An der Wolga will ich bleiben

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Obwohl Georg völlig still auf seinem Lager liegen blieb, sah er sich in seiner Hoffnung getäuscht. Denn als sich der Pope der Kranken näherte, bemerkte er den Fremden und rief den Bauern, der mit einem anderen Mann wieder eintrat. Auf Anordnung des Popen trugen die beiden Russen den Handwerksburschen mit der Matratze in den Hof hinaus, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, ob die strenge Kälte, die das Land umklammert hielt, dem armen Kranken schaden könne. Da zu allem Unglück auch noch Röpcke ausgegangen war, blieb dem aus der geheizten Zone Verbannten nichts anderes übrig, als sich warm zu zittern, was ihm weitaus länger vorkam als die halbe Stunde, die es tatsächlich dauerte. Ihn packte schon die Angst, man habe ihn bei der Unruhe im Haus vergessen, als endlich der Bauer mit seinem Gefährten erschien und ihn wieder in die Stube trug, die von Rauch und Gestank vernebelt war, als habe der Pope darin Haare und Lumpen verbrannt, um damit bei der Bäuerin die Krankheit auszuräuchern.

Am Ende blieb alle Mühe vergebens. Die Bäuerin kam ins Grab, der Handwerksbursche dagegen wieder auf die Beine.

5

Im Allgemeinen lebten die einquartierten Kolonisten mit den Einheimischen friedlich zusammen, abgesehen von gelegentlichen Stänkereien, die hauptsächlich deshalb ausbrachen, weil einer des anderen Muttersprache kaum verstand. Solche Plänkeleien versandeten rasch, und nur ein Zwischenfall wuchs sich zu einer verbitterten Auseinandersetzung aus.

Während des Osterfestes, das in Russland Christi Auferstehung heißt, lieferten sich die beiden Nationen in Panschino ein regelrechtes Gefecht. Russen wie Deutsche wollten die Feiertage genießen und sich den Bauch vollschlagen. Auf allen Öfen drängte sich Topf an Topf, darunter fast immer einer mit Sauerkraut, einem Lieblingsgericht der Einheimischen. Einige Kolonisten pflegten zusammen mit den Russen zu essen und ihnen die Speisen zu bezahlen; andere, die von der Kochkunst der Bauern von Panschino nichts hielten, brutzelten sich selbst ihre Hausmannskost zusammen. Über diese getrennte Küchenwirtschaft zeigten sich die meisten Russen nicht erbaut, weil sie sich dadurch manchmal behindert fühlten, was dann hier und dort zu Zänkereien mit den Weibern führte.

Eines dieser Kochtopfscharmützel artete sogar zum Krieg aus. Es begann damit, dass ein Hamburger einen Topf mit Essen in den Ofen seines Wirts stellte. Da aber bereits eine Menge Töpfe darin standen, wollte der Russe keine weiteren dulden, besonders auch deshalb, weil er zu den frömmelnden Betbrüdern gehörte, die glaubten, ihre Speisen könnten durch die römisch-katholischen oder protestantischen Ketzer verunreinigt werden. Mehrmals wurde der Topf des Hamburgers von seinem Standort verwiesen, bis der unerwünschte Mitkoch ihn schließlich verärgert in den Hof hinaustrug und ein Feuer anzündete. Da aber hatte er die Rechnung ohne den Wirt gemacht, denn nicht nur sein Quartiergeber, sondern gleich alle Nachbarn ringsum stürzten herbei, schrien, wie man nur so unvorsichtig sein könne, das ganze Dorf durch eine Feuersbrunst zu vernichten, löschten die gefährlichen Flammen aus, zerschlugen den Topf, dass dem Hamburger die Scherben an den Kopf flogen, und droschen auf ihn los, bis ihm endlich die Flucht gelang. Wutschnaubend eilte er von Haus zu Haus und beschwor alle Kolonisten, die ihm zugefügte Schmach zu rächen:

„Glaubt mir, liebe Landsleute, die Sicherheit von uns allen ist gefährdet, wenn wir den Russen den heutigen Anschlag ungestraft durchgehen lassen. Das war nur die Probe für den Generalangriff, da könnt ihr Gift drauf nehmen. Heute mir, morgen dir!“

Seine Beredsamkeit gepaart mit dem Wodka, der sich bereits in einigen Hirnen eingenistet hatte, trieben die Hitzköpfe unter den Einwanderern auf die Palme.

