An der Wolga will ich bleiben

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2

Erst eine Woche später legten die Schiffe mit den übrigen Auswanderern in Saratow an der Wolga an, einer kleinen Handelsstadt mit immer noch dörflichem Charakter. Georg hatte bereits im Hafen auf ihre Ankunft gewartet und begrüßte seine alten Gefährten.

„Wie ist die Lage?“, wollte Möhring von ihm wissen.

„Nicht schlecht. Ich habe in der kurzen Zeit schon einige Landsleute getroffen, die sich hier niedergelassen haben. Übrigens habe ich euch früher erwartet. Hattet ihr unterwegs Schwierigkeiten?“

“Das Übliche, vier Tote, an einem Tag sogar zwei. Jeds Mal mussten wir am Ufer anlegen, um sie zu beerdigen und ein Kreuz auf ihr Grab zu setzen. Ohne diese Aufenthalte wären wir früher angekommen.“

An der langen Wartezeit in Saratow hätte das auch nichts geändert. Den größten Teil des Sommers blieben sie dort, in den Häusern der Russen einquartiert, wie vergessen liegen, ohne dass ihnen der Grund für die Verzögerung klar wurde.

Georg nutzte die Zeit, Saratow zu durchstreifen und die dort wohnenden Deutschen aufzusuchen, von denen er manchen guten Ratschlag erhielt. Seine Neugier trieb ihn auch oft in die kleinrussische Siedlung Sloboda Pokrowskaja, auf Deutsch Kosakenstadt genannt, gegenüber am linken Wolgaufer. Die furchterregende Vorstellung, die er von den Kosaken aus Deutschland mitbrachte, seitdem auch sie dort im Siebenjährigen Krieg gewütet hatten, erschienen ihm übertrieben, wenn er unter ihnen in der einzigen Kabache saß und Branntwein trank. Unter ihren Frauen gab es sogar einige, die ihm umso mehr gefielen, weil die leichte Kleidung ihre Reize andeutete.

Dagegen kam er aus dem Staunen nicht heraus, als er eines Tages durch die Kosakenstadt eine Horde Kalmücken ziehen sah, die auf ihren Wagen runde Filzzelte, sogenannte Jurten, geladen hatten und große Herden von Kamelen, Pferden und Schafen vor sich hertrieben. Gern hätte er Näheres über dieses westmongolische Volk erfahren, das sich um die Wende vom sechzehnten zum siebzehnten Jahrhundert in den Kämpfen um die Vereinigung der vier Oiratstämme, die das Dsungarenreich bildeten, nach Westen abgesetzt hatten und unter Zuzug weiterer Gruppen allmählich in das Gebiet der unteren Wolga wanderten, wo sie im Raum Saratow-Zarizyn als Nomaden lebten.

Mehrere Wochen hatten die Kolonisten bereits in Saratow zugebracht, ehe sie endlich in die Gouvernementsbehörde beschieden wurden, die der Petersburger Tutelkanzlei unterstand und alle Angelegenheiten der Einwanderer regelte. Ihr Präsident, ein geborener Russe im Rang eines Brigadiers, sprach fließend Deutsch, ohne jedoch ein Freund der Deutschen zu sein. Seine rechte Hand waren zwei Deutsche, die, obwohl Zivilisten, den Dienstgrad eines Majors besaßen, da nach der Rangtabelle Peters des Großen Hof-, Militär- und Zivilränge einander entsprachen. Außerdem waren in der Abteilung noch zahlreiche Schreiber und Kopisten, alles Deutsche, beschäftigt sowie in den angrenzenden Amtsräumen Russen, die alle Verhandlungen und Anordnungen in die Landessprache übersetzten. Die unentbehrlichste Person unter allen Dolmetschern jedoch war ein Schwede, Nieberg mit Namen, der Russisch und Deutsch wie seine Muttersprache beherrschte - nicht aber sich selbst. Als Saufbold aller Klassen berüchtigt, nutzte er jede Gelegenheit, in die nächstbeste Spelunke zu entwischen und sich solche Mengen an Branntwein durch die Gurgel zu jagen, bis die Kneipe schwankte wie ein Schiff im Sturm und er bei diesem hohen Wellengang nur mühsam hinaus und ins Amt hinein taumeln konnte. Wenn nun in der Behörde viel zu tun war und man glaubte, nicht ohne ihn auszukommen, wurde er kurzerhand an seinem Schreibtisch angekettet - so rau waren dort die Sitten.

