versuch nicht abgeneigt sei, vielleicht mit seiner Beihilfe von den kränkenden Vorwürfen befreit zu werden.

Georg war ein strammer Bursche, allzeit bereit, einer appetitlichen und unter solchen Nöten leidenden Frau beizuspringen und sich den Wünschen einer jungen, verheirateten Frau zu beugen. Mehr als einmal hatte sie ihm seine Freundlichkeit vergolten, und nicht nur mit zärtlichem Augenaufschlag, sondern auch indem sie ihm bald dieses, bald jenes heimlich zusteckte, wie etwa Backwerk, das er so sehr liebte. Besonders schmeckten ihm die Bliny gorjatschij, die heißen Pfannkuchen, die mit Butter gebacken wurden, sowie die Pirogi gorjatschij, eine Pastetenart mit allerlei Leckereien gefüllt. Während sie so seinen Magen stopfte, schonte sie seinen Geldbeutel, was ihn desto mehr verpflichtete, es ihr auf die gewünschte Art zu vergüten.

Wenn sie allein waren, was leider nur selten geschah, da immer jemand sie argusäugig bewachte, scherzte die Wirtin mit ihrem auserkorenen Schlafburschen und verdeutlichte, was ihm bei seinen unzulänglichen Sprachkenntnisse von ihrer Unterhaltung verlorenging, durch vielsagende Blicke. Schon war er sicher, in ihrer Gesellschaft nicht länger ein keuscher Josef zu bleiben, als ein Donnerwetter gerade in jenem Augenblick über sie hereinbrach, in dem ihr Umgang vertrauter zu werden begann.

 

Ausgelassen schäkerten sie wieder einmal miteinander, und da sie niemanden in der Stube bemerkten, wurde er kühner, neckte sie und versuchte sie an sich zu ziehen, was sie lächelnd abwehrte. Das Essen werde nicht fertig, wenn er sie hindere, den Kohl zu schneiden, sagte sie, schüttelte ihn ab, drohte ihm mit dem Finger und gab ihm sogar einen Klaps auf die Wange, der ihn jedoch mehr ermunterte als abschreckte. Um sich zu rächen, raubte er ihr einen Kuss, was sie widerstandslos erduldete und sogar je länger, desto hingebungsvoller genoss. Schon schmolz sie in seinen Armen dahin, als urplötzlich vom Ofen herab das Gekreisch einer Furie die beiden wie ein Sturmwind auseinandertrieb. Aufgeschreckt aus dem süßesten Traum fiel dem so jäh verhinderten Eroberer die Schwägerin seiner Angebeteten ins Auge. Von ihnen unbemerkt hatte sie auf dem warmen Ofen geschlafen, der gleich einem Backofen gebaut war und auf der oberen Fläche Schlafplätze für drei Personen bot. Zum Unglück der Verliebten war das Mädchen, das immer noch ohne Bettschatz auskommen musste, ausgerechnet jetzt aufgewacht und geiferte, was das Zeug hielt. Solche unflätigen Anschuldigungen konnte die Ertappte natürlich nicht stillschweigend über sich ergehen lassen und verteidigte sich damit, dass sie alle Schuld auf den Wüstling ablud, der ihrer Tugend zu Leibe gerückt sei. Sie spielte ihre Rolle so überzeugend, dass die Schwägerin nun über den Lüstling Gift und Galle spie und ihm sogar ins Gesicht spuckte, was er jedoch geduldig als Märtyrer der Liebe ertrug. Erst als der Speiteufel kein Ende für die Gardinenpredigt fand, trat er den Rückzug ins Freie an.

In der Erwartung eines zweiten Donnerwetters sah Georg der Heimkehr des Ehemannes besorgt entgegen. Die Schwester des Hausherrn, die den Handwerksburschen ohnehin aus dem Herzen verbannt hatte, weil er ihr weniger Aufmerksamkeit widmete als ihrer schönen Schwägerin, lag die ganze Zeit auf der Lauer, um den so schändlich Hintergangenen mit ihrer Darstellung über den Anschlag auf sein Eheweib aufzustacheln. Aufgebracht stürzte er in die Hütte und schoss seine Blicke wie Pfeile auf das Bürschchen ab, das es gewagt hatte, sich an seiner Frau zu vergreifen. Noch kam keine Silbe über seine Lippen, doch als Georg nach einer Weile hinausging, um „die Kartoffeln abzugießen“, folgte ihm der Bauer auf dem Fuß, pflanzte sich neben ihn, rülpste wodkadurchtränkt und polterte einige Worte heraus, während er wie im Wettstreit mit dem Nebenbuhler in hohem Bogen in den Schnee pinkelte. Das einzige, was Georg aufschnappte, war das Wort Kuss, das ihn seine Herzensdame so einprägsam gelehrt hatte. Wie ein Unschuldslamm stand er da und gab vor, den anderen auch nicht im Geringsten zu verstehen, woraufhin der Fastgehörnte ihm mit einer hinreißenden Pantomime vorspielte, welche Unverschämtheiten er sich seiner Frau gegenüber erlaubt habe. Ohne aus der Rolle zu fallen, zeigte sich der Beschuldigte entrüstet, schüttelte den Kopf, rief dazu ein ums andere Mal treuherzig „nein, nein, nein“ und schlug, nicht zuletzt um die Frau vor der Eifersucht ihres Mannes zu bewahren, einige Kreuze nach russischer Sitte, die dann - o Wunder! - auch tatsächlich ihre Wirkung nicht verfehlten. Unsicher geworden, ob sich auch alles so zugetragen habe, wie seine Schwester ihm erzählt hatte, ebbte die Heftigkeit des Bauern zu ein paar Grunzlauten ab. Doch als er schon wieder auf die warme Stube zutrollte, schüttelte er noch die geballte Faust, um dem Schürzenjäger klarzumachen, was ihm blühe, falls er noch einmal im fremden Jagdrevier wildere.