„Denen werden wir’s zeigen!“, schrie einer und „Schlagt ihnen die Hucke voll!“ ein anderer.

Mit solchen Ausrufen putschten sie sich gegenseitig auf. Nicht nur Deutsche fühlten sich betroffen, auch einige Kolonisten aus Frankreich und der Schweiz schlossen sich dem Zug der Rächer an und rückten mit Prügeln, ja sogar mit Schießgewehren bewaffnet vor die Holzhütte, wo die Russen dem Hamburger den Osterschmaus so gründlich versalzen hatten. Die letzten Meter stürmten sie im Laufschritt heran und fielen mit der Tür ins Haus - aber der Vogel war schon mit sämtlichen Hausgenossen durch eine Hintertür ausgeflogen.

Dieser Fehlschlag erhitzte die Gemüter nur noch mehr, und da sie ihr Mütchen nicht am lebenden Objekt kühlen konnten, hielten sie sich an den leblosen Dingen schadlos, die ihnen gerade in die Quere kamen. Zuerst flogen sämtliche Töpfe aus dem Ofen zum Fenster hinaus, und dann, weil alles so schön scheppernd zerklirrte, ereilte das Küchengeschirr das gleiche Schicksal. Schon lag auch das letzte gute Stück in Trümmern, als einer der besonders vom Branntwein Benebelten sich sogar am Ofen vergreifen wollte und, nachdem er sich die Pfoten verbrannt hatte, fluchend mit einem Stuhl darauf losschlug.

„Schluss jetzt!“ rief Georg, der, angesteckt von der allgemeinen Zerstörungswut, bis dahin mitgemacht hatte. „Wir können doch nicht alles kurz und klein schlagen.“

Solche Worte verpufften genauso wirkungslos wie die anderer Besonnener. Wer weiß, wie lange sie noch ungestört von ihrem Zorn getrieben worden wären, hätten nicht die Nachbarn die Sturmglocke geläutet, was alle männlichen Dorfbewohner auf die Beine brachte. Eine Zeitlang verteidigten die Besetzer das Haus wie eine Festung, bis es schließlich den einheimischen Angreifern gelang, einzudringen und sie in eine hitzige Keilerei zu verwickeln. Mehrere Auswanderer holten sich dabei blutige Köpfe; einem wurde der Arm gebrochen, ein anderer blieb sogar wie leblos auf der Walstatt liegen. Doch auch die Dörfler hatten ihr Soll an Verletzten zu leisten, unter denen sich die Helden glücklich preisen konnten, die mit Schrammen oder Beulen davongekommen waren.

Die Übermacht der Angreifer war so erdrückend, dass die Kolonisten wahrscheinlich den Kürzeren gezogen hätten, wäre nicht das Gefecht durch einen Schuss urplötzlich beendet worden. Einer der Auswanderer, ein Franzose namens Lefèbre, der gerade seinen Rausch im Quartier ausschlief, war, aufgeschreckt durch den Heidenlärm, den bedrängten Gefährten mit geladener Flinte zu Hilfe geeilt und hatte auf einen Russen abgedrückt, der sich ihm in den Weg stellte. Der Russe fiel. Aber welches Unheil so unerwartet über das Dorf hereingebrochen war, wurde allen erst richtig klar, als Lefèbre, diesmal zum Fenster hinaus, erneut Schoss, und nun auch noch zwei Soldaten, die bis dahin gleichfalls geschlafen hatten, mit schussbereiten Gewehren heranstürmten. Der Schrecken war den Dorfbewohnern so jäh in die Glieder gefahren, dass sie, kaum hatten sie ihren verwundeten Kampfgenossen aufgehoben, Hals über Kopf die Flucht ergriffen.