Immerhin blieb er davon verschont, mit der Pletka, einer kleinen Peitsche, die Hucke vollgehauen zu kriegen, wie gelegentlich so mancher Schreiber, darunter auch ein Österreicher, den Georg seit Wochen kannte. Nach der Züchtigung, er wusste nicht warum, hatte er sich in der Nachbarschaft den blutigen Rücken waschen lassen und eine flammende Lobrede auf sein Vaterland gehalten, wo man anständige Leute nicht prügele.

In der Gouvernementsbehörde wurde jedem Einwanderer ohne Unterschied ein Vorschuss von hundertfünfzig Rubeln ausgezahlt, jedoch nicht in Scheinen, sondern in Kupfermünzen. Das war ein solcher Haufen Metall, dass man ihn kaum schleppen konnte. „Müssten wir jetzt gleich zu unserem Siedlungsgebiet aufbrechen“, hieß es unter den Kolonisten, „dann bräuchte jeder von uns einen Wagen, nur um seinen Reichtum fortzuschaffen.“ In die Verlegenheit aber kamen sie erst gar nicht, da sie noch einige Wochen in Saratow blieben, wo so mancher seine Kupferlast in den Kabachen erleichterte. Dabei waren ihm einheimische Schnorrer gern behilflich, die sich freundlich gaben, solange sie freigehalten wurden. Schlimmer jedoch waren die Schmarotzer, die den Fremden durch krumme Spiele das Geld abluchsten, ganz zu schweigen von den Langfingern, die einem benebelten Zecher flink in die Tasche griffen.

Ein Vorfall machte die Runde, bei dem Götz, ein guter Bekannter aus Orners Heimatdorf, aufs Kreuz gelegt wurde. Als er eines Tages das Quartier wechselte und dabei einen mit Kopeken gefüllten Sack über die Straße trug, schnitt ihm ein Gauner im Vorübergehen ein Loch hinein. Verdutzt blieb Götz stehen, als so unerwartet die Münzen aus dem Sack sprudelten, bückte sich dann aber rasch, um sie vom Boden aufzulesen, wobei ihm der Russe hilfreich beisprang und sich dann, als der Gelackmeierte endlich den Braten roch, mit seiner Beute eiligst aus dem Staub machte. Ein gutes Dutzend Zuschauer hatte ihn nicht nur an seinem Treiben gehindert, die Leute lachten auch noch über den dreisten Einfall.

„Haltet den Dieb!“, schrie Götz hinter ihm her. „Verfluchter Mistkerl! Haltet den Dieb! Der Teufel soll dich holen!“

Doch niemand griff ein. „Was willst du?“, meinte ein Russe zu dem Hessen. „Er hat nichts Unrechtes getan.“

„Er hat mein Geld gestohlen.“

„Du meinst wohl das Geld der Zarin, und die hat es von uns. Was sie euch gibt, ist ohnehin so gut wie weggeworfen, also kann es sich jeder nehmen.“

3

Da die Einwanderer täglich mit dem Aufbruch zu ihrem Siedlungsgebiet rechneten, trafen sie ihre Vorkehrungen, ausgenommen die wenigen, die in Saratow bleiben wollten. Zu ihnen gehörte auch Maas, ein gelernter Tischler und Instrumentenmacher, wie sich jetzt zum Erstaunen seiner Mitreisenden herausstellte.

„Ich habe in Panschino genug Geld gemacht und die Pferde gut verkauft“, erklärte er jedem, der es wissen wollte. „Zusammen mit dem Vorschuss von mir und meiner Frau reicht das dicke, hier mein altes Handwerk wieder zu betreiben.“

„Sie haben eine Frau?“, wunderte sich Georg. „Auf der Fahrt habe ich davon nichts bemerkt. Eines von den Mädchen?“

„Was Besseres. Ein hübsches Ding mit allem, was man sich nur wünschen kann. Vor einem Jahr ist sie mit ihrem Mann vom Rheinland gekommen.“

