Stürze im Gang der Zeit

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Stürze im Gang der Zeit
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Helmut Lauschke

Stürze im Gang der Zeit

Nachzeichnungen

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Was verloren ging

Im Galopp der Schläge

Todesstiege

Abschied von der Heimat

Der Sozialismus

Besuch des russischen Stadtkommandanten im Dachgeschoss

Aus der klinisch-psychiatrischen Vorlesung

Das Abendgespräch am langen Tisch

Kobold und der Budenbesitzer und der Philosoph

Impressum neobooks

Was verloren ging

Nachzeichnungen

To stand up for truth is nothing. For truth, you must sit in jail.” Aleksandr Solzhenitsyn

Der Alltag hatte sein Gesicht verändert. War er durch die sich ständig verschlechternde Lage auf den Wirtschaftssektoren des Lebens (Nahrungsmittel, Textilien, Brennstoff, Heizmaterial etc.), den letzten Kriegsereignissen und dem sich zuspitzenden braunen Terror schon grau durch die vielen Sorgen, so wurde er nun durch das Fehlen von Paul Gerhard, der nach Absolvierung des Kriegsabiturs dem Einberufungsbefehl folgte und mit anderen Schulkameraden an die blutende Ostfront gebracht wurde, schwarz durch den drückenden Zweifel über die Sinnhaftigkeit, ob das alles mit dem Leben eines Menschen vereinbar ist.

Das betraf den Rest der Familie gleicherweise und wirkte bis in den Beruf von Eckhard Hieronymus hinein, auch wenn er es sich selbst nicht zugestehen wollte. Es gab Gespräche mit dem Bischof, in denen die Frage erörtert wurde, wie sich der Pfarrer unter dem schwindelerregenden Druck der Nazis auf die Geistlichkeit und das kirchliche Leben verhalten solle, ob es ratsam sei, sich so vorsichtig zu verhalten, als stülpe man sich den Maulkorb über den Mund, mache die Predigt zur wiederholten, zweiten Lesung des bereits gelesenen Bibeltextes und mehr nicht, um dem Risiko des Verhörs in den Gestapokellern zu entgehen. “Die Wahrheit steht auf der Kippe”, sagte der Superintendent Dorfbrunner zum Bischof, “wir müssen uns entscheiden, welchen Hang wir beschreiten wollen. Wollen wir wie Paulus den mühsamen Steilhang nach oben nehmen oder uns auf dem Abhang des Bösen nach unten drücken, nach unten terrorisieren lassen? Wir müssen uns entscheiden, bevor es zu spät ist, ich meine, solange wir uns noch entscheiden können.” Der Bischof schaute ernst. In seinen Augen lag der trübe Glanz der Verzweiflung, der Unsicherheit, der Angst vor der Entscheidung, die eben nur die zwei Alternativen kannte. “Das Wort Gottes gehört in die Kirche”, sagte der Bischof, “es ist der uns gegebene Auftrag, dieses Wort zu verkünden. Sein Wort ist die Wahrheit, die über allem steht. Da mögen die Braunhemden sagen, was sie wollen. Wir als Pastöre bleiben beim Wort seiner Wahrheit.”

Eckhard Hieronymus war mit dieser Aussage zufrieden, wollte aber vom Bischof wissen, wie sich der einzelne Pfarrer in der Praxis der Exegese, der Auslegung des Bibeltextes unter dem braunen Druck verhalten soll. Da sagte der Bischof, dass er keinem Pfarrer vorschreiben könne und wolle, wie er den Text auslegen möchte. Das bleibe jedem Einzelnen überlassen, weil das Gotteswort in das Herz geht, aus dem dann die Antwort des Menschen kommt. “Verstehen Sie mich recht”, wandte Eckhard Hieronymus ein, “der Punkt, auf den ich hinaus will, ist die Frage, ob wir die Kollegen zur mutigen Exegese anhalten sollen, indem wir sie ermuntern, die Wahrheit zu sagen, auch was das Zeitgeschehen betrifft.” “Ich habe ihren Punkt verstanden”, sagte der Bischof, “doch da möchte ich den Kollegen den Rat geben, mit der Wahrheit nicht zu weit auszuholen, sondern eng am gelesenen Text zu bleiben, um Missverständnissen gewollter und ungewollter Art vorzubeugen. Denn wir stehen vor einer Zwickmühle, dass die Zahl der leeren Pfarrstellen zunimmt, weil es an Nachwuchs fehlt und wir Kollegen verlieren, die aufgrund ihres Mutes zur Wahrheit von der Gestapo verhaftet werden. Es wird hoffentlich eine Frage der Zeit sein, denn das Kriegsgeschehen hat die Münze gewechselt, dass wir uns beim Aussprechen der Wahrheit doch eine Zurückhaltung auferlegen müssen, damit wir nicht alle bei der Gestapo landen. Denn eine Kirche ohne Pastor ist wie ein Krankenhaus ohne Arzt. Die Menschen in ihrer Not und Verzweiflung brauchen zwei Dinge dringender denn je: zum einen die Verkündigung des Wortes Gottes, zum anderen die tätige Seelsorge in der Gemeinde.”

