Fahnen und Tränen nahmen kein Ende

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Fahnen und Tränen nahmen kein Ende
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Helmut Lauschke

Fahnen und Tränen nahmen kein Ende

Erinnerungen in zehn Kurzgeschichten

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

1. Bomben auf Köln

2. Zwischenstation Damerau in Ostpreußen

3. Zwischenstation Dresden – Weißer Hirsch

4. Station Bautzen

5. Zwischenstation Berggießhübel

6. Rückkehr nach Bautzen

7. Mit Sack und Pack zurück nach Köln

8. Ein Schauspieler, der sich das eigene Bett nicht leisten kann

9. Der Professor für klassische Philosophie und alte Sprachen ist ohne Arbeit

10. Das Mädchen mit dem Knochensarkom im rechten Oberarm

Impressum neobooks

1. Bomben auf Köln

Erinnerungen

in zehn Kurzgeschichten

Die Fahne flattert uns voran,

ihr folgen wir, was auch kommen mag.

Wir marschieren und halten Wacht,

ob bei Tage, ob bei Nacht.

Das lauter werdende Brummen der Motoren der anfliegenden Bomberverbände wurde mit größter Angst und Sorge in den Luftschutzräumen verfolgt. Als die Motoren über der Stadt röhrten und dröhnten, begannen die Flakgeschütze zu rattern und holten einen Bomber, dann den zweiten vom Nachthimmel, die mit heulenden Motoren herabsausten und mit lauten Detonationen zerschellten. Es waren große Bomberverbände, die in drei Schüben die tödliche Fracht über der Stadt entluden. Das Zischen der herabfallenden Bomben und die Wucht der krachenden Einschläge gingen durch Mark und Bein der in den Kellern verängstigt Sitzenden, die ihre Stoßgebete um Verschonung gegen den Himmel, genauer gegen die dröhnenden Motoren der sich entladenden Bomber sandten. Einige Male ging das Licht im Keller aus, nachdem Bomben in der Nachbarschaft eingeschlagen hatten. Nach etwa einer halben Stunde, die eine Ewigkeit des Schreckens war, zog der letzte Bomberverband frachterleichtert ab. Die Flakgeschütze schwiegen. Die Motorengeräusche wurden leiser und verstummten, als Minuten später die Sirenen die Welle der Entwarnung heulten. Es war ein schwerer, mörderischer Angriff auf die weitgehend zertrümmerte Stadt gewesen. Die Innenstadt war bereits zu einer Geisterstadt aus Mauerruinen und Schuttbergen zerbombt. Die wenigen Häuser, die verblieben waren, hatten alle schwere Schäden abbekommen. Heinrich Kroll war noch nicht acht Jahre alt und hatte sich wie die Eltern und seine Geschwister an die nächtlichen Bombenangriffe zu gewöhnen. Der Gewöhnungsprozess mit dem Verlassen von Schlaf und Bett und dem Gang in den engen stickigen Luftschutzkeller war jedes Mal mit der Angst verbunden, ob er mit den Eltern und Geschwistern den Angriff überleben und nach dem Angriff das Bett zum Weiterschlafen noch vorfinden würde. Die Sirenen hatten sich ausgeheult, und der Strom war ausgefallen, als die Eltern mit Tachenlampen, gefolgt von Heinrich und den Geschwistern und einigen Nachbarn mit Taschenlampen den Luftschutzraum mit der schweren stickigen Luft und mit Taschen mit Dokumenten, Notproviant, Wasserflaschen, und Verbandsmaterial verließen. Die Luft im Treppenhaus war vom Mörtelstaub des rausgebrochenen Putzes durchsetzt. Größere Mörtelstücke von den Wänden lagen auf den Stufen. Die harten Einschläge und Detonationen der Sprengbomben in der nahen Nachbarschaft hatten das Haus so schwer erschüttert, dass es als ein Wunder begriffen wurde, dass das Haus noch stand. Die Nachbarn verließen das Haus und dankten für die Aufnahme im Luftschutzkeller. Zahlreiche Fensterscheiben der Wohnung im ersten Stock waren durch die Druckwellen gesprungen, andere Scheiben waren zerscherbt. Es war ein sternenklarer Himmel mit der fast runden Mondscheibe, als Heinrich aus dem Fenster des Wohnzimmers auf die Straße sah, die mit Steinbrocken und anderem Trümmerzeug übersät war. Einige Bomben hatten ihr Ziel verfehlt und tiefe Krater in die Straße nicht weit vom Haus gerissen und die Straßenbahnschienen verbogen. Die hängenden Lampen über der Straßenmitte waren bei dem Alarmheulen der Sirenen mit den gewohnten drei Wellen ausgestellt worden. Die Fenster der noch stehenden Häuser waren dunkel. Das Runterziehen der schwarzen Rollos mit Eintritt der Dunkelheit war Vorschrift. Dem, der es vergaß, drohte die Ordnungsstrafe. Die Stadt hatte verdunkelt zu sein. Auch die Lampen der in der Dunkelheit fahrenden Autos trugen eine Lichtkappe mit einem Schlitz oder waren mit einer schwarzen Folie überzogen, dass nur aus dem schmalen Schlitz das Licht nach außen drang. Einige Häuser der Straße waren eingestürzt, andere waren von Brandbomben getroffen, wo die Flammen aus Dächern, Fenstern und Türen nach außen drangen, an den Außenwänden auf und ab und zu den Seiten züngelten, die Stockwerke verzehrten und beim Niederbrennen der Häuser große schwarze Rußmarken an den Wänden setzten. Es war ausgeschlossen, dass die Feuerwehr die Brände löschen konnte. Da reichten die wenigen Löschzüge nicht aus. Auch hatte die Nippeser Feuerwehrgarage bei einer der letzten schweren Bombardements einen Volltreffer abbekommen, wobei auch Fahrzeuge zerstört wurden. Der Strom war noch abgestellt beziehungsweise unterbrochen, als sich jeder im Bad bei Taschenlampenbeleuchtung die Hände und das Gesicht wusch und das Bett aufsuchte.