Seit jenem Tag schmorte der Argwohn in der Brust des Bauern, den allein schon der Anblick des Wildschützen in Harnisch brachte. Im Bündnis mit seinen Verwandten vermasselte er dem Süßholzraspler jede Gelegenheit, mit dem liebestrunkenen Weibchen allein zu sein. Von allen Hausbewohnern - bis auf eine - angefeindet, fand Georg den Aufenthalt in der Hütte bald unerträglich und entschloss sich, das Quartier zu wechseln.

Nach kurzem Suchen fand er Unterschlupf im gleichen Haus, wo bereits einer seiner Reisegefährten wohnte. Da er nun nicht mehr unter lauter Fremden lebte, die ihn nicht verstanden, fühlte er sich in dem neuen Quartier bald wohler als zuvor. Auch brauchte er dort nicht zu befürchten, der Hafer werde ihn erneut stechen, denn die Dame des Hauses war eine mürrische Vogelscheuche, die in keinem Mannskerl auch nur die geringste Erregung weckte. Im Gegensatz zu seinen russischen Wirtsleuten, die den lieben langen Tag auf der Ofenbank hockten oder obendrauf auf der faulen Haut lagen, pflegte Georg allein oder mit seinem Stubengenossen Röpcke, einem Kaufmannsdiener aus Bremen, häufig auf und ab zu gehen, was anfangs die Verwunderung der Gastgeber erregte.

„Sucht ihr was?“, fragten sie dann. „Was ist es?“

„Nichts, nein, wir wollen uns nur ein bisschen Bewegung verschaffen, nur so zum Zeitvertreib.“

„Narren seid ihr“, bemerkten sie dann kopfschüttelnd. „Wie kann sich ein Mensch nur bewegen, wenn er ruhen kann. Man muss jede Gelegenheit dazu ausnutzen.“

Andere Völker - andere Sitten, dachte Georg. Doch mit der Zeit gewöhnte sich jeder an die unterschiedliche Lebensweise des anderen; so auch an die Gepflogenheit des Hauswirts, die seine Gäste ihm anfangs übelnahmen. Wenn er nämlich zuweilen frierend in die Stube kam, zog er ohne alle Umschweife die Hose runter und hockte sich vors Ofenloch, um sich den nackten Hintern zu wärmen, ohne sich im Geringsten darum zu kümmern, ob die Blöße nicht das Auge seiner Gäste beleidige.

Von solchen Kleinigkeiten abgesehen, kamen sie gut miteinander aus, und jeder trat für den anderen ein. Das zeigte sich besonders deutlich, als Georg eines Tages von schweren Fieberanfällen geschüttelt wurde, was ihn umso mehr beunruhigte, weil es in Panschino und den umliegenden Ortschaften weder einen Arzt noch Medizin gab. Mitleidsvoll brauten ihm seine Wirtsleute ein Heilmittel zusammen, das aus einer Art saurer Kirschen bestand, Kakadopellana genannt, die sie zerstampften und kochten. Während sie die Brühe davon dem Kranken zu trinken gaben, machten sie ihm von dem Brei Umschläge auf die Stirn, die das Fieber linderten.

Weniger vom Glück gesegnet war dagegen die Frau des Bauern, die eine tückische Krankheit niederwarf, als der Handwerksbursche schon wieder so weit hergestellt war, dass nur noch Mattigkeit ihn daran hinderte, das Lager zu verlassen. Was immer der Mann ihr als bewährtes Hausmittel verabreichte, nichts wollte helfen. Zusehends wurde die Bäuerin schwächer und verfiel so rasch, dass keine Hoffnung mehr bestand. Eiligst wurde der Pope gerufen, denn wenn alle irdischen Mittel versagen, so dachten die Angehörigen, kann vielleicht noch geistlicher Beistand Wunder wirken.

Kaum hatte der Weltgeistliche, dessen bleiches Gesicht von dem krausen Bartdickicht fast zugewachsen war, die Hütte betreten, als alle Bewohner, einschließlich des Ehemannes, die Stube verließen. Georg, der als einziger noch zurückgeblieben war, nahm an, er werde nun Zeuge einiger geistlicher Zeremonien sein. Noch nie hatte er einen Popen gesehen und noch nie einen Mann, dessen Haare über die Schultern bis tief in den Rücken hinunter wallten und sich je nach Bewegung mit dem Bartwald verwoben, der ihm bis zum Bauch reichte. Sein Oberrock mit den weiten Ärmeln stand vorn offen, und von der runden, fast ellenhohen Mütze, die seinen Kopf bedeckte, fiel hinten ein schwarzer Flor herab.