So bat Eckhard Hieronymus den Bischof, seinen Rat in Form eines Rundbriefes an die Pastöre der ev.-lutherischen Kirche Schlesiens zu erstellen, damit sie sich bei der Textauslegung auf diesen Brief (vor Gott und den Menschen) berufen können und eine Einheitlichkeit in die Exegese kommt. Der Bischof sah den Superintendenten an und dachte nach. “Ich wäre ihnen dankbar, wenn Sie das für mich tun würden”, sagte er nach Minuten des Nachdenkens, wobei er offensichtlich an den bevorstehenden Ruhestand dachte, den er ohne vorherige Belästigung vonseiten der Gestapo erreichen wollte. “Ich hatte ihnen beim letzten Gespräch schon gesagt, dass ich in absehbarer Zeit in den Ruhestand treten werde. Da ist es mein Wunsch, Sie werden es hoffentlich verstehen, dass ich den Stand der beruflichen Ruhe auch in seelischer Ruhe betreten möchte.” Eckhard Hieronymus sah den Bischof erstaunt an. Der wiederum bemerkte, dass der Superintendent mit dieser Argumentation nicht übereinstimmte. So fuhr er fort: “Es muss mit einem neuen Bischof gerechnet werden, der für die Richtlinien im pastoralen Bereich verantwortlich ist. Ich weiß nicht, wer mein Nachfolger werden wird, auch wurde mir kein Name genannt. Es ist aber wahrscheinlich, dass bei der Besetzung des Postens Menschen von Einfluss das Wort reden werden, die dem System weniger kritisch, vielleicht sogar wohlwollend gegenüberstehen. Ich kann meinem Nachfolger keine Vorschriften machen, so wie mein Vorgänger, Dr. theol. Kirchberger, der ein gebildeter Mann und ein großer Bischof war, mir keine Vorschriften gemacht hat.”

Eckhard Hieronymus verstand mit diesen Zusätzen das Argument des Bischofs noch weniger, sich vor der Erstellung des Rundbriefes zu drücken. Denn damit hatte es nun nichts zu tun, dass ein Bischof dem anderen keine Vorschriften macht, weil ein Rundbrief in die Hoheit des jeweiligen Bischofs fällt, der zum Zeitpunkt der Erstellung, Niederschrift und Verteilung im Amt ist. Eckhard Hieronymus sah die Sackgasse vor sich, in die das Gespäch über den Rundbrief mündete, fragte nicht weiter, sondern sagte, dass er der Bitte des Bischofs nachkommen werden. Damit war Bischof Rothmann einverstanden und zufrieden. Die Erleichterung, an der Formulierung mit einer fragwürdigen, zweifelhaften Argumentation vorbeigekommen zu sein, war seinem Gesicht anzusehen.

Mit dem Bischof als Unterzeichner des Briefes war der Bischof nicht einverstanden. Eckhard Hieronymus hatte es geahnt. Da kam er wieder mit dem fadenscheinigen Argument des baldigen Ruhestandes, den er heil antreten möchte, ohne in seinen letzten Berufstagen von der Gestapo in Mitleidenschaft gezogen zu werden. Eckhard Hieronymus versuchte ihn von den Bedenken eines Verhörs aufgrund des Briefinhalts abzubringen und wies auf die Ordnungsmäßigkeit hin, dass ein pastoraler Rundbrief vom Bischof zu unterzeichnen ist. Der Versuch war umsonst. [Schon wenig später sollte Eckhard Hieronymus erkennen, dass der Bischof die List und Hintertriebenheit der Gestapo besser kannte; er sollte seine Fehleinschätzung teuer bezahlen.] Stattdessen schlug der Bischof vor, dass der Superintendent den Brief in seiner Vertretung unterschreiben solle. Eckhard Hieronymus hatte seine Bedenken der Ordnung wegen. Auch vermutete er, dass die Kollegen mit diesem, von ihm unterschriebenen Brief ein sich Hervortun des Superintendenten Dorfbrunner sehen könnten, was ein Missverständnis gleich zu Beginn wäre, das Eckhard Hieronymus nicht wollte und in diesem Fall auch nicht zu verantworten hätte. Schließlich willigte er mit dem Unbehagen der verschobenen und falsch zu verstehenden Verantwortlichkeit ein. Die Sekretärin des Bischofs, eine Dame im mittleren Alter und langjährige Mitarbeiterin, tippte den Brief in die Maschine und legte ihn am nächsten Tag dem Superintendenten zur Unterschrift vor.