„Was sagt denn der dazu?“

„Der hat nichts mehr zu sagen. Sie ist Witwe.“

„Und die Mädchen?“

„Tun das, was alle Mädchen tun: sich einen Mann suchen. Junggesellen gibt’s ja genug unter uns. So einem Bauerntölpel gehen die Augen über, wenn er zu einer Meisterin der Liebe unter die Bettdecke schlüpfen kann. Zwei haben schon einen gefunden und sind zu ihm aufs Land gezogen.“

Gewöhnliche Tischlerarbeiten hielt Maas für unter seiner Würde. Er baute Klaviere, noch nicht mal schlechte, doch niemand kaufte sie. Die Deutschen brauchten Notwendigeres, und die Russen in Saratow blieben bei ihren Balalaikas. Diesmal hatte der gewiefte Geschäftsmann keine gute Nase gehabt, aber seine Frau half ihm über den Reinfall hinweg, ohne dass er wie einst in Hamburg dem Glücksspiel frönte oder gar die rote Laterne vors Haus hängte.

Einige Tage schwankte Georg in seinem Entschluss, ob er auch in Saratow bleiben und sich in der Weberei Arbeit suchen solle. Doch der Wunsch, das einmal begonnene Abenteuer bis zum Ende durchzustehen, trieb ihn an, mit den meisten seiner Landsleute die Stadt zu verlassen. Wenn es mir da draußen nicht gefällt, dachte er, kann ich immer noch nach Saratow zurückkehren und in der Fabrik arbeiten.

Also kaufte er sich ein Pferd, für das er zwölf Rubel hinblätterte, ein Wucherpreis, den die Russen wegen der starken Nachfrage hochgetrieben hatten, und schaffte sich auch eine Kibitka an, einen der dort üblichen leichten Wagen mit einem Verdeck aus Leinwand. Da die Strecke von rund hundert Kilometern durch einsame Gegenden führen sollte, nahm er sich einen reichlichen Vorrat an Brot und getrockneten Fischen mit sowie für sein Pferd, einen starken Fresser, einen Sack Hafer, packte seine Siebensachen und verstaute alles vorn in der Kibitka, dazu noch einen verschließbaren Kasten mit seinem Geld, von dem eine beträchtliche Summe für die Ausgaben draufgegangen war. Er selbst saß auf dem hinteren überdachten Teil des Wagens, wo er sich auch, wenn er es sich bequem machen wollte, auf einer Matratze hinlegen konnte.

Die Steppe, durch die sie auf ihrem Weg nach Südwesten zogen, erweckte nicht gerade den Eindruck, als erwarte sie am Ende das erträumte Paradies. Weit und breit gab es kein Dorf, und die wenigen verstreut hingeworfenen deutschen Kolonien, grob zusammengefügte Blockhütten, ließen die Hoffnungen auf eine bessere Zukunft noch tiefer sinken, als sie sahen, dass bei ihren Landsleuten äußerste Not herrschte und Heimweh aus ihren Blicken sprach. Da sie selbst an allem Mangel litten, hatten sie den Vorüberziehenden nur selten ein paar Eier, ein Stück Butter oder sonst etwas Essbares zu verkaufen. Argwöhnisch wachten die begleitenden Soldaten darüber, dass die Neuankömmlinge mit den Siedlern nie allein blieben. Um sich nicht verdächtig zu machen, redeten die Siedler daher auch nicht so unbefangen, wie wenn sie sich unbeobachtet gefühlt hätten. Wer sich erkundigte, wie es ihnen gehe, erhielt als Antwort:

 

„Noch fehlt so manches, aber wenn wir uns erst mal etwas besser eingerichtet haben, dürfen wir schon zufrieden sein.“

Man merkte ihren scheuen Blicken an, dass sie aus Angst vor den Soldaten gegen ihre Überzeugung sprachen. Allein schon ihre Kleidung verriet, wie heruntergekommen sie waren. Fast alle trugen Bastschuhe und einfache russische Bauerntracht, und nur hier und da bedeckte noch ein zerrissenes deutsches Hemd oder eine alte, durchlöcherte Hose aus ihrer früheren Heimat die Blöße.

