Unvergessene Jahre

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Unvergessene Jahre
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Helmut Lauschke

Unvergessene Jahre

Erzählungen

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Unvergessene Jahre

Alfred Lehmann, gelernter Maurer

Kurt Götz, der Literat

Eckhard Hieronymus Dorfbrunner, ehemaliger Superintendent von Breslau

Drei Heimkehrer

Aus einem Brief

Impressum neobooks

Unvergessene Jahre

Erzählungen

Die Namen der Personen sind geändert.

Er spielte einen Satz aus dem Beethoven-Konzert. Nie hatte ich so reine Töne vernommen. Und in solcher Stille!

Es herrschte vollkommene Dunkelheit. Ich hörte nur die Geige, und es war, als diene Julieks Seele als Bogen. Er spielte sein Leben. Sein ganzes Leben glitt über die Saiten. Seine begrabene Hoffnung. Seine veraschte Vergangenheit, seine erloschene Zukunft. Er spielte, was er nie mehr spielen würde.

Ich werde Juliek nie vergessen. Wie könnte ich ein Konzert vergessen, das vor Sterbenden und Toten gegeben wurde! Noch heute, wenn ich Beethoven höre, schließen sich meine Augen, und der Dunkelheit entsteigt das bleiche traurige Antlitz meines polnischen Kameraden, der von einer Hörerschaft Sterbender Abschied auf der Geige nahm.

(Nach dem langen Marsch der ausgezehrten Häftlinge durch die Nacht bei dichtem Schneefall von Auschwitz nach Gleiwitz wegen Evakuierung des Lagers vor Ankunft der Roten Armee)

Elie Wiesel: “Die Nacht zu begraben, Elischa”

Alfred Lehmann, gelernter Maurer

Es war ein regnerischer Dienstagmorgen, als Alfred Lehmann aus dem Fenster seiner Dachwohnung auf die Straße blickte und den Berufsverkehr mit den Autos, Bussen, Motorrädern, Fahrrädern und Fußgängern verfolgte. Er hatte eine schlechte Nacht hinter sich. Die Rückenschmerzen hatten ihn geplagt, die er sich in seinem Beruf als Maurer zugezogen hatte und sich deshalb vorzeitig in Rente schicken ließ. Der Arzt sprach von Verschleiß der Wirbelsäule, wogegen medizinisch außer Schmerztabletten kein Kraut gewachsen sei. Da die Tabletten ausgegangen waren, wollte er an diesem Morgen zu seinem Arzt Dr. Brettschneider gehen, um sich neue Tabletten verschreiben zu lassen. Ein Telefon konnte er sich bei der kleinen Rente nicht leisten, dass er telefonisch einen Termin mit der Sprechstundenhilfe vereinbart hätte.

Alfred Lehmann war dreiundsechzig, mittelgroß und schlank. Sein Gesicht hatte sich die frühen Falten zugelegt, und die Haut hatte den leichten Graustich des vorzeitigen Alterns. Die Hände waren derb und verarbeitet. An beiden Händen waren Verletzungsfolgen zurückgeblieben. So fehlten an der rechten Hand die Endglieder des dritten und vierten Fingers, und an der linken Hand fehlte das Endglied des Daumens. Als Kind hatte er das linke Schlüsselbein und als Jugendlicher bei einem Motorradunfall einige Rippen am linken Brustkorb gebrochen. Er war Kind einer Arbeiterfamilie aus dem Ruhrpott mit vier anderen Brüdern und einer Schwester. Der Vater war mit sechsundfünfzig wegen einer Asbestose invalidisiert worden and mit einundsechzig verstorben. Die Mutter war an einem spät erkannten und nicht mehr heilbaren Brustkrebs verstorben, als er dreizehn war. Bei ihr hatte der Krebs auch zu Rückenschmerzen und zu einer ‘pathologischen’, so sagte es jedenfalls der Arzt, Oberschenkelfraktur am rechten Bein geführt. Der Vater hatte ein zweites Mal geheiratet. Aus dieser Ehe gingen zwei seiner jüngeren Brüder und seine Schwester hervor. Mit seiner Stiefmutter, die seines Erachtens viel zu jung für den Vater war, als er bereits in the Enddreißigern war, hatte er nie eine herzliche Beziehung aufbauen können. Die Situation hatte sich dermaßen zugespitzt, dass er die mittlere Reife sausen ließ und die Schule und das väterliche Haus, was eine Vierzimmerwohung im zweiten Obergeschoss war, verließ. Er ging in die Lehre als Maurer und lebte die Lehrlingsjahre in der Wohnung seines Onkels Gustav am anderen Stadtende, zu dem er ein herzliches Verhältnis hatte. Tante Emmi war einige Jahre älter als Onkel Gustav, die ihn, weil sie selbst keine Kinder hatten, wie einen Sohn aufnahm, bekochte und die Wäsche wusch. Onkel Gustav war einige Jahre jünger als der Vater und arbeitete als Vormann in einer Maschinenfabrik.