Panschino bestand aus einem neuen, etwas tiefer gelegenen Teil, und dem alten Dorfkern, in dem es zu dem Zwischenfall gekommen war und wohin sich die Russen zurückzogen, nachdem sie ihren Gegnern das Feld überlassen hatten. Jede Partei hatte sich damit in einer eigenen Stellung zusammengeschart, doch keiner wusste so recht, wie es weitergehen sollte.

„Was die Lage betrifft, so sind wir im Nachteil“, sagte Lefèbre bei einer Besprechung. „Die Russen sind auf ihrer Anhöhe sicherer als wir hier unten.“

„Deshalb wird es uns nicht im Traum einfallen, sie dort anzugreifen“, meinte jemand.

„Aber wenn sie uns angreifen?“, fragte ein anderer. „Wir müssen Tag und Nacht auf der Hut sein.“

So sannen sie darüber nach, wie ein Überfall am besten abzuwehren sei, und besetzten schließlich ein Haus, das nach allen Seiten freie Sicht bot. Dort wollten sie sich verteidigen; sie verrammelten die Eingänge, luden ihre Gewehre, stellten Posten auf und erwarteten furchtlos die Rückkehr des Feindes. Bei der Pflege der Verwundeten leistete ein Barbier unter ihnen gute Dienste, obwohl es mit seiner Geschicklichkeit nicht weit her war. Immerhin holte er den Scheintoten ins Leben zurück und flickte auch den gebrochenen Arm eines anderen so gut zusammen, dass er in Kürze tatsächlich heilte, wenn auch auf Dauer gelähmt blieb. Zeitlebens behielten einige andere von der Prügelei zu Panschino Narben zurück.

6

Stunden verstrichen ohne auch nur einen einzigen Angriffsversuch. Obwohl die Kolonisten den Dorfkrieg für beendet hielten, blieben sie weiterhin wachsam. Am frühen Nachmittag näherte sich ihrem Haus ein Soldat der Begleitmannschaft, die sie seit ihrer Abfahrt von Oranienbaum sowohl bewachten als auch beschützten und nun auf die einzelnen Dörfer verteilt waren. Von den beiden, die in Panschino im Quartier lagen, war einer bei den Auswanderern geblieben; der andere, der jetzt von der Anhöhe auf sie zukam, hatte sich den fliehenden Russen angeschlossen.

„Der kommt bestimmt als Parlamentär“, vermutete Lefèbre.

„Wenn er wirklich mit uns über den Frieden verhandeln will, dann sollten wir ihn reinlassen“, meinte Kratzke. „Denn so, wie es jetzt ist, kann es nicht bleiben.“

Tatsächlich war er von den Russen als Unterhändler ausgesandt worden, wie er seinem Kameraden und den Kolonisten erklärte. Beide Soldaten gaben ihnen vollkommen Recht. „Was ihr getan habt, war genau richtig“, sagten sie übereinstimmend. „Ihr konntet überhaupt nicht anders handeln. Hättet ihr nicht auf diese Bauerntölpel gefeuert, dann hätten sie euch die Schädel eingeschlagen.“

Ob sie wirklich so dachten, wie sie redeten, bezweifelten einige. Wahrscheinlich, so argwöhnten sie, standen die beiden Soldaten wohl deshalb mehr auf der Seite der Kolonisten als auf der ihrer Landsleute, weil sie von den Fremden hin und wieder etwas zugesteckt bekamen. Wie dem auch sei, sie mussten einräumen, dass die Parteinahme für die Auswanderer die geschickteste Taktik war, die sich allmählich abkühlenden Gemüter zu besänftigen. Bald betrachteten sie die Soldaten als ihre Freunde und vertrauten ihnen, als die beiden versicherten:

 

„Wenn ihr die Bauern ungehindert in ihre Häuser zurückkehren lasst, dann sorgen wir dafür, dass sie gegen euch nichts weiter unternehmen werden. Das garantieren wir."“

Die meisten nickten zustimmend. Nur einige Angsthasen und Heißsporne rieten, die in aller Eile angelegte, kleine Festung nicht eher zu verlassen, bis der Leutnant und der Pope die Zusage der Soldaten bestätigt hätten.