Was waren die Folgen? Eckhard Hieronymus berichtete den Vorgang seiner Frau, die sich schon am Abend zuvor gewundert hatte, als er den Text entwarf, dass er eine Aufgabe verrichtete, die eigentlich dem Bischof gehörte. Nachdem er Luise Agnes den Grund genannt hatte, dass der Bischof sagte, dass er in seinen letzten Berufstagen nicht noch von der Gestapo aufgesucht werden wolle und heil in den Ruhestand treten wolle, fragte sie ihren Mann, ob dieser Wunsch nicht auch auf die eigene Familie zutreffe. [Es war eine Frage mit prophetischer Sicht.] Als Eckhard Hieronymus ihr nun über den letzten Stand des Briefes berichtete, den er auf Wunsch des Bischofs und in seiner Vertretung mit den Bedenken der verschobenen Verantwortlichkeit unterschrieben hatte, sagte sie, dass sie den Bischofs anders, nämlich als einen Mann eingeschätzt habe, der seine Verantwortung kenne und sie auch trage. Dass er diese Verantwortung auf seine untergebenen Mitarbeiter abwälzt, sei ein schwaches Zeichen. Das hätte sie von diesem Mann nicht erwartet.

 

Luise Agnes reimte sich aus dem Gefühl die Gründe zusammen, die den Bischof zu dieser Entscheidung veranlasst haben. Im folgenden Satz prophezeite sie ihrem Mann den baldigen Besuch der Gestapo mit den Konsequenzen für ihn und die Familie. Eckhard Hieronymus hörte am Ernst ihrer Stimme, dass etwas kommen würde, woran er nicht gedacht hatte. Luise Agnes schwieg. Sie versank im Meer ihrer Gedanken und ängstlichen Gefühle. Eckhard Hieronymus schaute sie an. Er wollte sie in ihrem Schweigen nicht stören. Mochte er es vielleicht ahnen, wissen konnte er es nicht, dass Luise Agnes auf den Schwimmer wartete, der sie vor dem Ertrinken rettete, als sie sich der Gefährdung der Familie durch ihr Mischblut mit der jüdischen Hälfte gewahr wurde. Gewahr war es ihr seit langem, doch mit dem ganzen Ernst und den möglichen Folgen fuhr es ihr nun wie ein Schrei vor dem drohenden Gewitter des flammenden Schicksals durch den Kopf. Der Warnruf hallte durch die Kammern ihres Herzens, Schläge erschütterten die Kammerwände; sie sah die weinenden Kinder und erschrak im Aufschrei des Schmerzes. Eckhard Hieronymus sah, dass sie Tränen in den Augen hatte. Er legte seinen Arm um ihre Schulter und drückte sie an sich. “Luise Agnes, was ist passiert, das dich so arg fesselt?”, fragte er hilflos. Ihn erfüllte eine unbeschreibliche Traurigkeit, weil er zu ahnen begann, dass etwas im Anzug sei, das er nicht abwehren oder verhindern konnte. “Entschuldige”, sagte Luise Agnes mit ‘ertrunkener’ Stimme, “ich war der Zukunft vorausgeeilt.” Eckhard Hieronymus erschrak. Er sah im Geiste den apokalyptischen Reiter im Galopp auf ihn zustürmen.

Der Rundbrief war verschickt, und die Gestapo meldete sich. Das Telefon klingelte an einem Freitagnachmittag. Eckhard Hieronymus hatte mit einem der Pastöre gerechnet, die vielleicht die eine oder andere Frage zum Inhalt des Briefes hatten. Dass es aber die Gestapo war, damit hatte er nicht gerechnet. Befürchtet hatte er es schon, und das schon länger bei den wütenden Exzessen der Braunhemden gegen die Kirchen beider Konfessionen. Eine männliche Stimme, die so hart nicht klang, lud ihn für den kommenden Tag, dem zweiten Samstag im Mai (1944) um drei Uhr nachmittags zu einem ‘Gespräch’ im Haus der SA in der Kesselstraße 17 vor. “An Unterlagen benötigen wir ihre Einsetzungsurkunde als Superintendent, ihren Bürgerausweis und die arischen Nachweisurkunden für Sie und ihre Frau. Sie werden hiermit aufgefordert, pünktlich zum Gespräch zu erscheinen und die benötigten Unterlagen mitzubringen”, sagte der Mann am anderen Ende der Leitung und legte den Hörer ohne den deutschen Gruß auf.