Der nächste Morgen zeigte das Ausmaß der Verheerung durch das mitternächtliche Bombardement. Menschen, die es überlebt hatten, suchten nach Vermissten und noch brauchbaren Gegenständen in den Trümmerbergen. Es war Nachbarschaftshilfe, wenn alte Menschen und Kinder, die es überlebten, aus Kellerfenstern herausgezogen wurden. Aus dem Schutt wurden Verletzte und Tote frei geschaufelt und geborgen. Man half sich gegenseitig, so gut es unter dem Wahnsinn und Barbarentum der Zerstörung von Haus und Häuslichkeit ging, um zu überleben und mit den Trümmerstücken das Provisorium zu errichten, das gegen Regen, Nacht und Kälte schützt und ein Dach über den Kopf gab. Erwachsene und Kinder waren dem gemeinen, zerstörerischen Sadismus aus der Luft hilflos ausgeliefert. Die Sinnlosigkeit im Resultat breitete sich vor den erschrockenen Augen nach jedem Angriff weiter aus, verstanden wurde sie nicht.

Es gab schulfrei, und das für einen Monat, weil die Schule einen Treffer abbekommen hatte und baulich instand gesetzt werden musste, was bei der Knappheit an Ziegelsteinen und Zement länger dauerte. Das Schulfrei sollte sich in kürzer werdenden Intervallen wiederholen, und die schulfreien Perioden sollten länger werden, je länger der Wahnsinn des Krieges das gebeutelte Volk in Atem hielt beziehungsweise ihm den Atem nahm. Es passierte, dass der Klassenlehrer und auch Kinder nach einem schweren Bombenangriff nicht mehr zur Schule zurückkehrten.