Alfred Lehmann war von seiner sechs Jahre jüngeren Frau Emilie seit mehr als zehn Jahren geschieden. Aus der Ehe, die seit weiteren zehn Jahren vorher nicht mehr stimmte, gingen die beiden Söhne Gerhard und Kurt hervor. Für die eheliche Verstimmung gab es zwei Gründe: einmal war es der Alkohol, den er mit jungen Jahren in der Stammkneipe konsumierte und häufiger als erlaubt betrunken nach Hause kam, und dann waren es die Perioden der Arbeitslosigkeit vor allem in den Wintermonaten, als das Geld knapp wurde und die Strom- und Wasserrechnungen verspätet gezahlt wurden. Einige Male kam der Mann von der Stadtverwaltung, nachdem die Mahnbescheide nicht pünktlich befolgt wurden, und drehte den Haupthahn zu, knipste die Hauptsicherung aus und plombierte den zugedrehten Wasserhahn und den verschlossenen Sicherungskasten. Das war die eine Seite der Medaille. Die andere Seite war, was aber nie eindeutig bewiesen wurde, dass Emilie eine Affäre mit einem Mann hatte, der etwa in seinem Alter war, aber um etliches besser aussah, ja attraktiv war. Emilie ging dieser Affäre für mehr als einem Jahr nach besonders dann, wenn Alfred in einer anderen Stadt zu mauern hatte und dort in der Betriebsbaracke übernachtete, oder mit großer Regelmäßigkeit in der Stammkneipe saß, den Alkohol konsumierte und spät, was oft erst nach Mitternacht war, zurückkam.

Die beiden Söhne Gerhard und Kurt gingen früh aus dem Haus, Gerhard als Zimmermann mit dem Gesellenbrief und Kurt, nachdem er sich zur Volksarmee gemeldet hatte. Gerhard hatte früh geheiratet und einen Sohn und eine Tochter. Doch auch seine Ehe wurde nach drei Jahren geschieden. Die geschiedene Frau nahm die Tochter Amalie mit, und der Sohn Andreas blieb beim Vater, der seit fünf Jahren die Frauen wie ein Hemd wechselte, das meist kürzer als ein Jahr, in einem Fall waren es anderthalb Jahre, ‘getragen’ oder als Frau ertragen wurde. Dabei waren die Frauen nicht immer passiv, dass einige von sich aus das Handtuch warfen und Gerhard verließen. Kurt, der vier Jahre jüngere Bruder, der zur Volksarmee eingezogen und zu Grenzwachen zunächst an der deutsch-polnischen Friedensgrenze, dann an der deutsch-deutschen Grenze im Süden der Republik nach Bayern hin und schließlich zur Bewachung der Küste und Küstengewässer gegen feindliche Objekte eingesetzt war, ist unverheiratet geblieben. Beide Söhne haben es beruflich zu etwas gebracht: Gerhard ist zweiter technischer Abteilungsleiter in der VEB-Möbelfabrik ‘Tisch und Stuhl’ im Bezirk Erfurt, und Kurt hat es aufgrund seiner sportlichen und militärischen Leistungen bei gleichbleibender Linientreue nach siebzehn Jahren Volksarmee zum Fregattenkapitän gebracht, was dem Rang eines Oberstleutnant entspricht. Er hat als junger Soldat gemeinsam mit den sozialistischen Waffenbrüdern an der Niederwerfung des Prager Aufstandes, der später der Prager Frühling genannt wurde, teilgenommen. Diese Teilnahme dürfte seine ‘sozialistisch-patriotische’ Haltung erneut unter Beweis gestellt und zur steilen militärischen Karriere im Deutschen Arbeiter- und Bauernstaat beigetragen haben.

