Nimm die Nacht

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Nimm die Nacht
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Helmut Lauschke

Nimm die Nacht

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Abschied von der Heimat

Wenn die Atmung zurückkehrt

Dass sich die Gedanken und Dinge im Fließen halten

Wenn der Sohn gefallen ist

Die Hänge stehen dir frei

Wenn der Traum verschattet

Wechselhaft

Wenn die Bombe platzt

Das reibende Geheul

Sterne warten auch nicht ewig

Mit dem Taschentuch vor dem Gesicht

Die Gurkennase

Im Liegen oder Stehen

Götter schweigen

Die Nacht war lang

Handschellen an die Mörder

Anders ist es mit dem Baum

Die Schuhe für den Tag schnüren

Was an den Lippen klebt

Rost im Torschloss der Heimat

Was dem Vater die Sprache verschlägt

Das Totengefäß

Blutunterlaufen

Gesichter der geballten Fäuste

Zuviel habe ich um dich geweint

Lass uns …

Hintergründig

Nimm die Nacht

Versuchen will ich’s

Ohne Wunden geht es nicht

Getragen bleiben wirst

Bis der Ruf unhörbar wird

Was ich dir sagen wollte

Ecksteine

Wenn es die Erinnerung nicht gäbe

Bevor der Kern ins All zerbröselt

Als gehöre es zur täglichen Routine

Herbstlaub

Damals

Das rote Tuch

Der letzte Flieder

Wenn er morgens die Knochen zusammenkehrt

Aus dem Abgrund kamen die Stimmen

Ich möchte noch erzählen

Solange du das Blut bist

Ich stand auf einem schmalen Steg

Um Mund und Wahrheit wegzudrücken

Wo einst Beine durch den Frühling liefen

Ohne sich in der Scherbe anzusehen

Türen sind verschlossen und vernagelt

Fragst du mich, was nicht mehr ist

Am Ende der Träne ertrinkt das Glück

Die Zeit, in der du stehst

Wo ich aufwuchs, steht keine Wand

Im Perpendikelschlag

Draußen steht ein Mann

Das blutverschmierte Völkerkleid

Glaub nicht alles

Wohin

Wenn es um die Wahrheit geht

Beim Anblick der Jugend

Eng war auch die Straße

An den Lippen krustete das Blut

Wenn der Besessene zum Himmel rennt

Richtungswechsel

Ich lese den Herbst zusammen

Die Gestalt passt nicht auf den Punkt

Wer weiß, was wir machen mussten?

Da hatte es der Traum begriffen

Greif den Hammer

Wenn der Mund den Kuss verstillt

Wieder sind es Kinderlieder

Als wir in den Krater stiegen

Vom Aufgang fehlt die ganze Spur

Schon tobt der Sturm

Verdient hast du die bessere Wahl

Im Schlaf der Völkerstämme

Die Glocke läutet aus der Ferne

Drückst mir die Lippen auf die Stirn

Gib mir dein Zeichen

Am Zaun, wo der Himmel beginnt

Dem Bilde nachgedacht

Wenn der Berg zusammenstürzt

Der Tag bricht aus

Am Ende muss man doch durch die Tür

Wo der Strom der Finsternis fließt

Abwehrblöcke, Rosenstöcke

Am Göttertisch

Silberfäden hängen von der Decke

Es gibt Zeichen an den Schranken

Es wird weiter gehängt

Wenn die anderen kommen

Dinge, die doch wichtig sind

Der Sturm hat sich gelegt

 

Was noch zerriss

Ich sah den Flug

Von der anderen Seite

Wenn der Himmel sich verdoppelt

Auf dem Platz des Volkes

Schlafabwesend

Verkürzt bis auf den Punkt

Über dem Negev

Die Laube gab vielen den letzten Unterschlupf

Den vollgeladenen Wagen hinter sich herzieht

Du bist ein besonderer Teil des Buches

Dass sich die Fugen reiben

Die Mahnung, die euch zusteht

Das kräht morgens schon der Hahn

Der Boden sagt, es ist nicht meine Heimat

Die Lawine kommt ins Rollen

Vom Wort gibt es nur noch Stücke

Im Garten waren Blumen

Generalprobe: Boris Baródin spielt das zweite Klavierkonzert von Brahms mit der Moskauer Philharmonie