Die Krolls wohnten im ersten Stock des zweistöckigen Eckhauses Neußer/Wilhelmstraße, in dem die Nippeser Filiale der Kölner Stadtsparkasse im Parterre untergebracht war. Dem Haus schloss sich zur Wilhelmstraße ein kleiner Dachgarten an, auf dem die Jungen spielten und beim Spielen den freien Einblick in die Hinterhöfe der nächsten Häuser hatten. In der Wilhelmstraße gab es die Bäckerei und Konditorei Pollack, von wo morgens die frischen Brötchen, meist waren es Roggenbrötchen wegen Ermangelung an Weizenmehl, gebracht wurden, und wo Mutter das Brot kaufte, wenn es mit der frühen Backerei trotz Fliegeralarm und Bomben noch geklappt hatte. Holte einer der Jungens die Brötchen, dann bekam er manchmal ein kleines Stück Kuchen oder ein paar Plätzchen mit auf den kurzen Heimweg. Bei einem der folgenden Bombardements wurde das zweistöckige Eckhaus von einer Brandbombe getroffen, die bis in den Keller dicht neben dem Luftschutzraum durchschlug. Der Vater ging mit zwei Eimern, die mit Sand gefüllt waren, voraus und bat den kleinen Heinrich, ihm mit dem dritten vollen Eimer zu folgen. Aus nächster Nähe sah er zum ersten Mal in seinem Leben die sechskantige Stabbombe mit dem roten Streifen um den Brennkopf. Der Vater schüttete den Sand aus den drei Eimern über die Bombe und erstickte den Brennkopf rechtzeitig, dass die Entzündung der Bombe unterblieb und das Haus mit der Sparkassenfiliale im Parterre und der Wohnung im ersten Stock vor dem Niederbrennen gerettet wurde. Die Direktion der Stadtsparkasse dankte dem Vater für seinen beherzten Einsatz und überreichte ihm ein sechzehnbändiges Handbuch der Frauenheilkunde [Halban-Seitz: “Biologie und Pathologie des Weibes”].

Im Nachhinein

Fragst du mich, ob ich glücklich war, dann trauere ich um die Sekunde. Fragst du mich, was nicht mehr ist, kommen gleich die Stunden.

Es zieht sich in die Länge, das mit dem Einen und der Einsamkeit. Ich greife nach der Schere, um den Faden durchzuschneiden.

 

2. Zwischenstation Damerau in Ostpreußen

Fahnen mit gekreuzten Haken

wurden überall getragen.

Durch die Weiten wehten sie,

wurden hoch gehalten.

Da die Bombenangriffe an Häufigkeit und Schwere zunahmen, unter denen die Kinder durch Angst und Schlafstörungen besonders litten, vermittelte der freundliche Kinderarzt Dr. Huysman für Heinrich Kroll und den anderthalb Jahre jüngeren Wolfgang Kroll einen Aufenthalt auf dem ‘Rittergut’ Damerau in Ostpreußen nicht weit von Gerdauen entfernt. Die Kinder sollten mal wieder in Ruhe schlafen können. Das Gut wurde von seiner jüngeren Schwester und ihrem Mann verwaltet. Gerhard, der andere Bruder, der dreieinhalb Jahre älter war als Heinrich, blieb beim Vater in Köln, während die Mutter die beiden jüngeren Söhne in einem Zug mit einer langen Wagenkette nach Ostpreußen brachte. Der Zug durchfuhr Mecklenburg-Vorpommern und den Danziger Korridor. Es war nach Mitternacht, als es in Danzig einen Aufenthalt gab. Soldaten mit umgehängten Karabinern bewachten den wenig gefüllten Zug. Dort wurden Äpfel und Bananen und warme Milch in Pappbechern für die Kinder verteilt. Die Mutter bekam zwei Äpfel, zwei Bananen und zwei Becher mit Milch. Da Bananen den Söhnen unbekannt waren, erklärte die Mutter die Frucht und pellte sie vor ihren neugierigen Augen. Beide aßen die Banane zum ersten Mal im Leben und das mit großem Appetit. Die kräftige Lokomotive mit den großen Rädern des Schnellzugs fauchte mehrere Male, als sie die lange Wagenkette aus dem Danziger Bahnhof herauszog und die Weiterfahrt im Schutz der Dunkelheit der Nacht aufnahm. Die Fahrt führte durch das langgestreckte Hinterpommern. Die beiden Jungen waren auf den bequemen Sitzen des halb besetzten Abteils eingeschlafen, als der Zug in der frühen Morgendämmerung Westpreußen erreichte, wo er am Bahnsteig einer kleinen Stadt eine kurze Station machte. Die Sonne war bereits aufgegangen, als der Zug am Bahnsteig der kleinen ostpreußischen Stadt Gerdauen Halt machte.