Kurt hat den Vater nur selten besucht. Das war bis vor zweieinhalb Jahren, bevor er Fregattenkapitän geworden ist. Seitdem hat sich Sohn Kurt unsichtbar gemacht und in Schweigen gehüllt, obwohl er aus den Jahren der Grenzwachen nur wenig erzählt hatte, was sich in technischen Grenzen wie Motorschäden, Achsbrüche oder das schwierige Fahren durch hohen Schnee oder auf gefrorener Piste hielt. Ausnahmen waren die Erzählungen vom Angeln von Hechten und Karpfenfischen in den Zuläufen zur Oder, der natürlichen, mit chemischen und anderen Abwässern verschmutzten Friedensgrenze, die sich da romantisch ausnahmen, was Kurt auf zwei Male begrenzte, einmal unweit von Frankfurt an der Oder und das zweite Mal südlich von Stettin mit dem neueren polnischen Namen Szczecin.

Alfred Lehmann trank die zweite Tasse Kaffee zu Ende mit dem Fensterblick auf die Karl Liebknecht-Straße und den Ernst Thälmann-Platz mit den qualmenden Trabis, den Bussen, den motorisierten und per Fuß zu tretenden Zweirädern auf der nassen Straße und den Fußgängern auf den nassen Gehsteigen. Das Wort “Bürgersteig” war wegen seiner reaktionären Anrüchigkeit so gut wie aus dem Sprachverkehr gezogen worden. Es war der morgendliche Berufsverkehr, dass der beißend scharfe Gestank der Trabis und Zweitakt-Motorräder bis zum Dachgeschoss drang und Alfred Lehmann das Fenster ganz schloss, die ausgetrunkene Tasse auf der Spüle abstellte, den grauen Regenmantel überzog und sich auf den Weg zur Praxis von Dr. Brettschneider machte, um sich neue Schmerztabletten verschreiben zu lassen. Er schloss die Wohnungstür mit den drei kleinen Zimmern sorgfältig ab, drückte noch einmal auf die Klinke, um sicher zu sein, dass die Tür verschlossen war, und ging langsam die schmale Holztreppe mit den quietschenden, muldig ausgetretenen Stufenbrettern herunter. Im schmalen Flur des Erdgeschosses öffnete er den kleinen Briefkasten, der seit Monaten bis auf die regelmäßigen Zahlungsforderungen der Bezirksverwaltung ‘Stadt’ für Strom und Wasser keine persönlichen Briefe enthielt, die erwähnenswert wären.

 

Er legte die alte, renovierungsbedürftige Haustür bedächtig ins Schloss und machte sich auf den Weg. Wegen der Nässe hatte sich Alfred Lehmann auch die Schuhe angezogen, die vom Schuster Schlechtriem vor zwei Wochen mit neuen Sohlen und Absätzen bezogen wurden, um ein Ausrutschen zu vermeiden, was er mit den Rückenschmerzen schwer verkraften würde. Auf den Kopf hat er die abgegriffene schwarze Baskenmütze gesetzt, ein Erbstück seines Onkels Karl, der es ihm in einer Kriegsweihnacht geschenkt hatte, bevor er an der Ostfront gefallen war. Der feine Regen nässte das Gesicht, dass er in Abständen mit der bloßen Hand durch das Gesicht fuhr. Das Nass tropfte von der Nase, als er die Arztpraxis erreichte, die im Stadtzentrum, genauer in der Rosa Luxemburg-Straße nicht weit vom Platz mit dem Namen ‘Platz der Revolution’, gelegen war. Das Wort ‘Revolution’ bezog sich nicht auf die französische sondern auf die ‘glorreiche’ russische Oktoberrevolution. Alfred Lehmann nahm die Baskenmütze vom Kopf und schlug sie einige Male gegen den grauen Regenmantel, bevor er die Tür zur Praxis öffnete und wieder schloss und die wenigen Schritte zur Rezeption nahm. Die nicht mehr junge Sprechstundenhilfe saß mit blassem Gesicht und einer schmalen Nase hinter dem schmalen Tisch und blätterte in der Kladde, in der sie Namen auf beschriebenen Blattseiten durchstrich, andere Namen unten hinzufügte oder auf eine der nächsten leeren Blattseiten schrieb. Das Telefon klingelte, und Frau Speer, das war der sportbezüglich und deutsch-geschichtlich besondere Name der Sprechstundenhilfe, nahm den Hörer ab, ohne den Blick von den Kladdenblättern zu nehmen.