Brandlicht leuchtet in den Augen

Impressum neobooks

Abschied von der Heimat

Die Domglocke schlug drei Uhr morgens, als es an der Tür klopfte. Ein Mann überreichte einen zusammengefalteten Zettel und sagte, dass Ludwig und Martha Lorch auf der Flucht seien und am Tage zuvor Breslau passiert hätten. Der Mann hatte es eilig und lehnte die angebotene Tasse Tee dankend ab. Beim Verlassen der Haustür drehte er sich noch einmal um: “Wir werden uns wohl nicht wiedersehen. Ich wünsche Ihnen für ihre Flucht alles Gute. Mögen Sie den Weg in die Zukunft, die wir nicht kennen, aber fürchten, heil überstehen.” Der Mann hatte den Eingang bereits verlassen, als ihm Eckhard Hieronymus seine besten Wünsche hinterher rief. Er hatte die Tür noch nicht geschlossen, als Luise Agnes die Sorge um ihre Mutter, die versteckte Jüdin, äußerte. Sie sagte: “Hoffentlich ist sie mit auf dem Wagen und hält den weiten Weg gesundheitlich durch.” Jeder war mit dem Packen der Sachen beschäftigt. Die Nerven waren aufs Äußerste gespannt. Mutter Dorfbrunner und der kriegsversehrte Bruder Friedrich Joachim haben mit Freunden vor einer Woche Breslau verlassen. Deren letzte Nachricht war, dass sie nach Dresden wollten, um bei Onkel Alfred, dem Bruder der Mutter, in der Münchner Straße Unterkunft zu finden. Mit Eduard Hartmann, dem Vater von Luise Agnes und Pfarrer im Ruhestand, dessen Ehefrau eben die Jüdin mit dem gefälschten Totenschein war, die nach dem langjährigen Versteck auf dem entlegenen Bauernhof nun hoffentlich auf dem Fluchtwagen der Bauersleute Lorch sitzt, um nach Zerschlagung der braunen Diktatur noch einmal die Freiheit zu erleben, hatte es das Schicksal gut gemeint, dass es ihm vor drei Wochen den Atem weggenommen hatte. Ihm wurde noch eine Notbeerdigung auf dem Hauptfriedhof in seiner Heimatstadt zuteil, bevor die Russen die Stadtmauer erreichten. Wenn er sich auch aus Sicherheitsgründen nicht persönlich von seiner Frau verabschieden, seine Frau ihm nicht den letzten Kuss geben, ihm für die Himmelfahrt die Hände falten und die Augen schließen konnte, so blieb dem Verstorbenen doch, und das war ein nicht hoch genug zu schätzendes Geschenk des Himmels, die Flucht in den Westen und das Fürchten vor der Zukunft mit dem Bumerang erspart.

Kolonnen beladener Wehmachtfahrzeuge, die von Kübelwagen und Krädern mit Beiwagen begleitet wurden, kamen verdreckt und zerbeult aus dem Osten in die Stadt. Hitlerjungen mit Kindergesichtern wurden eingezogen und leisteten vor der gehissten Fahne mit den gekreuzten Haken auf dem Bahnhofsplatz den Fahneneid auf den ‘Führer’. Auch sie sollten für’s Vaterland noch kämpfen, den ‘bolschewistischen Barbaren’ in die Köpfe oder sonstwohin schießen, mit Panzerfäusten die anrollenden T34-Panzer in die Luft jagen oder sonstwie knacken und jeden Quadratmeter Heimatboden gegen den roten Ansturm bis zum letzten Fuß und Atemzug verteidigen. Nach dem Fahneneid, der von einem jungen Major der Luftwaffe mit umgehängtem Ritterkreuz abgenommen wurde, bestiegen die im Schnellverfahren Eingezogenen, die meist Schuljungen waren, die offene Ladefläche des Militärfahrzeugs und ließen sich zur Kaserne fahren, die außerhalb der Stadt lag. Die Jungen winkten mit verzweifeltem Lächeln den Eltern, Geschwistern und Freunden zu, die auf dem Bahnhofsplatz standen und zurückgeblieben waren. Diese winkten verzweifelt zurück mit Taschentüchern in den Händen und vor verweinten Augen blasser Gesichter, die bei den älteren Frauen von tiefen Sorgenfurchen durchzogen waren. Andere winkten mit bloßen Händen und ließen die Tränen von ihren Gesichtern tropfen, ohne von den Tränen Notiz zu nehmen. Sie alle wussten, dass sie die Jungen lebend nicht wiedersehen würden. So blieben Eltern und Verwandte auf dem Bahnhofsplatz solange stehen, bis das Militärfahrzeug mit den aufgeladenen Jungen weit weg in einer Linkskurve verschwand. Erst dann gingen sie mit der traurigen Gewissheit in ihre Häuser zurück. Andere Lastwagen fuhren mit bewaffneten SA-Männern über den Platz und durch die Straßen; und wieder andere hatten ausgemergelte, glatzköpfige Menschen in gestreiften Jacken und Hosen geladen, die von SS-Männern unter schwarzen Stahlhelmen mit schulterbehängten Karabinern begleitet wurden. Die Aushebung der Schützengräben quer über den Bahnhofsplatz war seit Mitternacht vorangekommen. Aus der Geschwindigkeit, wie aus der friedlichen Perle einer stolzen Stadt eine hässlich-gespenstige Festung (“zur letzten Verteidigung des Vaterlandes!”) gemacht wurde, in der die großen Epochen zivilisierter Kulturen vernagelt, verbarrikadiert und sonstwie verschandelt wurden, war abzulesen, dass mit dem Eintreffen der russischen Panzerspitze täglich gerechnet werden musste. Da die Züge erst mit Einbruch der Dunkelheit fuhren, um im Schutz der Nacht vor russischen Tieffliegern verschont zu bleiben, hatte die Familie Dorfbrunner noch wenige Stunden, um sich von Freunden und guten Bekannten zu verabschieden, sofern sie nicht mit den Nachtzügen vorangegangener Tage Breslau bereits verlassen hatten.