Luise Agnes, die das Telefonat verfolgt hatte, eilte zur Toilette und erbrach. “Deutschland, Deutschland, wo bist du nur hingekommen!”, rief Eckhard Hieronymus wütend durchs Haus, dass Anna Friederike aus ihrem Zimmer im ersten Stock kam und von oben die Treppe herunter die Frage rief: “Was ist mit Deutschland?”. “Runtergekommen ist es!”, rief der Vater von unten die Treppe nach oben. Das wusste Anna Friederike auch; sie wusste es wahrscheinlich länger, als es der Vater von ihr erwartet hätte. Sie ging in ihr Zimmer zurück, legte die Tür leise ins Schloss und nahm sich Schillers “Don Carlos” wieder zur Hand. Für beide war es eine schlaflose Nacht, als der Morgen dämmerte und die Sonne sich schwertat, sich über den Horizont zu erheben und ihre Strahlen über ein Land auszubreiten, es in einen neuen Tag zu schicken, in dem die politische Tollwut, der braune Stiefelterror herrschte.

In dem Verhör sagte Eckhard Hieronymus Dorfbrunner, dass sich die Menschen von der Botschaft Jesu Christi abgewandt haben, gottlos geworden sind. Für sie zählt die Macht und nicht die Liebe. Das sei das Monster, der gottlose Mensch in seiner Überheblichkeit und Verirrung. Die Wahrheit des Glaubens ist verloren. Sie wird von jenen verdreht, denen es um die Macht geht. Hass und Zwietracht sind die Folgen. So finden die Menschen den Weg zur Verständigung und zum Frieden nicht. Der Mensch, der sich von Gott entfernt, losgesagt hat, provoziert aus seiner Überheblichkeit Missverständnisse, die die Wahrheit Gottes verstellen, die für Menschen nicht zu verstellen, nicht unkenntlich zu machen ist, die fest im Glauben an den Herrn stehen.

“Da haben wir den Salat. Von Vernunft keine Spur; nur Hypothesen und Vermutungen! Was sollen wir mit so einem Geschwafel anfangen?”, rief der rechte Beisitzer mit bösem Gesicht, auf dem die Züge zuckten und fürchterlich entgleisten, in den Raum. Der Vorsitzende bat ihn um Geduld und fragte den Superintendenten, ob das alles sei, was er zu diesem Abschnitt zu sagen haben. Eckhard Hieronymus: “Das ist alles, was ich zu diesem Abschnitt zu sagen habe.” “Na, dann wollen wir mal loslegen”, sagte der Vorsitzende mit erzürntem Gesicht. “Für den gesunden Menschenverstand ist es eine Zumutung, sich zwischen den geschwollenen Gebilden des Textes hindurch zu finden. Sagen Sie, was ist der Geist der Zeit, der gegen die Wahrheit ist? Erklären Sie es so, dass wir Sie verstehen können!” Es war die Zentrifugalkraft der Drehung, die ihn auf dem dialektischen Teufelskarussell hin und her und bis an den Rand schleuderte, dass er den Absturz vor sich sah. “Der Geist der Zeit, in der wir leben, ist der Geist der Aufklärung, der aus der neuzeitlichen Philosophie von Descartes und Voltaire hervorgegangen ist. Das Denken dieser Philosophie hat sich von Gott losgesagt und erkennt nur noch die menschliche Vernunft als die höchste Instanz an. Weil dieser Geist sich auf die menschliche Vernunft als die höchste Instanz beruft, lehnt er die Berufung auf Gott, den Glauben und die christliche Wahrheit ab.” “Sie können ja auch vernünftig reden”, testierte ihm der Vorsitzende mit zweifelhaft freundlichem Blick. “Wir sind zwar keine Freunde der Franzosen”, fügte er hinzu, “aber da haben die etwas Vernünftiges getan, indem sie sich durch rationales Denken von den althergebrachten Illusionen befreit haben und sich nicht auf die Hypothesen und Glaubensspekulationen verlassen, wenn es um handfeste existentielle Dinge in der Welt geht. So dumm sind die also auch nicht.” Eckhard Hieronymus empfand die atheistische Bemerkung als Ausdruck des Grundübels der Zeit, schwieg sich jedoch darüber aus. Der Vorsitzende setzte die Befragung fort: “Was ist ihre Definition des Monsters? Ich frage Sie deshalb, weil für mich das Monster eine unnatürliche Erscheinung ist, die sich unnatürlich verhält. Ich meine damit die Abweichung in der Anatomie und Physiologie des Menschen. Das Monster ist eine Missbildung, der es an den menschlichen Normen fehlt. Was ist ihre Definition, Herr Dorfbrunner?” Eckhard Hieronymus: “Wie Sie schon sagten, ist das Monster eine Missbildung, die anatomisch zumeist Formen des partiellen oder totalen Riesenwuchses aufweist und physiologisch, ich meine im Denken, Empfinden, dem seelischen und motorischen Reagieren die abnormen Zeichen der Gigantomachie und Gigantomanie hat. Alles ist übergroß an ihm, und alles muss übergroß um es herum sein. Das ist eben das Abnorme, das Pathologische am Monster, wenn Form und Ausdruck des Verhaltens mit dem gesunden Menschen und dem gesunden Menschenverstand verglichen werden. Das Monster mag das Gigantische, personifiziert sich im Giganten, will als Gigant gefeiert oder gefürchtet werden und setzt gigantische Dinge in Bewegung.”