„So schnell geht das leider nicht“, warf einer der Soldaten ein. „Der Leutnant wohnt in einem anderen Dorf, weit weg von hier. Erst morgen könnte er in Panschino eintreffen.“

Nach dieser Auskunft gab es lange Gesichter, die beide Soldaten nur noch eifriger in ihrem Bemühen anspornten, ihre Vermittlung anzunehmen. „Wenn jetzt kein Vertrag zustande kommt, dann müsst ihr heute Nacht aufs Schlimmste gefasst sein“, redeten sie auf die Auswanderer ein. „Verhaltet ihr euch ruhig, dann wird niemand eure Sicherheit antasten, dafür bürgen wir.“

„Ich bin dafür, den Vorschlag anzunehmen“, erklärte Georg mit Nachdruck.

Immer mehr Stimmen wurden laut, die ihm beipflichteten, darunter auch ihr Vorsteher Kratzke. Nach kurzer Beratung nahmen sie das Friedensangebot an, worauf der Unterhändler zu den Russen im Oberdorf zurückkehrte.

Das Misstrauen steckte den Einwohnern von Panschino jedoch noch tiefer in den Knochen als ihren einquartierten Gästen, denn noch immer wagte sich niemand von der sicheren Anhöhe ins Unterdorf herab. Erst gegen Abend fassten sich einige Frauen ein Herz und schlichen sich in ihre Häuser, um das brüllende Vieh zu füttern. Unter den Heimkehrern befand sich auch die junge Bäuerin, deren Techtelmechtel mit Georg der eifersüchtige Ehemann vereitelt hatte. Ihre Hütte lag in der Nähe des Hauses, in dem sich die Kolonisten verschanzt hatten. Unbewaffnet näherte sich der Handwerksbursche, reichte ihr die Hand und suchte ihr verständlich zu machen, dass sie alle nicht mehr böse mit den Einheimischen seien und ruhig in ihre Quartiere gehen würden, sobald sie das Versprechen erhielten, darin nicht mehr belästigt zu werden.

Die Erinnerung an die geplatzte Liebschaft zeigte Wirkung. Die junge Bäuerin fasste Vertrauen zu ihm, rief einige Nachbarinnen herbei und teilte ihnen mit, was sie soeben erfahren hatte. Georg sammelte gleichfalls einige Landsleute um sich, die durch ein kräftiges Ja, ein Wort, das die Russen verstanden, und durch freundliches Kopfnicken seine Ausführungen bestätigten. Zufrieden versprachen die Frauen, bei ihren Männern ein gutes Wort für die Auswanderer einzulegen, und schon bald zeigte es sich, dass sie nicht auf den Mund gefallen waren und wohl nicht nur in dieser Angelegenheit das Zepter schwangen. Angeführt von dem Soldaten kehrten die im Unterdorf wohnenden Russen mit ihren Familien in ihre verlassenen Häuser zurück.

Auch die Kolonisten gaben jetzt ihre Festung auf und bildeten einen Kreis, in den, von den Soldaten aufgefordert, alle Hausbesitzer traten, die einen Fremden beherbergten. „Schließt Frieden miteinander, versöhnt euch und vergesst, was vorgefallen ist“, redeten die Soldaten den Kampfhähnen ins Gewissen, die einen auf Deutsch, die anderen auf Russisch. Alle versprachen es und begruben die Streitaxt mit einem kräftigen Handschlag von Mann zu Mann.

„Ihr haftet der Zarin mit eurem Kopf für die Sicherheit der Fremden, die unter eurem Dach wohnen"“ beschworen die beiden Friedensstifter die Hauswirte, was diese nicht sonderlich zu beeindrucken schien, denn Petersburg war weit. Alle Auswanderer begaben sich nun in ihre Quartiere, wo sie die Nacht, gewissermaßen im Lager des Feindes, ruhig verbrachten.