“Das ist nun das Ende. Dann werden auch bald die Nazimäuler schweigen. Sie werden irgendwo untertauchen und die Verantwortung für das klägliche Ende mit der großen Katastrophe auf die Menschen abwälzen, die nicht ganz schuldlos sind, weil sie dem Teufel zur Macht verholfen und zu dem Teufelswerk geschwiegen oder noch mitgemacht haben, anstatt dagegen zu protestieren”, sagte Pfarrer Kannengießer. Er sagte weiter, dass es für ihn unfassbar sei, wie die braunen Horden mit dem Volk umgegangen seien, dass es so gequält und geschunden wurde. Die Arroganz kommt vor den Fall, aber nicht die unzählbaren Toten zum Leben zurück. Was neben dem Krieg an Menschen geschändet und getötet wurde, das werde in die deutsche Geschichte eingehen, woran noch viele Generationen zu tragen haben werden, wenn von den Schlachten an den Fronten längst nicht mehr gesprochen wird. Was in den Konzentrationslagern geschehen ist, das bleibt vor der Welt unentschuldbar. Allein dafür werde dem armen deutschen Volk das Zeichen der barbarischen Verbrechen auf die Stirn gebrannt, das da nicht mehr wegzukriegen ist. “Wir können dankbar sein, dass das braune Terrorsystem zu Ende geht”, sagte Pfarrer Kannengießer und weiter: “Was das Rätsel mit den sieben Siegeln bleibe, ist die bittere Tatsache, dass das deutsche Volk diesen Teufelsmann in den Sattel gehoben und das braune Terrorsystem bis zu diesem schmerzlich traurigen Ende geduldet und ertragen hat.”