Hinter der letzten deutschen Kolonie verlor sich die Karrenspur in der Steppenöde. Anfangs schien es Georg, der Leutnant und ein einheimischer Führer aus Saratow hätten sich verirrt, doch auf seine Befürchtung antworteten sie lachend:

„Die Richtung stimmt schon. Wir wissen genau, wo wir sind.“

Erloschen war jetzt auch der letzte Funke, der einige immer noch an das Land hatte glauben lassen, in dem Milch und Honig fließen. Nachdem sie noch eine Weile durch die bedrückende Wildnis gefahren waren, gelangten sie zu einem Bach, Karamysch, wie der Führer auf Russisch sagte, der in die Medwediza mündet, einem Nebenfluss des Don.

„Halt!“, rief der Leutnant. „Alles absitzen, wir sind da.“

„Aber es ist doch noch zu früh für das Nachtlager.“

„Lasst uns die Pferde tränken und dann noch ein Stück weiterziehen.“

So redeten sie erstaunt auf den Offizier ein.

„Nein, nein, ich sagte doch, wir sind da.“

„Hier sollen wir leben und arbeiten? In dieser Einöde?“ Erschrocken blickten sie einander an. Ringsum wucherte hohes, verdorrtes Gras, aus dem sich nur an einer Stelle ein Wäldchen abhob. Keiner der Einwanderer machte auch nur die geringste Andeutung, vom Wagen zu steigen. Erst als sie sahen, wie die Soldaten von ihren Pferden sprangen, merkten sie, dass der Leutnant es ernst meinte. Nachdem der erste Schreck sich ein wenig verflüchtigt hatte, drückte sich auf allen Gesichtern nur der eine Wunsch aus, sofort umzukehren. Da dies aber nicht möglich war, kletterte schließlich einer nach dem anderen von seinem Fuhrwerk herunter. In ihrer Niedergeschlagenheit vermochte sie auch nicht die Erklärung des Leutnants aufzurichten, als er ihnen verkündete:

„Alles, was ihr ringsum seht, alles Land, alles, was hier wächst und an Tieren wild lebt, erhaltet ihr von der Gnade der Zarin als Geschenk. Ich hoffe, ihr wisst das zu würdigen.“

„Was nutzt uns ein Geschenk, das keinen Wert hat“, hörte Georg hinter sich jemanden verbittert sagen. Es war Johann Orner, der mit seiner kinderreichen Familie zu dem Kolonistentrupp gehörte. „Da hatten wir es ja zu Hause noch besser.“

„Zu Hause hatten wir oft nicht das Nötigste zu essen“, erinnerte ihn seine Frau, „vergiss das nicht.“

„Verhungern können wir auch hier.“

„Wir müssen roden, pflügen, säen“, bemerkte Peter Luck.

„Und was werden wir ernten? Überhaupt etwas auf dem Boden? Du verstehst doch was davon, Peter, du bist Bauer.“

Luck zuckte mit den Achseln. „Vielleicht ist die Gegend doch nicht so unfruchtbar, wie es scheint. Aber viel Schweiß wird es uns schon kosten, bis der Boden etwas trägt.“

„Ob sich am Ende all die Mühe lohnt, steht in den Sternen“, meinte Röpcke.

Nicht die geringste Freude kam auf, im Gegenteil, Enttäuschung, ja auch Verzweiflung stand ihnen allen ins Gesicht geschrieben.

„Das also ist das Paradies, das uns die Werber verheißen haben“, sagte einer mit bitterer Miene. „Das dürre Heidegras können nicht mal Pferde fressen. Und wir? Sollen wir hier krepieren?“

„Es war töricht von uns, all die Zeit über von einem Garten Eden zu träumen“, meinte Möhring, „ausgerechnet hier in den menschenleeren Gebieten Russlands.“

Erbost wandte sich Johann Orner an den Leutnant: „Man hat uns was anderes versprochen, fruchtbares Land, Pferde, Kühe, Schafe, Ziegen, einen Wagen und Pflug, Geräte, Geschirr, ein Haus und Ställe und -“

„Für jeden von uns ein neu erbautes Haus!“

„Wo steht hier ein Haus?“

„Ja, wo sind unsere Häuser?“

Immer erregter klangen die Zwischenrufe, und immer drohender wurden die Mienen gegenüber den Soldaten, die sie in diese Wildnis geführt hatten, obwohl jene einfachen Burschen keine Schuld daran trugen. Der Leutnant, der einen Aufstand befürchtete wie auf dem Schiff, versuchte die Gemüter zu beschwichtigen:

„Ihr bekommt alles, was man euch versprochen hat.“

„Wo bleiben die Häuser?“, schrien mehrere. „Die Häuser?“

„Die Regierung hat eure Häuser bereits bei Zimmerleuten aus Saratow in Auftrag gegeben.“

„Der Winter steht vor der Tür.“

„Habt noch etwas Geduld“, mahnte der Leutnant, „sie werden bald hier sein und mit dem Bau beginnen.“

„Man hat uns schon so viel versprochen.“

„Und wird es auch halten. Manchmal verzögert sich eben das eine oder andere, das müsst ihr doch verstehn."

„Nichts als Vertröstungen!“

„Wartet ab“, redete der Leutnant weiterhin beruhigend auf sie ein. „Bis dahin solltet ihr alles tun, um die Zwischenzeit zu überbrücken.“

Ein paar Einwände wurden noch laut, doch da ihnen die Rückkehr verboten war, blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich in die widrigen Verhältnisse zu schicken. Jeder begann nun sein Lager aufzuschlagen, so wie er es für richtig hielt. Einige zogen die Verdecke aus Leinwand von ihren Fuhrwerken und bauten daraus Zelte auf; andere fügten, da es an brauchbarem Bauholz fehlte, Äste und dünne Baumstämme zu Hütten zusammen, die mit Strauchwerk und Erde bedeckt wurden. Wer sich nicht abplagen und lieber auf die Zimmerleute warten wollte, schlief nachts im Wagen und trieb sich tagsüber im Freien oder bei Bekannten herum.

Da Georg nur noch bis zum Wintereinbruch in der Wildnis bleiben wollte, um mitzuerleben, wie sich dort alles entwickelte, richtete er sich auch nicht auf Dauer ein. Solange es das spätsommerliche Wetter erlaubte, begnügte er sich mit einer ebenso leichten wie seltsamen Behausung. Er schnitt das Gras an seinem zukünftigen Lagerplatz ab, setzte das Verdeck seiner Kibitka darauf und befestigte es mit Pfählen in der Erde. Aufs Dach legte er noch eine Bastdecke, die er vor den Eingang herunterschlagen konnte. In diesen Unterschlupf passte seine Matratze gerade hinein, Platz genug, um darin zu schlafen, vor Kälte und Regen geschützt, und sein Geld sowie den Rest seiner Habseligkeiten aufzubewahren. Die Verpflegung ließ er auf dem Fuhrwerk zurück. Die getrockneten Fische hingen ihm ohnehin schon zum Hals heraus, und das Brot war inzwischen so steinhart geworden, dass man sich die Zähne daran ausbeißen konnte. Da er jedoch nichts anderes zu essen hatte, kaute er täglich missmutig darauf herum und trank dazu Wasser aus dem nahen Bach.

„Wie gut die Kalmücken es doch da vorn haben“, meinte er einmal zu Möhring und schaute auf die Filzhütten, die seit kurzem die Nomaden in der Nähe errichtet hatten. „So schmutzig es darin auch sein mag, sie wohnen immer noch besser als wir.“

Einen Lichtblick gab es jedoch. Wie sich bei näherer Untersuchung herausstellte, erwies sich die Gegend nicht als so unfruchtbar wie erst angenommen. Unter den verdorrten Büscheln verborgen, wuchs fettes Gras, das die Pferde gern fraßen. Als dann auch noch einige Kolonisten, die etwas von Landwirtschaft verstanden, bestätigten, der Boden eigne sich hervorragend für den Anbau von Getreide, machte sich nach der anfänglichen Verzagtheit wieder Hoffnung breit. Das traf aber nur auf die Bauern zu; die meisten anderen dagegen, die noch nie hinter einem Pflug gegangen waren, sahen schwarz, da sie von Tag zu Tag stärker spürten, der ungewohnten Aufgabe nicht gewachsen zu sein. Sie trösteten sich einigermaßen mit der vertraglichen Zusicherung, noch zwei Jahre lang auf Kosten der Krone leben zu können.