Am nächsten Morgen traf der Leutnant in Panschino ein, um den Zwischenfall zu untersuchen. „Wenn sich herausstellt, dass ihr den Streit vom Zaun gebrochen habt“, drohte er den Kolonisten, „dann habt ihr mit einer Strafe zu rechnen.“

„Wen mehr Schuld trifft“, sagte Georg zu Röpcke, „dürfte wohl kaum zu entscheiden sein, wenngleich wir härter zugeschlagen haben als die Russen. Sie waren nur mit Prügeln bewaffnet, wir dagegen auch mit Gewehren.“

„Ohne Gewehre hätten sie uns fix und fertig gemacht“, warf Röpcke ein, „und im Grunde genommen ist es völlig Wurscht, ob jemand durch einen Prügel oder durch einen Schuss zum Krüppel geworden ist, und davon gibt es auf beiden Seiten genug.“

„Aber keinen von uns hat es so arg erwischt wie den Russen, auf den der Franzose geschossen hat.“

Der arme Teufel war schlimm zugerichtet, wie alle betreten sahen, als der Leutnant ihn auf einem Karren holen ließ. Da Lefèbre eine Schrotflinte auf ihn abgefeuert hatte, war der Getroffene an mehreren Stellen verwundet worden. Ein Teil der Unterlippe war weggeschossen, und die Brust, in der die meisten Bleikörner steckten, entsetzlich geschwollen. Die Dorfbewohner hatten den ledigen Mann, der allein in einer ärmlichen Hütte lebte, bisher in einem anderen Haus verborgen gehalten, und da niemand von ihnen wusste, wie man Schusswunden behandelt, hatten sie ihm einfach ein schmutziges Laken auf die offene Brust gelegt und seine Schmerzen mit Wodka ertränkt. Über Nacht hatte sich sein Zustand hoffnungslos verschlechtert und der Transport auf dem holprigen Karren zu dem Platz, wo der Leutnant die Untersuchung führte, ihm nun noch den Rest gegeben. Bar aller Vernunft versuchte der Offizier aus dem Mund des Todkranken zu erfahren, ob er unter den Anwesenden den Täter erkenne, erhielt als Antwort aber nur ein Krächzen und Lallen so unverständlich, dass er ihn aufforderte, wenigstens mit dem Finger auf den Schützen zu zeigen. Tatsächlich hob der Schwerverwundete auch die rechte Hand, ohne dabei die geschlossenen Augen öffnen zu können, fuchtelte schlaff hin und her und ließ sie dann bleischwer auf den Leib fallen.

Bei diesem erbarmungswürdigen Anblick brach der Zwist erneut aus, und einige Russen, die Zeugen des Vorfalls gewesen waren, packten Lefèbre und stießen ihn unter Flüchen und Verwünschungen vor den Leutnant. „Der war es!“, schrien sie. „Wir haben es genau gesehen.“

Der Franzose widersetzte sich mit aller Kraft, schlug um sich und schwor Stein und Bein, nichts zu wissen und nur in die Luft geschossen zu haben. Vergeblich versuchten einige Kolonisten ihn in Schutz zu nehmen, es half alles nichts. Die Russen, auch jene, die nichts gesehen hatten, bezichtigten Lefèbre und schmetterten alle anderen nieder. „Mörder“, schrien sie, „Mörder“, drängten den Franzosen zu dem Karren und zwangen ihn dort vor seinem Opfer auf die Knie, damit er sich schuldig bekenne und Abbitte leiste. Erst jetzt gewahrte die aufgebrachte Menge, was sich inzwischen unbemerkt ereignet hatte: Der Verwundete war gestorben.

Die Reue nutzte dem Franzosen nichts. Der Pöbel forderte Rache. Das Urteil war rasch gefällt. Lefèbre wurde des Mordes für schuldig befunden und sollte mit der Knute gezüchtigt werden, eine Strafe, die, so begründete der Leutnant, künftig jeden abschrecken werde, auf friedliche Menschen zu schießen.

„Er ist angegriffen worden“, warf Georg ein, „jedenfalls glaubte er das.“

„Und absichtlich hat er den Mann auch nicht getötet“, rief Orner.