Viele Reisende und Mütter mit ihren Kindern stiegen aus den Wagen. Gutsverwalter Lengnick, ein hochgewachsener schlanker Mann der Mittdreißiger mit dunkelblondem Haar und blauen Augen in olivgrüner Gutsherrnkleidung und blanken schwarzen hohen Stiefeln wartete mit seiner blondhaarigen jüngeren Frau Ali, die die jüngere Schwester des Kölner Kinderarztes Dr. Huysman war, auf dem Bahnsteig, um Mutter Kroll mit den beiden Söhnen in Empfang zu nehmen und sie mit der komfortablen Pferdedroschke, einem Zweispänner, zum Rittergut in Damerau zu bringen. Es war eine Fahrt in klarer Luft gesäumt von hohen Birken entlang von ausgestreckten Wiesen und korntragenden Feldern, durch Tannen- und Buchenwälder, vorbei an sauberen Dörfern und Seen mit schwimmenden Enten und Gänsen. Das Sonnenlicht spiegelte sich über dem klaren Wasser, das die leichten Brisen in feinen Wellen bewegte, die zu den Seiten sanft ausliefen. Die Stille der Weite mit den fleißigen Menschen in den Dörfern und auf den Feldern war ein großes Erlebnis, wie die Welt ist, wenn keine Bomben fallen und die Tage und Nächte ohne Angst, das Leben zu verlieren, zu durchschreiten und zu leben sind. Auf den Wiesen weideten in großer Zahl die weißschwarz gescheckten Kühe. Auf anderen Wiesen standen Pferde, die das Kommen der Droschke beobachteten, an die Einzäunung trabten und die im leichten Galopp fahrende Droschke bis zum Zaunwinkel begleiteten. Junge Fohlen sprangen um die Stuten herum, andere tranken am Gesäuge. Roter Mohn säumte die Felder des hochstehenden Getreides. Es war eine einstündige Fahrt durch die weite, friedvolle Natur. Der braune Wallach und die braune Stute hielten den Trab ohne ermahnt zu werden, dass der Gutsherr die Leine locker in der linken Hand hielt und die weidenden Tiere und den Getreidestand zu beiden Seiten des Weges aufmerksam beobachtete. Die hartgummibereiften Räder der Droschke glitten leise und weich über den sandigen Boden. Der Weg war von bunten Blumen und Brom- und Himbeerhecken gesäumt.

Ein kleines Dorf war durchfahren, als der Weg an weitläufigen Apfelplantagen vorbei führte. Reihen hochragender Birken und alte Eichen kamen in Sicht. Drei kleine Bauernhäuser mit kleinen Fenstern und den Eingängen an der Rückseite wurden passiert, auf deren braunroten Schindeldächern Störche nisteten. Die Droschke fuhr in den großräumigen Gutshof ein mit den Scheunen und Ställen zu den Seiten und hielt unter zwei alten Eichen mit dem dichten, hohen und ausladenden Blätterwerk vor den fünf breiten Stufen zum erhöhten Eingang des Herrenhauses mit der großen eichernen Tür. Der Gutsherr half der Mutter vom Wagen und holte den Koffer herunter, während seine jüngere Frau den Buben beim Absteigen unter die Arme griff. Die Ankömmlinge wurden in einen großen, salonartigen Raum geführt, wo auf hochlehnigen Stühlen aus Eichenholz Platz an einem großen Tisch mit einer dicken eichernen Tischplatte genommen wurde. Es wurde zur Brotzeit gebeten, wofür die junge Küchenhilfe den runden Korb mit den großen Bauernbrotscheiben, den Teller mit frischer Landbutter, die Schale mit gekochten Eiern, eine Platte mit großen Scheiben eines würzig geräucherten Schinkens und einen Teller mit selbstgemachter Leber- und Rauchwurst aus der Küche brachte und auf den Tisch stellte. Frau Ali deckte den Tisch mit Tellern, Tassen und Bestecken und stellte die Zuckerdose dazu. Sie ging in die Küche und brachte zwei Gläser mit angewärmter Milch für die Jungen. Dann holte sie aus der Küche die Kanne mit frisch gebrühtem echten Bohnenkaffee, dem das köstliche Aroma vorauseilte, und füllte die Tassen der Erwachsenen, während die Küchenhilfe das gefüllte Milchkännchen auf den Tisch dazusetzte. Die Jungen aßen mit einem Bärenhunger von den Köstlichkeiten, von denen die von Bomben ‘gesegneten’ Menschen in der Stadt nur träumten. Deshalb ging diese Brotzeit in die bleibende Erinnerung ein.