4

Immer wieder vergeblich auf die Zimmerleute zu warten blieb in der Anfangszeit nicht die einzige Sorge der Einwanderer, nach einigen Tagen begannen auch die Lebensmittel knapp zu werden. Um die drohende Hungersnot rechtzeitig abzuwenden, erkundigten sie sich bei den Soldaten nach dem nächsten russischen Dorf; denn von einer Kolonistensiedlung durften sie sich keine Hilfe erhoffen. Da aber die Soldaten den Weg selbst nicht genau kannten und auch der Leutnant die Lage des nächsten Ortes nur in groben Zügen angeben konnte, mussten sie auf gut Glück versuchen, es in der Steppe zu finden.

Zu sechst brachen sie eines Morgens zu Pferde auf und nahmen zum Transport der eingekauften Waren auch einen Wagen mit. Wie angegeben hielten sie sich zunächst südwärts, ritten aber nicht nebeneinander, sondern in einer weit gezogenen Linie, um so eher einen Weg aufzuspüren, der aus der Steppe zu einer Ortschaft führte. Einige Stunden suchten sie vergebens, bis sie endlich auf einen Trampelpfad stießen.

„Hier sind Menschen gegangen“, meinte Möhring.

„Und auch Tiere“, fügte Luck hinzu, auf eine Kotspur weisend.

Freudig folgten sie dem Pfad, doch ihre Hoffnung, er werde sie in ein russisches Dorf führen, schien sie zu trügen; denn die Sonne hatte schon ihren Scheitelpunkt erklommen und noch immer war kein Haus in Sicht, nicht einmal eine Weide oder ein Acker. An einer Quelle legten sie eine Rast ein, füllten Kannen und Flaschen mit Wasser und folgten dann erneut dem Pfad aus der Ebene heraus auf eine Anhöhe. Von oben erspähten sie längs eines Baches ein Tal mit Feldern, und als sie bergab ritten, tauchten die Umrisse eines Dorfes vor ihnen auf. Der Anblick versetzte sie in so ausgelassene Stimmung wie einen Seemann, der nach langer Irrfahrt vom Mastkorb aus die heiß ersehnte Küste sichtet. Beschwingt trabten sie ins Dorf hinein, bald umringt von den Einwohnern, die verwundert „Nemzy, Deutsche!“ riefen.

Georg hatte inzwischen so viel Russisch gelernt, um ihnen verständlich zu machen, was sie bei ihnen wollten. Wie die Bauern versicherten, waren ihnen die Fremden in Grjasnucha willkommen. „Bleibt heute Nacht hier und ruht euch erst mal aus“, sagten sie. „Morgen werden wir euch mit Lebensmitteln versorgen.“

Am folgenden Tag beluden die Kolonisten ihren Wagen mit Brot, Butter, Eiern, Dörrfisch sowie Frischfleisch und packten auch ein paar Krüge mit Branntwein dazu. Ohne Schwierigkeiten gelangten sie ins Lager zurück, wo die Zurückgebliebenen ihnen gleich einen Teil der Waren abkauften.

„Nehmt uns mit, wenn ihr noch mal nach Grjasnucha reitet“, baten einige. „Wir wollen uns auch bei den Russen eindecken.“

„Gern, aber vielleicht ist es überhaupt nicht nötig“, meinte Georg. „Wir haben den Russen erzählt, dass wir eine ganze Gruppe von Deutschen sind. Wir würden sie auch gut bezahlen, wenn sie uns ständig Lebensmittel lieferten.“

Schon nach einer Woche kamen die ersten Bauern von Grjasnucha ins Lager und versorgten die Fremden von da mit dem Lebensnotwendigen, allerdings zum doppelten Preis, den sie beim ersten Mal in ihrem Dorf gefordert hatten. Da deshalb die Tagegelder die Ausgaben nicht mehr deckten, mussten selbst die Sparsamsten den Fehlbetrag vom Vorschuss nehmen, der eigentlich für einen anderen Zweck bestimmt war, bald aber noch mehr zusammenschmolz, als unvorhergesehene Umstände eintraten.

Gleich bei ihrem ersten Besuch hatten sich die Russen über die Elendsquartiere der Einwanderer gewundert: „Darin wollt ihr den Winter über wohnen? Unmöglich!“

„Täglich erwarten wir die Zimmerleute, die uns feste Häuser bauen sollen.“

Die Bauern lächelten vielsagend, sie kannten die russischen Verhältnisse besser. Als sie eine Woche später erneut Lebensmittel brachten, waren die Nächte bereits so kalt, dass Georg unter seinem Wagenverdeck fror, und selbst jene, die sich aus Ästen und Strauchwerk festere Hütten errichtet hatten, klagten über den Frost.