Der Vorsitzende schien beeindruckt, denn er blickte verblüfft über den Tisch, während der rechte Beisitzer mit dem goldenen Parteiabzeichen mit den oberen Zähnen auf der Unterlippe hin und her fuhr und misstrauisch blickte, weil da, was auf seinem hin und her zuckenden Gesicht abzulesen war, braunes Territorium verloren gegangen war. Eckhard Hieronymus hatte den Beweis erbracht, dass er so dumm nicht war, wie ihn die Beisitzer haben wollten und dass er sich auf das Teufelskarrussell mit den dialektischen Verdrehungen und Verwindungen eingestellt hatte. Der linke Beisitzer in der braunen Uniform hatte offenbar nichts verstanden; er saß mit dem Gesicht der provozierenden Dummheit da.

“Was ist das Böse, was mächtiger sein will als die Macht Gottes? So schreiben Sie doch im zweiten Satz”, fragte der Vorsitzende. Eckhard Hieronymus hatte das Gefühl, dass er leicht an Boden gewonnen hatte, war sich des Gefühls aber nicht sicher, weil er vor diesen Typen nicht sicher sein konnte, die das Teufelskarussell drehten, wie sie es wollten. So sagte er, dass jeder Mensch, der sich von Gott lossagt, sich dem Auftrag zur Nächstenliebe und Gottes Gnadenangebot entzieht, sich ihm und der Menschheit gegenüber wichtig nimmt und überhebt, das Böse im Schilde führt, wenn statt Selbstlosigkeit die Selbstüberschätzung, statt Bescheidenheit die Arroganz, statt tätiger Nächstenliebe die ichbezogene Selbstsucht und statt der Bildung aus der Tugend und den guten Sitten die Unbildung des Rohen und Gemeinen herrschen. “Dann sind wir Atheisten”, platzte der rechte Beisitzer mit dem goldenen Parteiabzeichen heraus, “böse Menschen, weil wir uns von Gott und dem göttlichen Gedöns losgesagt, uns aus den Ketten der Illusionen und Spekulationen befreit haben.” “Das Urteil über den Menschen steht mir nicht zu”, erwiderte Eckhard Hieronymus, das hat sich Gott, der Allwissende und Schöpfer von Mensch und Universum, selbst vorbehalten.”

Der linke Beisitzer schneuzte sich die Nase, der rechte nahm sich die Bedenkzeit vor. Der Vorsitzende wollte es mit dem Führer wissen und stellte dem Superintendenten die Frage, ob er der Auffassung sei, dass im Führer das Böse sei; “wie schätzen Sie die Persönlichkeit des Führers ein?” Eckhard Hieronymus: “Es ist eine herausragende Persönlichkeit, eine Führerpersönlichkeit. Die Leistungen dieser Persönlichkeit sprengen das Dagewesene; sie gehen nicht nur über die Reichsgrenzen hinaus, sondern übersteigen bei weitem die Grenzen unserer Zeit. Erst die kommenden Generationen werden in der Lage sein, ein Urteil über die Leistungen des deutschen Volkes und des “Führers” abzugeben.”

Dem Vorsitzenden fuhr ein erstes Schmunzeln über die Lippen. “Herr Dorfbrunner, Sie steigern sich. Sie haben als Kirchenmann auch das Zeug, wie ein Politiker zu reden. Damit will ich sagen, Sie wissen es schon, dass viele Politiker als Irrlichter herumschwadronieren und mit ihrem Vokabular Missverständnisse und Misstrauen gegen den Führer und die nationalsozialistische Bewegung ins Volk zu einer Zeit bringen, in der das deutsche Volk ums Überleben gegen den Bolschewismus und die jüdische Hochfinanz kämpft und der weisen Führung unseres Führers dringender denn je bedarf. Das macht die schwadronierenden Politiker mit ihrer Irrlichterei gefährlich, weil sie das Volk verhetzen, anstatt den gebotenen und notwendigen Beitrag zur Einheit und schmiedeeisernen Festigkeit zu liefern. Das macht auch Sie zur Gefahr, das um so mehr, je intelligenter Sie sich anstellen.” Der rechte Beisitzer nickte dieser hypokritischen Anmerkung zu, während Eckhard Hieronymus an die verlorene Schlacht von Stalingrad und seinen eingezogenen Sohn Paul Gerhard dachte [an die noch schlimmeren Ereignisse konnte er nicht denken, weil sie erst noch, doch bald schon kommen sollten] und dabei auf die Mappe mit der kritischen Urkunde von Luise Agnes schaute, was dem Vorsitzenden nicht entging.