Alfred Lehmann stand geduldig vor dem schmalen Schreibtisch und kam nicht umhin, das Telefonat insoweit mitzuverfolgen, dass Frau Speer den Namen des Anrufers nannte, davon sprach, dass der Doktor in den nächsten Tagen ausgebucht sei, obwohl die folgenden Kladdenblätter nur wenige Namen trugen oder noch ganz leer waren. Frau Speer beendete das Telefonat und trug den Namen des Anrufers auf einer völlig leeren Blattseite ein, was nach Zahl der vorwärts geblätterten Seiten gut eine Woche später bedeutete. Der Hörer war aufgelegt und der Name notiert, als Frau Speer mit blassem Gesicht und fad-blauen Augen aufsah und den ‘guten Morgen’ erwiderte, den ihr Alfred Lehmann nach Abklopfen der nassen Baskenmütze und gleich beim Eintreten gewünscht hatte. “Sie kommen sicher wegen der Schmerztabletten”, sagte sie mit hellseherischer Bestimmtheit, die die volle Zustimmung von Alfred Lehmann fand. “Sie sagen es, die Schmerzen nehmen mir den Schlaf”, sagte er. Frau Speer machte sich eine Notiz und sagte, dass er am Nachmittag das Rezept abholen solle. Alfred Lehmann fragte, ob da nicht mehr zu machen sei. “Wie meinen Sie das?”, fragte die Sprechstundenhilfe zurück, ohne ihr blasses Gesicht mit den fad-blauen Augen vom Papier auf dem schmalen Tisch zu nehmen. “Ich meine, sollte nicht mal ein Spezialist nach meinem Rücken schauen?”, antwortete er. “Das müssen Sie den Doktor fragen”, war die Antwort. Alfred Lehmann blickte auf die leeren Stühle im angrenzenden Wartezimmer und fragte, ob er den Arzt sprechen könne. Frau Speer sagte, dass Dr. Brettschneider in der Poliklinik beschäftigt sei und dass ein Termin vereinbart werden müsse, um ihn zu sprechen beziehungsweise ihm die Frage bezüglich eines Rückenspezialisten zu stellen. Alfred Lehmann dachte an neue Röntgenaufnahmen der Hals- und Lendenwirbelsäule, da die alten Aufnahmen mehr als zwei Jahre zurücklagen. Er unterließ es, das Gespräch in dieser Richtung zu vertiefen und sagte mit Blick auf das dauergewellte dunkelblonde Haar der Frau Speer, dass er am Nachmittag wiederkommen werde, um das Rezept für die Schmerztabletten abzuholen. “Das geht in Ordnung”, erwiderte die Sprechstundenhilfe im herben Ton der subalternen Bestimmtheit und setzte das Vor- und Zurückblättern in der Kladde fort.