„Ihr müsst Semljanki bauen“, rieten ihnen die Russen, „sonst erfriert ihr hier alle.“

Semljanki? Was ist das?“

„Wohnungen in der Erde.“

„Wie baut man die? Bei uns kennt man so was nicht.“

„Wir zeigen es euch. Fünfzehn bis zwanzig Rubel für jede Semljanka, je nach Größe, für drei bis vier Familien.“

Die Kolonisten berieten sich. Was die Russen forderten, war viel Geld, aber sie mussten sich zu dieser Ausgabe entschließen, weil die Zimmerleute nicht kamen.

 

„Selbst wenn sie morgen hier wären, würden sie mit ihrer Arbeit vor dem Wintereinbruch kaum fertig werden“, gab Johann Orner zu bedenken. „Und wie streng der Winter in Russland ist, haben wir ja schon am eigenen Leib erfahren.“

„Aber das Geld brauchen wir doch für andere Dinge.“

„Wir sollten mit den Bauern handeln“, schlug Kratzke vor. Doch damit rannten sie sich bei den Russen den Schädel ein: Keine Kopeke weniger, oder sie sollten sich selbst ihre Erdhütten bauen.

„Wenn jeweils einige von uns den verlangten Betrag zusammenlegen“, hieß es am Ende, „dann fällt es jedem leichter.“ So bildeten sich schließlich kleine Gruppen, die für sich eine gemeinsame Erdhütte bauen ließen und den Russen dabei tüchtig halfen. Es gab aber auch andere, die in den ersten Tagen alles abschauten und sich dann selbst an die Arbeit machten.

Auf einer Fläche von ungefähr fünfundzwanzig Quadratmetern wurden drei Meter tiefe Löcher in die Erde gegraben. Obendrauf legten sie ein Sparrendach aus Ästen und Latten, mit Tannenreisig durchflochten und dann mit einem Teil der ausgehobenen Erde bedeckt, und ließen mittendrin eine verschließbare Öffnung frei, damit der Rauch abziehen konnte. Seitlich am Dach befanden sich ebenerdig zwei Fensterhöhlen, vor die, da es kein Glas gab, Schafblasen gespannt wurden, damit wenigstens ein wenig schummeriges Tageslicht in die Gruft fiel. Durch die kleine Tür, eher einem Loch gleich, musste man mehr kriechen als gehen und dann auf einer schräg abwärts laufenden Rampe bis auf den Boden dieses menschlichen Maulwurfsbaus hinabrutschen. Die Feuerstelle in der Mitte diente zum Heizen und Kochen.

Weder war Georg Teilhaber einer Erdhütte geworden, noch hatte er sich selbst „sein Grab geschaufelt“, wie er es scherzhaft nannte. Ihm graute davor, in solch einer Jammerhöhle die langen Wintermonate zu hausen, und er überlegte, wie und wo er die Zeit menschenwürdiger zubringen könne, worin er noch bestärkt wurde, sobald er die erste Semljanka von innen besichtigte. Es war noch schlimmer, als er befürchtet hatte. Das Dämmerlicht, das durch die Fenster eindrang, wurde vom Rauch verschluckt, der nur träge durch die Dachöffnung abzog.

„Was wird erst, wenn es stürmt und schneit?“, fragte er einen Russen.

„Dann muss man die Öffnung schließen“, lautete die Antwort. „Besser im Rauch ersticken als in der Kälte erfrieren.“

„Und wenn die Fenster verweht sind?“ Er erinnerte sich an die Schneestürme, die er in Panschino miterlebt hatte. „Und dazu noch der Eingang von den Schneemassen zugeschüttet ist?“

Der Russe lachte und deutete auf die Rauchöffnung. „Wer raus will, der kommt schon raus.“

Noch in der nächsten Woche wandte sich Georg an Kratzke, der vom Leutnant zum Vorsteher bestellt worden war, nachdem der Offizier mit seinen Soldaten im fünfzehn Kilometer entfernten Grjasnucha Quartier bezogen hatte.