Der Gutsherr und seine Frau erkundigten sich nach den Zuständen in Köln und nach dem Ausmaß der Zerstörung durch die Bombardements. Dabei erwähnte Frau Ali ihren älteren Bruder, den Kinderarzt Dr. Huysman, um den und seine junge Frau mit den vier jungen Töchtern sie sich große Sorgen machte. “Sigurd ist ein sehr sensibler Mensch”, sagte sie und stellte die Frage, wie er das mit den Bomben nur aushält. Mutter Kroll schwieg mit einem roten Kopf, weil sie die spezifisch gestellte Frage nicht beantworten konnte, wenn sie auch mehr als genug die Kellerängste und anderen Nöte durch die Bomben erfahren hatte. Gutsherr Lengnick drückte seine Sorge über die Rückschläge bei den deutschen Armeen an der Ostfront aus. “Es ist ein erbitterter Kampf auf Gedeih und Verderb, ein für Deutschland und das Abendland historischer Kampf gegen den Bolschewismus, der im Osten erfolgreich ausgekämpft werden muss, wenn die hohe abendländische Kultur und Zivilisation gerettet werden soll. Gelingt das nicht im Osten, fürchte Gott, dann wird uns der Bolschewismus überrollen und das Abendland vertilgen.”

Der Mutter hatten zwei Tage der Ruhe und des ungestörten Schlafes in der friedvollen Atmosphäre des Gutshofs gut getan, als sie den Wunsch der Dringlichkeit äußerte, nach Köln zurückzukehren, um ihrem Mann in der schweren Zeit beizustehen. Der Gutsherr brachte sie mit der komfortablen Pferdedroschke in Begleitung seiner jungen Frau Ali und den beiden Kroll Jungen nach Gerdauen. Es gab den Abschied mit Tränen. “Schreibt, wie es euch geht”, ermahnte die Mutter ihre Jungen und bestieg den Zug Richtung Westen mit der langen Wagenkette. Sie schob das Abteilfenster nach unten und blickte mit verweintem Gesicht in die verweinten Gesichter ihrer beiden Kinder. Der Zug kam ins Rollen, und Frau Kroll winkte mit dem weißen Taschentuch aus dem Abteilfenster den Zurückgebliebenen auf dem Bahnsteig zu.

Heinrich und Wolfgang machten sich mit der neuen Umgebung schnell vertraut. Sie besuchten die Ställe, übten die Kraftprobe an den Hälsen der jungen Kälber, bestaunten die Frischlinge im Stroh des Schweinestalls, setzten sich auf den federnden Sitzteller des Lanztraktors und drehten am Lenkrad hin und her, schoben die Wagendeichseln nach beiden Seiten und wurden auf den großen Leiterwagen mit aufs Feld genommen, wo die Ernte mit dem Schneiden des Getreides eingesetzt hatte. Hier verfolgten sie mit größtem Interesse, wie der Traktor den Getreideschneider hinter sich her zog, der die Körner aus den Ähren schüttelte, die Körner durch ein dickes ‘U’-förmiges Rohr auf den mitgezogenen Körnerwagen schüttete und das Stroh zu festen Ballen presste, schnürte und in Abständen hinten ausstieß. Männer luden mit Dreizinkgabeln die Ballen auf die Leiterwagen, die hoch bepackt von dem Zweigespann zur Scheune gefahren und dort entladen wurden. Die Spreu klebte am schwitzigen Fell der Pferde, dass sie nach der Arbeit durch einen Teich gingen, um die Spreu abzuwaschen. Der Teich war in der Mitte tief genug, dass dort nur der Pferdekopf aus dem Wasser herausragte. An einem Nachmittag der zweiten Woche stellte ein Gutsarbeiter vor den neugierigen Gesichtern der anderen Arbeiter an Heinrich die Frage, ob er den Mut habe, auf dem Pferderücken durch den Teich zu reiten. Er wollte die Mutprobe bestehen, und der Arbeiter half ihm aufs Pferd. Als das Pferd tiefer und tiefer durch den Teich schritt, und das Wasser ihm bis zur Brust reichte, bekam Heinrich doch seine Bedenken, wie weit das Wasser noch an ihm hochsteigen würde. Krampfhaft hielt er sich an der Pferdemähne fest und war hoch erleichtert, als das Pferd am anderen Ende schnaubend aus dem großen Teich herausstieg.