Alfred Lehmann verließ die Praxis, schloss die Praxistür und setzte sich die abgegriffene, nasse Baskenmütze, das kriegsweihnachtliche Geschenk seines Onkels Karl, wieder auf den Kopf. Der Regen nieselte weiter vor sich hin und nässte von neuem das Gesicht, dass er sich mit der bloßen Hand dann durch das Gesicht fuhr, wenn das Nass wie aus dem Kränchen von der Nase zu tropfen begann. Er machte noch einen Schlenker durch die Stadt und hatte sich vorgenommen, einen Bekannten in der Geschwister Scholl-Straße, einer kleinen Nebenstraße hinter dem ‘Platz der Revolution’ zu besuchen, den er vor einigen Jahren bei seinen Spaziergängen durch den kleinen Buchenwald außerhalb der Stadt kennengelernt hatte, als es mit dem Rücken noch besser ging. Der kleine Buchenwald hat seinen Namen behalten. Auf der rechts vom Weg zum Waldeingang aufgestellten Tafel von einer Größe von fünfzig mal fünfunddreißig Zentimetern stand geschrieben: “Im Gedenken der Opfer gegen den Nazi-Faschismus”. Alfred Lehmann wusste, dass der Bekannte so wie er selbst Mitglied der Partei mit dem ovalen Abzeichen mit dem Handschluss war und stellte sich daher auch die Frage, ob dieser Buchenwald spazierende Bekannte über die Parteimitgliedschaft hinaus noch weitere antifaschistische Horch-Aktivitäten betrieb, was aus den Gesprächen beim Nebeneinanderspazieren, die von seiner Seite deshalb behutsam geführt wurden, nicht herauszuhören waren. Er überquerte den ‘Platz der Revolution’, bog von der breiten ‘Straße des Widerstands’ in die dritte Nebenstraße, die Geschwister Scholl-Straße, links ab und blieb vor der Haustür mit der Nummer 17 und dem abblätternden fleckigen Grauputz stehen. Er drückte auf den Klingelknopf zum zweiten Obergeschoss und streifte mit der anderen Hand das Nass von der Baskenmütze. Er drückte das zweite Mal auf den Klingelknopf, als ein Fenster im zweiten Obergeschoss geöffnet wurde, und der Kopf von Otto Schulte mit dem grau-fahlen Gesicht eines gealterten Mannes mit schütterem Weißhaar und Stirnglatze von oben nach unten zum Hauseingang blickte.

“Ach Sie sind es, Lehmann. Ich drücke den Türöffner”, sagte Otto Schulte, zog den Kopf zurück, schloss das Fenster und drückte von oben den Türöffner. Alfred Lehmann schlug die nasse Baskenmütze einige Male gegen den Regenmantel, fuhr mit der Hand über das Haar und nasse Gesicht, legte die Haustür ins Schloss und nahm die Schritte durch den schmalen Flur im Erdgeschoss mit der Baskenmütze in der linken Hand. Er spürte beim Steigen der schmalen Treppe mit den muldig ausgetretenen Holzplanken den stechenden Rückenschmerz mit dem Muskelkrampf bis in beide Lenden, dass er mit der rechten Hand am Geländer entlangfuhr. “Das ist heute kein Wetter für den Buchenwald”, begrüßte ihn oben Otto Schulte vor der halb geöffneten Wohnungstür. “Kommen Sie rein. Den nassen Mantel legen Sie am besten über das Geländer”, fügte Otto Schulte der Vorsicht halber hinzu. Alfred Lehmann folgte der Hinzufügung, zog den grauen Regenmantel vor der Wohnungstür aus und legte ihn über das Geländer, das weiter zur Dachgeschosswohnung führte. So tropfte das Nass vom Kragen, den Mantelsäumen und Ärmelenden vom zweiten Obergeschoss den schmalen Treppenschacht herab bis zum Erdgeschoss.