“Kommen wir nun zum letzten Absatz”, fuhr der Vorsitzende fort. “Erklären Sie die ersten beiden Sätze, in denen Sie von Vorsichtsmaßnahmen und davon sprechen, dass viele Gemeinden ihre Pastöre deshalb verloren haben, weil sie die Wahrheit verkündet und mit ihren Worten ausgelegt haben, schließlich mit ihrer Person und ihrem Leben für diese Wahrheit eingestanden sind. Was meinen Sie damit?” Eckhard Hieronymus spürte wieder Boden unter den Füßen; wie sicher er war, das wusste er nicht. So sagte er halb paulinisch, halb dialektisch im Sinne des sich drehenden Teufelskarussells, dass die Worte ‘Missverständnisse’ und ‘Misstrauen’ bereits vom Vorsitzenden genannt wurden. Diese Eigenschaften, die menschlicher Natur sind, kommen auf, wenn Menschen den Glauben an Gott verloren und sich von ihm gegen besseres Wissen losgesagt haben. Ob die Missverständnisse gewollt oder ungewollt waren, entziehe sich seiner Kenntnis. Wahr ist, dass Pastöre, die aus der Bibel gelesen und den Bibeltext mit ihrem Gewissen ausgelegt haben, ihren Gemeinden weggenommen wurden, weil ihnen Volksverhetzung vorgeworfen wurde, obgleich sie von der Liebe Gottes zu den Menschen und von der Nächstenliebe sprachen. Es ist doch die Aufgabe des Pastors, die Menschen zueinander zu führen, sie im christlichen Glauben zu vereinen und von ihnen alles fernzuhalten, was menschenfeindlich, trennend und hetzerisch ist. “Das seien die Gründe”, fuhr Eckhard Hieronymus fort, “dass Vorsichtsmaßnahmen angebracht sind, um bei der Verkündung der Heilsbotschaft und ihrer Auslegung Missverständnisse zu reduzieren und zu vermeiden, um dem zersetzenden Misstrauen entgegenzuwirken.

 

Die Kirche drücke sich nicht vor der Verantwortung, sondern lebe sie, wenn sie sich um die Verständigung, die Einheit und den Frieden unter den Menschen bemüht.” “An ihnen ist doch ein Politiker verloren gegangen, wie Sie diese Hürde genommen haben”, sagte der Vorsitzende. Dann fand er sogar Worte der Zustimmung für den Rest des Textes, worin steht, dass sich die Pastöre bei der Textauslegung möglichst nah an den Bibeltext halten und von Ausschweifungen in die gegenwärtigen Zeitgeschehnisse absehen sollen. Er sagte, wenn die Kirche ihre Verantwortung für die kirchlichen Aufgaben in der Gesellschaft erkenne und diesen Aufgaben nachkomme, dann sei die Kontinuität ihrer Arbeit von staatlicher Seite nicht gefährdet. Eckhard Hieronymus war sich dieser Bemerkung des Vorsitzenden nicht sicher, weil er selbst, wie die meisten Pastöre, nie aktiv in die Politik, wenn es in einer Diktatur noch so etwas wie Politik gibt, eingegriffen hatte.

Eckhard Hieronymus kam zwischen zehn und elf in der Nacht zu Hause an, wo Luise Agnes auf ihn wartete. Er konnte sich nicht erinnern, welchen Weg er genommen hatte. Für ihn war es ein Wunder, dass er überhaupt zu Hause ankam nachdem, wie das Verhör verlaufen war. Genauso gut hätte es sein können, dass er in eine Kellerzelle eingesperrt, dort herausgeholt und wieder und wieder verhört wurde, das unter härteren, folterähnlichen Bedingungen, danach in die Zelle zurückgesteckt und schließlich in ein Arbeitslager abgeschoben wurde. Dass das nicht passierte, das war für ihn ein Wunder, für das er keine Erklärung hatte. Dieses Wunder war es, das ihn nach Verlassen des Hauses der SA so sehr erfüllte, weil es über seinen Verstand ging, für das er Gott wieder und wieder dankte, dass er nicht darauf achtete, welche Straßen er genommen hatte, um nach Hause zu kommen.