Die beiden Jungen besuchten die kleine Schule im benachbarten Dorf, die gut eine halbe Stunde zu gehen vom Gut entfernt war. Die Gutsfrau, die sich gleich zu Beginn Tante Ali nennen ließ und sagte, dass die Jungen den Gutsherrn Onkel Siegfried nennen können, hatte vorher mit dem Dorflehrer gesprochen, der ganz einverstanden war, dass die Kölner Jungen in Ostpreußen etwas lernen sollten. Die Schule war für die Jungen, und das Schulgebäude war ein kleiner Flachbau mit einem Ziegeldach und einem Raum, in dem die Erst- bis Drittklässler die vorderen Zweisitzpulte und die wenigen Viert- bis Sechstklässler die hinteren Zweisitzpulte einnahmen. Der Unterricht begann um halb acht morgens und fand montags, mittwochs und freitags statt, weil der Lehrer an der Schule im nächsten Dorf die Mädchen an den anderen Wochentagen unterrichtete. Er kam mit dem Fahrrad angefahren und trug das runde Parteiabzeichen mit den gekreuzten Haken am rechten Jackenrevers und an besonders warmen Tagen am Hemd unterhalb des Hemdkragens. Während der Lehrer das Rad gegen die Mauer stellte und die volle Aktentasche vom Gepäckträger nahm, stellten sich die Jungen in einer Reihe auf. Der Lehrer grüßte den deutschen Gruß, der von den Schülern deutsch erwidert wurde. Deutsche Zucht und deutsche Ordnung, darauf legte der Herr Dorflehrer den größten Wert. Er konnte böse werden, wenn diese Zucht und Ordnung nicht eingehalten wurde. “Deutsche Zucht und deutscher Fleiß, das hebt uns Deutsche über andere Völker.” Nach diesem Appell, der von den Schülern als morgendliche Ermahnung verstanden werden sollte, schloss der Lehrer das kleine Klassenzimmer auf, und die Schüler verteilten sich an ihre Pulte. Er ließ sich die Hefte mit den Hausaufgaben zeigen und verteilte die ersten Belehrungen, wenn die Schrift unordentlich und das Rechnen fehlerhaft war. Bekam die Liederlichkeit in der Heftführung die Note “haarsträubend”, die nach dem Tagesappell nicht geduldet werden konnte oder durfte, dann wurde dem Schüler gleich das Nachsitzen zur nötigen Verbesserung aufgebrummt. Trotz der Strenge war der Dorflehrer ein guter Pädagoge, der den Lehrberuf liebte und den Kindern das Lesen, Schreiben und Rechnen beibrachte. Er erklärte es immer wieder, warum das Lernen so wichtig ist. Er sagte, dass ein Volk nicht überleben kann, wenn die Kinder nicht mit Hingabe und Fleiß lernen. Eine hohe Kultur wie die deutsche lässt sich nur durch eine hoch entwickelte Intelligenz und den unerlässlich hohen und opferbereiten Einsatz für Volk und Vaterland halten.