Eckhard Hieronymus schwieg mit dem Gesicht der Verzweiflung. “Hätten wir in der Kirche mehr machen sollen, um es zu verhindern?”, fragte er. Pfarrer Kannengießer: “Mehr machen sollen? Sicher! Mehr machen können? Vielleicht. Das hing von jedem Einzelnen von uns ab, wie weit wir bereit und fähig waren, uns für die unterdrückten und gequälten Menschen und gegen die braune Barbarei im Allgemeinen einzusetzen. Machen wir uns nichts vor: Die Kirche hat kläglich versagt, wenn es um die Erfüllung des Auftrags ging, sich für die armen, wehrlosen und verfolgten Menschen einzusetzen. Wir als Kirchenmänner haben uns selbst zu ängstlichen Zuschauern degradiert, anstatt wie ein Paulus aufzustehen und die Verbrechen gegen die Menschheit laut und deutlich anzuprangern. Diese Zurückhaltung war ein Fehler, der dem Schweigen gleichkommt. Das werden wir vor Gott zu rechtfertigen haben. Dazu sollten wir uns jetzt schon unsere Gedanken machen und auch darüber Gedanken machen, wie wir unser klägliches Versagen vor der nächsten Generation erklären wollen, falls wir das Terrorsystem überleben sollten. Denn so dumm ist der menschliche Verstand nicht, als dass er sich da irgendwas erzählen lassen würde, wie das alles möglich war.” Eckhard Hieronymus schaute betroffen ins Gesicht von Pfarrer Kannengießer, weil er ihn verstanden hatte, dem nicht zu widersprechen war. Dabei dachte er an sein Parteiabzeichen, das er sich nach seinem Verhör bei der Gestapo im Haus der SA in der Kesselstraße 17 auf Anraten des Doppelagenten Rauschenbach anstecken ließ, wenn er es auch, soweit es möglich war, hinter dem Revers trug. Das bedrückte ihn, wenn er es auch für seine Familie zum Schutz seiner halbjüdischen Ehefrau Luise Agnes getan hatte. Doch wer hinter dem Revers etwas zu verstecken hatte, der versteckte gleichzeitig die andere Seite davor. Wie hielt er es mit dem Glauben, wenn dahinter das Parteiabzeichen steckte? Es war diese Frage, die ihm wirr durch den Kopf jagte und ihm heftige Kopfschmerzen machte.

Wie anders, wieviel mutiger war Pfarrer Kannengießer, der einige Male von der Gestapo verhört und im Verhörkeller geschlagen wurde und trotzdem so ein ‘Doppelgeschäft’ der Halbheiten nicht mitmachte! Er blieb fest auf dem Boden als Sprecher und Mahner für die wehrlosen und gequälten Menschen, und das gegen die Widerstände und Verwarnungen vonseiten der Gestapo. So war er ein treuer Diener des Herrn, der sich weder einschüchtern noch erschüttern oder anderswie schwach machen ließ. Da schnitt sich Eckhard Hieronymus mit dem Schuldgefühl des weltlich bedingten Kompromisses im Gewissen einige Treuescheiben von Pfarrer Kannengießer ab. Auf die Frage , ob er Breslau verlassen werde, wo doch die ersten russischen Panzerverbände nicht mehr weit seien und die Stadt aus tausend Rohren beschießen werden, gab der mutige Pfarrer ein klares Nein. Er werde die Stadt nicht verlassen, weil es in der Stadt Menschen gibt, die seinen Beistand brauchen werden. Er selbst hätte, weil er keine Familie habe, nur sein Leben zu verlieren. Dieses Leben habe Gott und den Menschen zu dienen, solange es geht. Diese Äußerung beschämte Eckhard Hieronymus, der sich in diesem Moment als ein Schwächling vorkam, weil er eben die Anstalten zur Rettung seines und des Lebens von Luise Agnes und Anna Friederike machte. Mit dem Gefühl der inneren Schwere blickte er durchs Fenster auf die Straße, wo die Menschen nach dem Verschwinden der russischen Tiefflieger hektisch zugange waren und ihre Sachen auf Leiterwagen luden und Richtung Bahnhof brachten, um sie einem Treckwagen eines Verwandten oder Bekannten aufzuladen, der gerade durch die Stadt fuhr.