Eckhard Hieronymus, dem die Hände zitterten, dass er Probleme hatte, den richtigen Schlüssel zu finden und ins Schloss zu stecken, klingelte dreimal, worauf in Sekundenschnelle Luise Agnes mit erschrockenem Gesicht die Tür öffnete und nach seinem Eintreten die Tür ebenso schnell schloss und verriegelte. Beide umarmten sich, als hätten sie sich Jahre nicht gesehen. Sie drückten sich aneinander und hielten sich für Minuten so angedrückt aneinander, als wäre es die Begegnung nach der Auferstehung vom Tode, bei der man durch die Kraft und Ausdauer des Andrückens und Angedrücktseins sicher machen will, dass es noch die Atmung auf beiden Seiten, das Leben zweier sich liebender Menschen gibt. “Ach ist das eine Erlösung, dass Du wieder hier bist”, sagte unter dem Tränensturz der Freude Luise Agnes, und Eckhard Hieronymus konnte es nicht fassen. “Dass wir uns wiedersehen, ist das grösste Geschenk meines Lebens”, fuhr sie mit verweinter Stimme fort. Sie küssten sich und hielten sich die Hände, die einander nicht mehr loslassen wollten. “Das ist Grund, dem Herrn zu danken, dass es dich wieder für mich gibt”, sagte Luise Agnes und sagte weiter: “Ich kann es noch nicht fassen.” “Ich auch nicht”, fügte Eckhard Hieronymus mit zitterndem Körper und zitternden Händen hinzu. Hand in Hand gingen sie in die Küche, setzten sich über Eck an den kleinen Tisch, ließen die Hände einander gefasst, sahen sich in der Freude des Wiedersehens an und schwiegen. Sie machten sicher, dass jeder das Gesicht des andern sah, wiedererkannte, nach dem zu sehen das Verlangen unstillbar war. Luise Agnes hatte ein verweintes und vor Erregung gerötetes Gesicht. Das sah Eckhard Hieronymus, dem die Freude, zu Hause zu sein, unbeschreiblich war. Luise Agnes ihrerseits sah die Spuren des Verhörs, die sich im Gesicht ihres Mannes eingegraben hatten. Sie befürchtete, dass diese Spuren, die die Feinheit seiner Züge in allen Richtungen durchkreuzten, nicht mehr herauszukriegen waren.

In der Nacht desselben Tages gab es das Treffen mit dem Doppelagenten Rauschenbach, der am Nachmittag über sechs Stunden bis in die Nacht das Verhör geführt hatte. Luise Agnes schenkte den frisch gebrühten Tee in die Tassen ein, gab in jede Tasse anderthalb Teelöffel Zucker und rührte ihn in der Tasse für Eckhard Hieronymus um, als gegen halb zwölf das Telefon klingelte. Beide erschraken beim ersten Klingelton, der zu völlig ungewohnter Stunde eines erschreckend ungewohnten Tages kam. Es klingelte zweimal, dreimal, dass Anna Friederike aus ihrem Zimmer die Treppe herunter gelaufen kam und Eckhard Hieronymus beim vierten Mal den Hörer abnahm und “Hallo” in die Sprechmuschel sagte.

“Sind Sie der Superintendent Dorfbrunner?”, fragte der Doppe;agent durchs Telefon. “Ja, der bin ich”, gedanklich setzte er das ‘noch’ hinzu. “Hier ist Rauschenbach. Entschuldigen Sie die späte Störung. Doch es eilt sehr. Wir haben uns heute am Tisch im Haus der SA gegenübergesessen, wo ich den Vorsitz bei dem Gespräch, nennen Sie es ruhig Verhör, geführt habe. Können Sie sich an mich erinnern?” “Ja, Sie sind frisch in meiner Erinnerung.” “Nennen Sie zwei der auffallenden Merkmale an mir, damit ich sicher sein kann, dass Sie der Superintendent Dorfbrunner sind.” “Sie haben eine schräg verlaufende Narbe über der rechten Stirn von etwa sieben Zentimetern, und am rechten Ohr fehlt das obere Viertel.” “Das ist korrekt. Ich muss Sie treffen. Ich rufe von der Telefonzelle Wilhelmstraße, Ecke Waterloostraße, an, die in der Nähe ihres Hauses ist. Ich hole Sie mit meinem Wagen ab. Warten Sie vor der Tür. Ihr Leben ist nicht in Gefahr.”