So gaben sich die beiden Kölner Jungen beim Bewältigen der Hausaufgaben im hohen Ostpreußen alle Mühe, die dann von Tante Ali auf die Richtigkeit im Schreiben und Rechnen und auf die Ordentlichkeit der Schrift hin nachgesehen wurden. In bleibender Erinnerung blieb der Unterricht im Freien neben der kleinen Schule, wenn die Sonne auf das Schuldach brannte und den Klassenraum dermaßen erhitzte, dass der Schweiß auf den Stirnen des Herrn Dorflehrers und der Schüler stand. Da konnte die Konzentration unter dem schattigen Baum doch belebt und angehoben werden und das umso mehr, wenn der Lehrer Geschichten aus deutschen Sagen und aus der deutschen Geschichte erzählte. Das machte er so spannend und eindrucksvoll, dass die Kinder die Bedeutung des deutschen Bodens, auf dem sie unter dem Baum saßen, durch den direkten Kontakt noch besser verstanden und die Finger während der Erzählung tief in diesen Boden bohrten, als sei ihnen die Ahnung aufgegangen, dass dieser Boden es wert ist, ihn zu halten, zu pflegen und zu verteidigen. Die Schule endete für die Erst- bis Drittklässler nicht später als zwölf und für die Darüberklässler um eins. Nach Beendigung des Unterrichts und der Ermahnung, die Hausaufgaben sorgfältig zu machen, prüfte der Lehrer, ob die Schreibpulte aufgeräumt und die Stühle ordentlich untergesetzt waren. Die Schüler stellten sich draußen in einer Reihe auf, und der Lehrer, nachdem er die Türe des Klassenzimmers abgeschlossen hatte, verabschiedete sie mit dem deutschen Gruß bei vorgestrecktem rechten Arm, was die Schüler in gleicher Weise erwiderten. Dann ging der Lehrer auf sein Fahrrad zu, machte die gefüllte, abgegriffene Aktentasche auf dem Gepäckträger fest und fuhr auf dem Fahrrad mit derselben Energie davon, mit der er am frühen Morgen gekommen war. Eine zusätzliche Hausaufgabe wurde, die weniger mit dem Lernen, aber auch mit dem Fleiß zu tun hatte, die roten Vogelbeeren von den Bäumen zu pflücken und in großen Blechdosen zu sammeln und zur Schule außer dem Ranzen zu bringen. Diese Beeren, so erklärte es der Herr Dorflehrer, würden zur Herstellung von Wundmedizin gebraucht in einer Zeit, als die Deutschen außer den vielen Toten auch viele Verwundete zu beklagen hatten.

 

In den sechs Monaten gab es viele Erlebnisse, die in der Erinnerung haftengeblieben sind: Heinrich hatte ein Huhn einzufangen und zu schlachten. Schon das Einfangen im Hühnerstall war eine schwierige Prozedur, weil das Huhn ständig auf und ab und zu den Seiten flatterte. Er packte es schließlich an den Flügeln und hielt es so über dem Hackklatz, wie es ihm einige Male gezeigt wurde. Er trennte mit einem Beilschlag den Kopf vom Hals. Doch dann ließ er vor Schreck die Flügel zu früh los. Das geköpfte Huhn flatterte blutspritzend in die Höhe und stürzte wenige Meter vom Hackklotz entfernt tot zu Boden.

Der andere Vorfall betraf das Schlachten eines Ebers. Die Vorrichtungen waren getroffen, und der Schlächter traf mit seinem Werkzeug auf dem Gutshof ein. Der voll ausgewachsene Eber, der ihm zugeführt wurde, roch die Situation, stieß dem Schlächter hart gegen das Schienbein, büxte aus und lief ans andere Ende des weitläufigen Hofes. Es dauerte eine Stunde, bis der Schweinskoloss unter dem Aufgebot mehrerer Gutsarbeiter eingefangen und an den Beinen gefesselt wurde, um wehrlos geschlachtet zu werden. Der Schlächter frakturierte den Stirnschädel mit einem kräftigen Schlag auf den Bolzen und durchtrennte die Halsadern, um das Blut ablaufen zu lassen, das den Eimer fast füllte.

Was noch eine Gravur im Hirn setzte, und Jahre später als ein böses, schicksalsträchtiges Omen begriffen wurde, war das schwere Unwetter, das an einem Wochenende über dem Gutshof und der weiteren Umgebung in den frühen Abendstunden niederging. Da fuhr der Blitz in einen der beiden hochstämmigen Eichen vor dem Eingang des Herrenhauses und schlug in Sekundenschnelle einen dicken Ast ab, der mit krachendem Getöse zu Boden fiel. Der starken ‘deutschen’ Eiche war der ‘rechte Arm’ abgeschlagen worden. Es war ein Glück, dass das Haus, die Scheunen und Ställe unversehrt geblieben sind und die Ernte noch rechtzeitig eingefahren war.

Abend

Schütz dich vor der Sonne, der Mond tut dir nichts an. Du solltest den Tag vermeiden und in der Nacht die Dinge tun, die du zum Leben brauchst. Dann ist der Raum auch groß genug, den du zum Atmen brauchst.

Es wird so bleiben, wie es ist, ein Schlafen gibt es nicht. Es irrt der Mensch bei Tage, und in der Nacht verwirrt er sich.

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