„Was soll ich hier den Winter über?“, begann er. „Auf der faulen Haut rumliegen und vor die Hunde gehen?“

„So schnell geht hier keiner unter. Es sind Frauen und Kinder unter uns, die auch aushalten müssen.“

„Ich bin alleinstehend und möchte gern den Winter über nach Saratow gehen und mir in der Weberei Arbeit suchen.“

„Suchen und finden ist zweierlei.“

„Notfalls kann ich auch ohne zusätzlichen Lohn dort leben, denn ob ich meine Tagegelder in Saratow ausgebe oder in der Wildnis, ist doch wohl einerlei. Hier ist den Winter über sowieso nichts Nützliches zu tun.“

Kratzke überlegte. „Hm, wenn der Leutnant nichts dagegen hat...“

„Sie sind jetzt der Vorsteher, und Saratow ist nicht aus der Welt. Es ist doch nur den Winter über.“

Schließlich willigte Kratzke ein. „Wann wollen Sie abreisen?“

„Übermorgen.“

Die Zeit bis dahin nutzte Georg, sich von den Schicksalsgefährten zu verabschieden, mit denen er sich besonders verbunden fühlte. Möhring gehörte dazu, der „Studiosus“ aus Büdingen; Röpcke, der ihn in Panschino während seiner Krankheit so fürsorglich gepflegt hatte; Peter Luck, der Deserteur, der bei der Familie Orner Unterschlupf gefunden hatte, überhaupt alle Angehörigen des ehemaligen Köhlers, allen voran Hildegard, die älteste Tochter.

„Schade“, bedauerte sie, „dass du uns verlässt.“

„Es ist ja nicht für immer.“

„Du warst stets einer von denen, die nicht alles einfach hingenommen haben. Ich denke zum Beispiel daran, wie du uns Lebensmittel besorgt hast, damals auf der Wolga und jetzt hier.“

„Wenn nicht ich, dann hätte es ein anderer getan.“

„Leute wie dich brauchen wir hier. Du wirst uns fehlen.“

Er sah sie lächelnd an. „Auch dir?“

Sie wurde leicht verlegen, hielt aber seinem Blick stand. „Ich weiß, dass du ein Schürzenjäger bist.“

„Woher?“

„Dir muss erst mal die Richtige über den Weg laufen, dann gibt sich das von selbst.“ Sie schaute ihn dabei schelmisch an, so offen hatte er sie noch nie sprechen gehört.

Er nahm ihre Hand. „Wenn ich was von Ackerbau und Viehzucht verstände wie euer Peter, dann würde ich hierbleiben und mit euch eine neue Existenz aufbauen. Aber ich bin Tuchmacher, und deshalb gehe ich jetzt in die Weberei. Spätestens im Frühling sehen wir uns wieder.“

Zärtlich zog er sie an sich und küsste sie auf den Mund, doch sie hielt die Lippen verschlossen.

Sein Bündel war gepackt, als er am nächsten Morgen ein Stück bachabwärts ging, um sein Pferd zu holen, das wie alle anderen gekoppelt in der Steppe weidete. Bald erblickte er die ersten, aber sein Pferd war nicht darunter. Keines der Tiere hatte sich jemals verlaufen, bis dann, kaum hatten die Bauern von Grjasnucha mit dem Bau der Erdhütten begonnen, zuweilen des Morgens eines vermisst und auch nie trotz allen Suchens wiedergefunden wurde. Der Verdacht kam auf, die Russen hätten die Pferde gestohlen; doch beweisen ließ sich nichts. Das gleiche Unglück hatte jetzt auch Georg getroffen, und er sah sich schon die hundert Kilometer bis Saratow zu Fuß gehen, als Kratzke ihm vorschlug:

„Ich nehme Sie gern mit. Morgen fahre ich sowieso zur Gouvernementsbehörde, um die Tagegelder für uns alle abzuholen.“

Als sie bei Tagesanbruch aufbrachen, warf Georg noch einmal einen Blick aufs Lager zurück. Es erschien ihm an diesem kalten Nebelmorgen noch unwirtlicher, und die Menschen, die verschlafen aus ihren Erdhütten krochen, kamen ihm in ihrer ärmlichen halbrussischen Kleidung kaum noch wie Deutsche vor.