Dunkle Zukunftswolken zogen vor dem inneren Auge auf, die im hohen Maße depressiv stimmten. Pfarrer Kannengießer mit dem Gespür für menschliche Stimmungen, besonders, wenn sie traurig-depressiver Art waren, bot dem Superintendenten einen Kornschnaps an. Dazu sagte er, dass das in diesen Tagen eine gute Medizin sei, die natürlich in Maßen eingenommen werden müsse, um die unerfreulichen Nebenwirkungen zu vermeiden, wie sie bei der Übermäßigkeit eintreten. Er selbst mache von dieser Medizin am Morgen und am späten Abend Gebrauch, was ihm einen Nachtschlaf beschere, von dem die meisten Menschen nur träumten. Eckhard Hieronymus sagte zu, Pfarrer Kannengießer füllte zwei Schnapsgläser, und sie stießen die Gläser aufs gegenseitige Wohl an. Beim Absetzen war das Glas von Pfarrer Kannengießer halb leer, während das Glas von Eckhard Hieronymus noch dreiviertel voll war. “Sehen Sie”, sagte Pfarrer Kannengießer, “Sie haben eine Familie, und ich habe keine. Sie müssen für ihre Familie sorgen, was ich nicht muss. Deswegen sollen und müssen Sie Breslau verlassen, bevor die Russen in der Stadt sind. Was meine Person angeht, so werde ich den Kampf um Breslau vom Fenster aus verfolgen. Doch hoffe ich, dass keine Granate durchs Fenster fliegt und das Dach über meinem Kopf wegreißt. Ich werde mein Tagebuch führen und aus den Eintragungen ein Buch schreiben, wenn ich dazu noch komme. Eckhard Hieronymus gab als Fluchtziel Bautzen an, jene Stadt an der Spree in der Oberlausitz, wo die böhmisch-slawische Kultur mit den bunten Trachten der Frauen und Mädchen hineinreicht und die Menschen neben der deutschen die sorbische Sprache sprechen. Es sei die Gegend seiner frühesten Vorfahren, die einen kleinen Bauernhof im Dorf Pommern betrieben und geschickte Brunnenbrauer waren, die mit Fleiß und Kenntnis des Bodens mit Wünschelruten die Wasseradern aufspürten. “Ich werde meine Adresse beim dortigen Pfarramt hinterlassen für den Fall, dass Sie das Schicksal gegen ihre Absicht aus Breslau verschlägt. Sie finden bei uns jederzeit eine herzliche Aufnahme.” Pfarrer Kannengießer dankte für die fürsorgliche Geste und wünschte dem älteren Kollegen und seiner Familie Gottes Schutz für die Flucht in den Westen. Eckhard Hieronymus trank das Schnapsglas aus. Beide sahen noch einmal aus dem Fenster über die Stadt. “Es ist eine alte und stolze Stadt, das Breslau am friedlichen Oderlauf”, sagte Eckhard Hieronymus beim Abschiednehmen. “Alt wird es bleiben, doch nicht mehr stolz. Das Breslau, wie wir es sahen, der Knotenpunkt, wo sich die Kulturen aus den vier Himmelsrichtungen trafen und friedlich nebeneinander und miteinander lebten, wird sich dem Ansturm russischer Panzerdivisionen ergeben, wenn es, weil es noch zur Festung gemacht wurde, zerschossen an Grund und Boden liegt. Die beiden Pastore verabschiedeten sich im stillen Wissen, dass es die letzte Begegnung gewesen war. Sie gaben sich die Hand und tauschten die guten Wünsche fürs Leben aus. “Behalten Sie Breslau im Herzen, so wie die Menschen Breslaus Sie im Herzen behalten werden.” Mit diesem Abschiedssatz brachte Pfarrer Kannengießer den Kollegen zum Ausgang, sah ihm noch eine Weile mit dem hinterher eilenden Gedanken “das war der Superintendent Dorfbrunner” nach. Er schloss, als der Superintendent in eine Seitenstraße abbog, die Haustür, verriegelte sie von innen und nahm die Treppe zur kleinen Dachwohnung im dritten Stock. Dort sah er aus dem Fenster des engen und überladenen Arbeitszimmers, sah, wie die Menschen hektisch aus den Häusern auf die Straße und von der Straße in die Häuser eilten, Koffer, Kisten und Kartons auf Leiterwagen luden und sie irgendwohin fuhren.

 

Das ist das Ende des Krieges, an dem sich das deutsche Volk verblutet hat. Nun wissen die Menschen mit ihrem Leben und der letzten Habe nicht wohin. Es ist ein Trauerspiel der unfassbaren Dimension, das sich auf den erhöhten Bühnen der Tragödienkunst gar nicht darstellen lässt. Das Format der Ungeheuerlichkeit vom Ausmaß größter Erschütterungen käme auf der Bühne nicht zur Geltung, bliebe in der Enge des Nachgestellten banal und stumpf. Die unsägliche Wirklichkeit der Aufregung mit den letzten Anstrengungen der Menschen, ihren Schweißgerüchen der Angst und ihrer Hektik bis zum Erschöpftsein in dem fürchterlichen Durcheinander, wie es aus dem Fenster des dritten Stocks zu sehen war, das konnte nur von der Straße her verstanden werden. Die Straße ist die grenzenlose Bühne vom Leben am Ende einer Tragödie von der Größe des Unaussprechbaren.”

Das sagte sich Pfarrer Kannengießer im Gedanken seines Vorsatzes, mit den Aufzeichnungen vom Ende des Krieges zu beginnen.