„Es war Notwehr“, versicherte ein anderer, „ein Unglücksschuss.“

Sie hofften, das Strafmaß für den Franzosen mildern zu können, der sie selbst durch sein Eingreifen vor dem Schlimmsten bewahrt hatte. Doch der Leutnant ließ sich durch die vereinigten Bitten nicht erweichen.

Vor Angst quollen dem Verurteilten die Augen aus dem Kopf, als die Soldaten und ein paar Rohlinge ihn packten und ihm das Hemd vom Leib rissen. Einer aus der Begleitmannschaft des Leutnants hielt schon eine Knute in der Hand, niemand wusste woher, und die Züchtigung wäre auch auf der Stelle vollzogen worden, wenn nicht die Verwegensten unter den Kolonisten vorgeprescht wären und geschworen hätten, ihren Retter mit ihrem Leben zu verteidigen und jeden niederzuhauen, der sich an ihm vergriffe.

Diese Entschlossenheit stimmte den Leutnant nachdenklich. Der Aufstand auf dem Schiff gegen ihn und seine Mannschaft war ihm noch frisch in Erinnerung, weshalb er es zu gewagt fand, die Kolonisten aufs äußerste zu reizen. Wie damals hielt er es auch jetzt für ratsamer nachzugeben und milderte das Urteil ab: Solange die Auswanderer in Panschino im Winterquartier lägen, sollte Lefèbre in Haft bleiben. Mit dieser Entscheidung erklärten sich seine Gefährten umso eher einverstanden, weil er dadurch vor einem Racheakt der Russen geschützt war.

Von Saratow in die Wildnis
1

Dem Schein nach war die Ruhe zwischen Einheimischen und Fremden wiederhergestellt und dennoch das frühere Vertrauen auf beiden Seiten verschwunden, was alle den Tag der Abreise herbeisehnen ließ. Einige Männer und Eltern wünschten noch aus einem anderen Grund den Abzug der Fremden, da sich unter ihnen zahlreiche Junggesellen befanden, die sich die Augen nach russischen Frauen und Mädchen aus dem Kopf sahen und jede Gelegenheit nutzten, ihnen nachzusteigen. Bei der tödlichen Langeweile erweckte dieser Zeitvertreib bei so manchem wieder aufs angenehmste die Lebensgeister.

Panschino bot allerdings auch noch eine andere Möglichkeit, die Zeit totzuschlagen, wenngleich diese Unterhaltung nicht nach jedermanns Geschmack und Geldbeutel war trotz aller Mühe, die sich Maas, der Exbordellbesitzer gab, jeden wunschgemäß zu bedienen. Schon bei seinem fluchtartigen Aufbruch aus Hamburg musste dieser durchtriebene Geschäftsmann einen Plan ausgeheckt haben, aus der langen Fahrt zur Wolga Kapital zu schlagen. Denn kaum in Panschino angekommen, zauberte er aus einem Packfass mit allerlei Hausrat Zucker und Kaffee hervor, mietete ein Haus von einer Witwe und richtete es als Kaffeestube ein. Zwar war die rauchgeschwärzte Bude nicht gerade ein Schmuckkästchen und auch als Etablissement für diskrete Lustbarkeiten nicht bestens geeignet, wurde aber dennoch von vielen Deutschen und manchen Russen besucht und für den unternehmungslustigen Maas zur Goldgrube. Besonders seine Kameliendamen, die leichtgeschürzt und tiefen Einblick gewährend servierten, lockten die Kunden an wie das Licht die Motten. Kurz, das Glück, das Maas und seine Venuspriesterinnen an der Elbe so schnöde die kalte Schulter gezeigt hatte, blühte in der Steppe wieder auf. Lotterbuben, die nicht wählerisch waren, kamen hier auf ihre Kosten; zartere Seelen dagegen beschränkten sich einzig auf ein Tässchen Kaffee und suchten von den russischen Mädchen und Frauen das zu erlangen, was sie von deren deutschen Geschlechtsgenossinnen nicht annehmen wollten, so dienstwillig es ihnen auch angeboten wurde. Die russischen Männer mussten daher stets auf der Hut sein, keine Hörner aufgesetzt zu bekommen. Aber auch die Russinnen hatten allen Grund zur Eifersucht, wenn sie dahinterkamen, dass ihre Ehemänner oder Liebhaber zu Maas schlichen und dort nicht nur Kaffee tranken, der den Bauern so wenig schmeckte wie einem Säufer Wasser. Sosehr die Einheimischen auch mit den Ausländern ihren Reibach machten, so sehr hatte der Einbruch dieser fremden Welt in ihr abgeschirmtes Dorfleben seine Schattenseiten.