Der Hörer am anderen Ende wurde in die Gabel eingehängt. Eckhard Hieronymus legte auf, küsste seine Tochter auf die Stirn, die ihn mit fragenden Augen anschaute. Er ging mit ihr in die Küche, setzte sich an den kleinen Tisch und berichtete den Inhalt des Telefonats. Keiner konnte sich einen Reim aus dem Telefonat machen, besonders Luise Agnes und Anna Friederike nicht, die vom Verlauf des fast sechsstündigen Verhörs noch nichts erfahren hatten. Eckhard Hieronymus trank die Tasse Tee leer, küsste seine verstört blickende Frau und die nicht anders blickende Tochter auf ihre Stirne, zog sich die Schuhe an und verließ das Haus, als der Wagen vor der Tür wartete. Die rechte Beifahrertür wurde von innen geöffnet. Von innen sagte die vom Verhör bekannte Stimme des Vorsitzenden jetzt vom Fahrersitz aus: “Guten Abend Herr Dorfbrunner.” Schlimmer, als es war, konnte es nicht werden, dachte er in pastoral naiver Weise (doch diesmal zurecht); so grüßte Eckhard Hieronymus zurück, wobei er den Namen Rauschenbach nannte, ob es ein Deck- oder der richtige Name war, er wusste es nicht. Er stieg ein, und sie fuhren Richtung Stadtausgang in einen nahe gelegenen Hain.

“Ich muss mich bei ihnen entschuldigen”, sagte er bei der Fahrt, “dass ich Sie und ihre Familie zu so später Stunde in Aufregung versetze. Aber es eilt. Ihre Position steht auf dem Spiel und damit ihr Leben und das Leben ihrer Familie. Ich will ihnen helfen, Sie vor den Folgen bewahren, die das Regime für Leute wie Sie reserviert hat.” Eckhard Hieronymus wunderte sich und konnte nicht glauben, was er hörte. “Was sind das für Folgen, die das Regime für mich reserviert hat?”, fragte er den Fahrer Rauschenbach, der am Nachmittag den Vorsitz im Verhör führte. “Das Regime hat für Sie, wie für so viele ihrer Pastöre einen Platz in einem der Konzentrationslager reserviert. Doch dazu soll es bei ihnen nicht kommen. Dem soll vorgebeugt werden. Deshalb habe ich Sie angerufen und bin gekommen, um die notwendigen Schritte, der Lagerhaft zu entgehen, miteinander zu besprechen.”

Auf einem schmalen Wegstück stellte Herr Rauschenbach den Motor ab und das Licht aus. Die Stelle war durch dichten Baumbestand geschützt. Sie blieben im Wagen sitzen, wobei Herr Rauschenbach das Seitenfenster bis auf einen schmalen Spalt hochdrehte und sich eine Zigarette anzündete. “Fangen wir von vorne an”, sagte Herr Rauschenbach: “Der Auftrag, der mir gegeben wurde, ist, Sie der Volksverhetzung und Staatsgefährdung zu überführen und Sie auf diese schweren Vergehen vor dem Volksgericht zu verklagen. Damit ist automatisch das Berufsverbot verbunden. Je nachdem, wie das Urteil ausfällt, meist sind es die Höchststrafen für Pastöre, katholische Geistliche und freidenkende Andersdenker, werden die Verurteilten nach kurzen Gefängnisaufenthalten in ein Konzentrationslager deportiert, wo die Chancen, da lebend wieder herauszukommen, der mathematischen Formel mit dem Grenzwert ‘0’ entsprechen. Bei dem Verhör habe ich mich davon überzeugt, dass Sie kein Volksverhetzer sind. Ich will ihnen helfen, dass ihnen das Berufsverbot und die Deportation erspart bleiben, wobei ich an ihre Familie denke, ihr dieses Unglück zu ersparen. Ich bin ihnen wohlgesonnen, das im Gegensatz zum Beisitzer mit dem großen Parteiabzeichen, der seinen Auftrag in der gewohnten Weise erledigen will, um Sie der Volksverhetzung zu überführen und vor dem Volksgerichtshof anzuklagen. Dazu müssen Sie allerdings ihren Beitrag leisten. Ich habe über den Minimalbeitrag nachgedacht, der von ihnen zu erbringen ist, damit das Verfahren wegen Beweismangel eingestellt werden kann. Die Sache eilt, der Beisitzer mit dem großen Parteiabzeichen drängt auf Verurteilung und Strafe, weil er aus den Aktenunterlagen der Überprüfung ihrer Familie weiß , dass Sie mit einer Halbjüdin verheiratet sind. Ihnen ist sicher aufgefallen, dass ich das Gespräch über ihren Rundbrief in die Länge gezogen habe. Ich habe es deshalb getan, um auf die böswillig konstruierten Klagen nicht eingehen zu müssen und die Vorlage ihrer Berufs- und Familiendokumente zu vertagen. Das Mindeste, was Sie zur Selbstrettung und zur Rettung ihrer Familie tun müssen, Sie müssen Mitglied der Partei werden. Verstehen Sie mich richtig, ich bin kein Advokat oder Trommler für diese Partei, aber es bleibt ihnen nichts anderes übrig, wenn Sie mit dem Kopf aus der Schlinge wollen, bevor sie zugezogen wird.”

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