Eckhard Hieronymus beeilte sich, nach Hause zu kommen. Er hatte sich um eine halbe Stunde verspätet, und seine Gedanken eilten zu Luise Agnes und Anna Friederike voraus, die in großer Sorge auf ihn warteten. Auf dem Heimweg grüßten ihn Menschen mit den Worten: “Herr Superintendent, wollen Sie denn hier bleiben. Es ist doch höchste Zeit!”, oder “Jetzt geht es nur noch darum, das nackte Leben zu retten. Das ist doch fürchterlich.”, und “Die Russen kommen, da müssen wir gehen. Die werden keinen Stein auf dem andern lassen.”, oder “Soweit ist es nun gekommen. Unsere Männer und Söhne haben wir verloren, sie liegen irgendwo im Osten; andere sind in der Gefangenschaft. Wir werden noch den Rest verlieren. Sollte mein Mann von der Front zurückkehren, dann steht er vor der verschlossenen Tür.” Andere Menschen zogen mit Kindern, vollgepackten Kinder- und Leiterwagen schweigend an ihm vorbei. Auf allen Gesichtern standen Sorge und Angst vor dem Ungewissen, in das sie gingen. Die Hektik der Menschen auf dem Fluchtweg zerbrach das zivilisierte Gefüge des einstigen Zusammenlebens in erschreckender Weise. Das Feingewebe des Miteinanders riss an allen Ecken und Enden. Als wären die Menschen nicht mehr bei Trost. Sie gingen mit ihren Gedanken schweigend aneinander vorbei. Keiner wollte sich vom andern mehr stören lassen. Jeder wusste, dass das Sagen, Teilen und Mitteilen der guten Wünsche eine Illusion war, die hier nicht mehr hinpasste. So war jeder bis zum letzten Zipfel mit sich, den Kindern und der restlichen Habe beschäftigt. Die Alten, die sich schwach fühlten und wie alte Bäume nicht mehr verpflanzt werden wollten, überließ man sich selbst. Gute Bräuche einer alten Tradition verloren ihre Gültigkeit. Bänder der Kommunikation zerrissen, als hätte es sie nicht gegeben.

Eckhard Hieronymus kam zu Hause an und fand Luise Agnes und Anna Friederike in größter Aufregung. “Wo bleibst du nur?”, rief ihm Luise Agnes entgegen, “die Russen stehen mit ihren Panzern vor den Toren der Stadt. Wir waren in Sorge, dass dir etwas zugestoßen sei.” Jeder nahm seinen Koffer und eine Tasche. Sie verließen das Haus. Luise Agnes schloss die Tür von außen zu. Eckhard Hieronymus fuhr das Haus mit den Blicken das letzte Mal ab. Die Fenster waren geschlossen und die Gardinen vorgezogen. Sie eilten zum Bahnhof. Der Vorplatz, der von Schützengräben durchzogen war, war von Menschen überfüllt. Alle drängten zum Zug auf dem zweiten Gleis, weil das erste Gleis für die Durchfahrt von Wehrmachtzügen aus dem Osten reserviert war. Von den uniformierten Patrouillen und den Männern in den SA-Uniformen war nichts mehr zu sehen. Diese Uniformen waren offenbar an den Nagel der Vergangenheit oder des Irrtums gehängt worden. An einigen Verwaltungsgebäuden hingen noch die roten Fahnen mit den gekreuzten Haken. Die Menschen der Parteizugehörigkeit hatten sie hängen gelassen, weil sie in großer Eile waren, als sie von ihren Schreibtischen davonrannten und die Papiere der braun verkreuzten Bearbeitung, wenn sie nicht vorher verbrannt oder durch den Reißwolf gegangen waren, liegengelassen hatten, um dem roten Donnerbruch durch die Flucht zu entgehen und ihre schmutzige Haut zu retten. So gehörten die hängengebliebenen Fahnen an den verwaisten Gebäuden der vorgezogenen, beziehungsweise der Fünf-vor-zwölf-Vergangenheit an, wie auch die gefürchteten braunen Uniformen, die, wenn nicht zusammengerollt oder verbrannt, an die Nägel dieser Vergangenheit und des mitgemachten “Irrtums” gehängt worden waren. Mit dem Lauterwerden des Kanonendonners der anrückenden russischen Panzerverbände trat instinktiv das Gebot des Unkenntlichmachens des aktiven Dabeigewesenseins in Kraft. Es musste vertuscht werden, was gewesen war mit all seinen großen und kleinen bösen Taten. So zog man sich das Zivile an, verbrannte die Ausweise der Mitgliedschaft oder zerriss sie und warf die zerfetzte Mitgliedschaft mit den kleinen oder großen Parteiabzeichen der braunen, hakenverkreuzten Erhebungen in die Gosse oder in den Vorgarten des Nachbarn, wenn es zum Vergraben im eigenen Hintergarten nicht mehr reichte. Das Gebot lautete: Mach es so, als wäre nichts gewesen, wäre man selbst nicht dabei gewesen, und wenn was gewesen wäre, dass man von nichts was wusste.