Gegen Pfingsten, als nur noch wenige Eisschollen auf der Wolga trieben, machte die Nachricht die Runde, die Auswanderer sollten sich reisefertig halten, in Kürze hätten die Matrosen die Winterschäden an den Schiffen ausgebessert. Diese Freudenbotschaft ließ die Kolonisten nach den langen, düsteren Monaten in den elenden Quartieren aufleben. Zwar waren die meisten in ihrer alten Heimat auch nicht auf Rosen gebettet gewesen, aber dass Menschen in der Wohnstube mit Hühnern, Gänsen, Schweinen, Schafen und Ziegen unter einem Dach hausten, hatten sie erst in Panschino und den Nachbardörfern kennengelernt. Sosehr der beißende Stallgeruch sie auch an die frische Luft trieb, so sehr zwang die Eiseskälte sie, im Warmen zu bleiben. Nur wenn am Morgen die Öfen geheizt wurden und es im Innern der Behausung vor Gestank, Rauch, Ruß und Dampf nicht mehr auszuhalten war, mussten sie sich wohl oder übel ins Freie retten, denn eine Abzugsluke gab es nicht, und nie wurde ein Fenster geöffnet.

Von den Einnahmen, die Maas, der gewiefte Kaffee- und Freudenhausbesitzer, den Winter über in Panschino gescheffelt hatte, ließ er einen Großteil in die Taschen der Bauern zurückfließen. Kaufmann durch und durch handelte er ihnen acht Pferde ab, die er in Saratow mit sattem Gewinn wieder zu versilbern gedachte.

 

„Sie, junger Mann“, sprach er eines Abends Georg an, „wollen Sie nicht mit uns nach Saratow reisen?“

„Da fahren wir doch alle hin.“

„Ja, mit dem Schiff, aber ich meine auf dem Landweg. Die Pferde kann ich leider nicht an Bord unterbringen. Deshalb habe ich die Erlaubnis erhalten, mit meiner geliebten Familie“, er lächelte vieldeutig, „im Wagen zu fahren.“

Er machte ein paar Schritte auf die Pferde zu, die vor seiner Bude angepflockt waren. Mehr als sonst zog er dabei sein linkes Bein nach, ein Übel, das ihn schon lange plagte. Überhaupt kränkelte er in letzter Zeit zusehends. Maas schlug dem erstbesten Pferd, einem braunen Hengst, auf die Kruppe. „Können Sie reiten?“

„Natürlich, das habe ich schon als kleiner Junge bei meinem Großvater gelernt.“

„Dann nehmen Sie den Hengst hier und begleiten Sie uns.“

„Warum gerade ich?“

„Sie sind ein gut aussehender Bursche“, schmeichelte Maas. „Was meinen Sie, was das auf die Weiber Eindruck macht, Sie hoch zu Ross. Bei denen sind Sie im Nu Hahn im Korb“, fügte er vielversprechend hinzu, verschwieg aber wohlweislich, dass bisher alle Männer seine Einladung abgelehnt hatten, da die Pferde noch wenig zugeritten und ungesattelt waren. „Ehrlich gesagt, ich wünsche mir unterwegs männliche Gesellschaft, und die Mädels auch. Bei der Landreise sind wir ganz unabhängig von den Russen und Vorstehern. Wir können anhalten, wann und wo es uns beliebt, überhaupt die Strecke wählen, die uns passt. Zu Lande ist es bestimmt unterhaltsamer als auf der Wolga, wo man nach allen Seiten nichts anderes sieht als Wasser.“