In diesem Durcheinander wurden die Menschen sich selbst überlassen. Jeder musste sich den Weg zum stehenden Zug selbst bahnen. Doch gab es am Bahnsteig noch Jungen und Mädchen in den Uniformen der Hitlerjugend und des BDM, die alten Menschen und jenen Frauen halfen, die kleine Kinder mit sich führten. Mit Mühen erreichten die Dorfbrunners den Zug, der bereits überfüllt war. Die Erwachsenen bestiegen die Waggons durch die Tür, während Kinder durch die geöffneten Fenster von den helfenden Jungen und Mädchen in den Uniformen der Vergangenheit nach- und durchgereicht wurden, wenn die Mütter nach langem Schieben und Drängen einen Platz im Abteil ergattert hatten. Koffer und Taschen kamen meist durch die Fenster ins Abteil, wo sich freundliche Menschen bereit fanden, den letzten Dienst der engsten Nachbarschaftshilfe zu leisten. Der Kanonendonner nahm die gefürchtete Lautstärke an, dass Menschen vom Schlag der Angst des Nun-war-doch-alles-umsonst getroffen wurden. Die Dorfbrunners hatten in letzter Minute den Zug bestiegen. Sie mussten sich auf zwei Waggons verteilen, Eckhard Hieronymus im einen und Luise Agnes und Anna Friederike im andern. Zu einem Sitzplatz hatten sie es nicht geschafft; dafür waren sie zu spät gekommen. Der völlig überladene Zug setzte sich in der Dunkelheit einer kalten Januarnacht in Bewegung. Er kam nur langsam voran und auf Touren und verließ die Stadt in westlicher Richtung, als aus dem Osten die ersten Granaten aus russischen Panzern in der Stadt einschlugen. Die Stadt lag hinter ihnen, und das Grollen schießender Kanonen folgte dem Zug auf viele Kilometer. Eckhard Hieronymus hatte sich im Wagengang auf seinen Koffer gesetzt und schaute aus dem Fenster in die Nacht, die der zunehmende Halbmond in ein trübes Dämmerlicht setzte. Dörfer, an denen der Zug vorüberfuhr, waren zu Geisterdörfern geworden, aus denen die Menschen geflohen waren und den Großteil ihres Viehs zurückgelassen hatten. Kuhherden lagen und standen auf frostigen Böden, nicht anders die Rudel von Schafen in ihren Winterfellen. Sie sollten vor Schmerzen der prallen Euter brüllen, weil sie nicht mehr gemolken werden; sie alle sollten ohne Wasser und Futter mitsamt den Kälbern in den Bäuchen verenden. So folgte ein Geisterdorf nach dem andern im trüben Dämmerlicht, während kilometerlange Trecks von Leiterwagen, die mit Planen überzogen waren und ein- und doppelspännig von Pferden gezogen wurden, auf den Straßen Richtung Westen waren und vor den Gleisübergängen hielten. Es war die Auswanderung des schlesischen Volkes, ein Exodus unvorstellbaren Ausmaßes. Es waren Menschen, zu denen Gerhart Hauptmann zählte, die die deutsche Sprache und Kultur in dem östlichen Raum pflegten, mit Fleiß den Boden bestellten und es in Handwerk, Kunst und Wissenschaft zur Blüte führten.