„Ja, auf dem Schiff ist es auf Dauer langweilig.“

„Dann kommen Sie also mit?“

„Wenn der Leutnant es mir erlaubt.“

„Kein Problem, ich habe ihm ein Fässchen mit Geld übergeben als Bürgschaft dafür, dass ich auch wirklich nach Saratow fahre.“

Maas behielt Recht, der Leutnant gab seine Einwilligung, und am gleichen Tag, an dem sich die übrigen Kolonisten einschifften, trat Georg die Weiterreise zu Lande an. Als Kutscher hatte Maas einen Bauern aus Panschino verpflichtet, der zügig drauflosfuhr und mit seiner rauchigen Bassstimme lustige Lieder sang, immer wieder von neuem, sobald sein Repertoire erschöpft war. Georg, der am ersten Tag mühelos neben dem Sattelpferd hertrabte, hatte seine Freude an dem fröhlichen Fuhrmann und unterbrach ihn nur gelegentlich, wenn er ihn dieses oder jenes fragte, was am Wegrand seine Neugier geweckt hatte.

Manchmal gebot ihm auch Maas durch eine Handbewegung, eine schöpferische Pause einzulegen, da es nun ihn und seine Elbsirenen in den Kehlen kitzelte, ihre Sangeskunst zum Besten zu geben. Was sie dabei durch den russischen Äther jagten, waren Lieder, die sich, wie sich leicht denken lässt, immer nur um das eine Thema drehten, weil ihnen darin sozusagen niemand das Wasser reichen konnte. Bei zwei Chordamen befanden sich die Stimmbänder noch in recht gutem Zustand, bei zwei weiteren dagegen klangen sie angekratzt. Jene trillerten wie eine Lerche in höchsten Tönen, diese trällerten ein paar Stufen tiefer, und wenn der Wandergeselle hoch zu Ross noch seinen Tenor beisteuerte und der vormalige Kaffeefreudenhausbesitzer mit seinen Bassgrunzern die Harmonie würzte, fiel der Gesang für Steppensphären nicht übel aus, was auch der Russe auf dem Kutschbock fand, der nicht nur beifällig lächelte, sondern bisweilen die Melodie richtig und ausdrucksstark mitbrummte. So vergnüglich wäre die Schiffsreise auf der Wolga sicherlich nicht verlaufen, wie sich Georg eingestehen musste, und auch für das leibliche Wohl war bestens gesorgt, da eine der Elbtöchter sich die Lebensweisheit zu eigen gemacht hatte, dass Liebe durch den Magen geht.

Trotz aller Annehmlichkeiten hatte die Reise zu Lande für Georg aber auch ihre unbehaglichen Seiten an der Stelle, die ein wackerer Reitersmann unbedingt zum Sitzen braucht. Gewohnt auf Schusters Rappen durch die Welt zu ziehen, hatte er spätestens nach dem zweiten Tag das Gefühl, nicht auf einem ungesattelten Pferderücken zu sitzen, sondern auf einem Reibeisen, auf dem ihn der Hengst, boshaft wie er war, unentwegt hin und her rutschen ließ. Neidisch musste er mit ansehen, wie Maas von seinem Damenflor umgeben, genüsslich durch die Gegend schaukelte, während er wundgescheuert nebenher trabte und still, aber ausdrucksvoll in sich hineinächzte.

„Setz dich doch mal anders rum!“, spöttelte bald die eine, und die andere meinte, bei Wickelkindern sei das gang und gäbe, sie habe leider keinen Wundpuder dabei, sonst würde sie ihm das Wehwehchen damit gern bestreuen.

Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen, dachte er und biss die Zähne zusammen. Mehr als einmal bereute er, dass er sich zur Mitreise hatte beschwatzen lassen. Erst als er nach dem qualvollen Höllenritt die Umrisse von Saratow erspähte, fühlte er sich seelisch erleichtert, wenngleich noch einige Tage verstrichen, ehe er auch weiter abwärts nichts mehr spürte.