Der Exodus in den langen nächtlichen Treck-Kolonnen entdeutschte die geliebte schlesische Heimat Zug um Zug. Die Angst vor den anrückenden Panzerverbänden und einfallenden Horden der Rotarmisten war übermächtig. Die deutsche Verteidigung war zusammengebrochen und zog sich in Richtung Berlin zurück. Die Menschen hatten keinen Zweifel, dass die zurückkehrenden und verbliebenen deutschen Kampfverbände der Verteidigung des ‘Führers’ in seinem Bunker und der braunen Führungsclique galt, nicht aber dem bis zur Erschöpfung geschundenen und wehrlosen Volk. Was die Menschen außer der Trauer um den großen Verlust auf den Wagen und in den Zügen, auf Fahrrädern und zu Fuß mit in den Westen nahmen, waren die Geschichten, Lieder und Märchen, waren die Erinnerungen von Wanderungen durch das Riesengebirge und entlang der Oder und Neiße, waren jene Erlebnisse, die viele Generationen mit Ehrfurcht und Stolz erfüllten. Sie nahmen die Liebe zur Heimat mit, deren Boden sich unter ihren Füßen Kilometer für Kilometer mehr entzog.

Gegen sechs Uhr morgens erreichte der Zug die niederschlesische Stadt Liegnitz. Langsam rollte der Zug in den Bahnhof ein. Die quietschenden Räder holten die Menschen aus dem schütteren Schlaf. Polizisten mit angeleinten Hunden und Soldaten mit hängenden Gewehren an den Schultern patrouillierten auf beiden Seiten die Bahnsteige auf und ab. Lokomotive und Tender wurden von der Wagenkette abgekoppelt, um mit Kohle und Wasser nachgefüllt zu werden. Eine harte Stimme schrillte durch den Lautsprecher, die verkündete, dass der Zug einen etwa einstündigen Aufenthalt habe, dass es den “Reisenden” untersagt sei, den Bahnhof zu verlassen, und dass jeder auf sein Gepäck aufzupassen habe. Jungen mit blassen Kindergesichtern in den Uniformen des Jungvolks und blassgesichtige Mädchen in BDM-Uniformen reichten weiße Pappbecher mit heißem saccharingesüßten Getreidekaffee durch die Abteilfenster und halfen alten Menschen und Müttern mit Kindern beim Aussteigen, um ihre Notdurft in den Bahnhofstoiletten zu verrichten und an den kleinen Waschbecken Hände und Gesicht zu waschen, weil die Toiletten in den Waggons ständig besetzt und die Schüsseln verstopft waren und aus den Wasserhähnen kein Wasser kam. Die Menschen nahmen auf ihren Toilettengängen leere Flaschen mit, die sie über verschmutzten Waschbecken mit Wasser füllten, an dem der Chlorgeruch war. Eckhard Hieronymus nahm seine Tasche mit, als er aus dem Wagen stieg, um Luise Agnes und Anna Friederike zu suchen, die zwei Wagen weiter vorn eingestiegen waren. Er fand sie in einem Abteil sitzend, wie sie geistesabwesend aus dem Fenster schauten. Er klopfte an das halb runtergelassene Fenster und bekam nach der Sekunde, die der Mensch braucht, wenn seine Gedanken von irgendwoher zur Realität des Daseins zurückkehrten, von beiden ein dürftiges Lächeln, das er sich mit der völligen Übermüdung der beiden erklärte. Sie erhoben sich und bahnten sich einen Weg durch den Gang nach draußen auf den Bahnsteig, wo sie sich umarmten, ohne dass Eckhard Hieronymus ihre Stirne küsste. Sie schauten sich an und wussten nicht, was sie sagen sollten. Dazu plärrte Marschmusik durch den Lautsprecher, als stünde der Endsieg kurz bevor, wo die “Reisenden” den Kanonendonner der russischen Panzer und die ersten Einschläge russischer Granaten in der Stadt noch im Ohr hatten, als der Zug Breslau verließ und das Röhren grollender Geschütze noch viele Kilometer in die Nacht hinein folgte. Zum äußeren Durcheinander kam die innere dazu. Eckhard Hieronymus meinte, dass die nächste Station Görlitz an der Neiße sei, die sie, wenn alles gut gehe, noch am Abend erreichen werden. Von dort sei es nach Bautzen nicht mehr weit. Luise Agnes und Anna Friederike ließen es sich sagen, ohne selbst etwas zu sagen, weil sie mit den Gedanken woanders waren, aber nicht auf dem Bahnsteig im Liegnitzer Bahnhof, der von uniformierten Patrouillen mit Schäferhunden an kurzen Leinen und schultergehängten Karabinern auf- und abgegangen wurde, wobei die rechte Hand der Patrouillengänger resolut den Schulterriemen vor dem Brustkorb nach vorne spannte. Hier gab es noch SA-Männer in den braunen Uniformen, die ruhelos mit abstoßenden Gesichtern nach dem ‘inneren Feind’ fahndeten.