Otto Schulte hatte den mitspazierenden Weggefährten durch den Buchenwald in besseren Tagen in das beengte Wohnzimmer geführt und ihm einen ausgesessenen schmalen Sessel in der Sitzecke vor dem Fenster zum Sitzen angeboten. “Was treibt Sie denn durch das unfreundliche Wetter?”, fragte Otto Schulte, der das offizielle Medienblatt ‘Neues Deutschland’ vom anderen ausgesessenen Sessel nahm, zusammenfaltete und auf den Boden links neben den Sessel legte. “Der Rückenschmerz”, antwortete Alfred Lehmann. “Wie kann ich das verstehen?”, fragte Otto Schulte und fügte hinzu: “Bei so einem Wetter kann doch der Rückenschmerz nur schlimmer werden.” “So ist es. Deshalb bin ich zum Arzt gegangen, damit er mir neue Schmerztabletten verschreibt”, erklärte Alfred Lehmann die Situation. Otto Schulte verstand die Situation und wiederholte, was er von einem der Gespräche der gemeinsamen Spaziergänge durch den Buchenwald wusste, dass der Rückenschmerz Folge eines Sturzes vom Gerüst sei, was Alfred Lehmann mit einem Kopfnick bestätigte. “Dann haben Sie aber schon viele Jahre diese Schmerzen”, folgerte Otto Schulte richtig und stellte die Frage, ob da nicht die Behandlung durch einen Wirbelsäulenspezialisten angezeigt sei. Alfred Lehmann verstand die Fragestellung und sagte, dass er auch daran gedacht habe. “Und was sagt ihr Arzt?”, erweiterte Otto Schulte die Fragestellung. “Der hält das offensichtlich für erfolglos. Jedenfalls hat er davon nichts gesagt. Ich kann aber nicht sagen, dass er an eine Spezialbehandlung nicht gedacht hat”, erwiderte Alfred Lehmann. “Dann müssen Sie ihn eben darauf ansprechen. Vielleicht lässt sich doch durch eine Operation eine Besserung erzielen”, schlussfolgerte Otto Schulte. Dieser Schlussfolgerung konnte Alfred Lehmann ebenfalls folgen, wenn er auch Bedenken hatte, ob eine solch aufwendiger medizinischer Vorgang, wie es eine Operation an der Wirbelsäule ist, einem Rentner als einem ‘Otto Normalverbraucher’ von staatlicher Seite zugestanden wird. “Versuchen können Sie es doch”, reagierte Otto Schulte auf die Bedenken des Spaziergangsgefährten durch den Buchenwald. Er bot sich gegenüber Alfred Lehmann sogar an, einem höher gestellten Funktionär im Ministerium für Volksgesundheit das Rückenproblem vorzutragen, um von höherer Stelle die nötige Unterstützung zu bekommen. Alfred Lehmann zog die Stirn in Falten und stellte sich die Frage, ob so etwas überhaupt möglich sei in einem sozialistisch reglementierten Arbeiter- und Bauernstaat. Auch wunderte sich Alfred Lehmann, dass Otto Schulte über solche höherreichenden Verbindungen verfügte, was ihn reflektorisch auf den Verdacht eines ‘antifaschistischen Horchlöffels’ brachte, wofür er aber bislang keinerlei Anhaltspunkte bei den gemeinsamen Spaziergängen durch den Buchenwald herausgehört hatte.

Otto Schulte erwähnte, dass er einen Sohn im Zentralkomitee sitzen habe, der einiges möglich machen kann, was ein gewöhnlich Sterblicher im Staat der sozialistischen Errungenschaft und Verbrüderung, wenn überhaupt, nur schwer erreichen könne. Alfred Lehmann nahm es zur Kenntnis, ohne weitere Fragen bezüglich des hoch angekommenen Sohnes zu stellen. Er dachte dabei an seinen Sohn Kurt, der es zum Fregattenkapitän bei der Volksarmee gebracht hatte, den er wegen seiner Rückenschmerzen hätte ansprechen können, was er jedoch nicht getan hatte, weil er auf die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz und in der medizinischen Betreuung in diesem Staat vertraut hatte, aber von der Ungleichheit vor beidem, dem Gesetz und den medizinischen Möglichkeiten, enttäuscht worden war. Die sozialistischen Errungenschaften hatten eine politische Eliteklasse, die Nomenklatura, hervorgebracht, der er als ‘Otto Normalverbraucher’ eben nicht angehörte und die Alfred Lehmann als eine chauvinistische Missgeburt betrachtete. Otto Schulte führte das Gespräch auf die überteuerten Lebensmittelpreise in den Läden der staatlichen Handelsorganisation und sagte, dass er sich schwerlich vorstellen könne, wie sich eine kinderreiche Familie mit nur einem verdienenden Brotbringer ordentlich ernähren könne. “Von Luxusartikeln wie einem Trabi oder qualitativ hochwertigen Geräten oder einer anspruchsvollen Kleidung will ich gar nicht reden. Da wird doch eine Zeitbombe gesetzt, die spätestens in der nächsten Generation hochgehen kann”, sagte Otto Schulte. Alfred Lehmann staunte über die offene, nicht-konforme Äußerung und stellte sich vor, wie der hochgestellte Sohn vom Zentralkomitee mit hochgezogener Stirn auf seinen Vater herabgeblickt und ihn zur sozialistischen ‘Ordnung’ oder Linientreue ermahnt hätte.

Otto Schulte sah ihn mit dem grau-fahlen Gesicht mit den Falten um die blauen Augen und dem schütteren ergrauten Haar mit der Stirnglatze an, als erwartete er eine Antwort. “Ich stimme ihnen zu, dass das Leben im Sozialismus teuer geworden ist, dass es ein Einzelner gar nicht schaffen kann, eine Familie mit mehr als einem Kind zu unterhalten”, erwiderte Alfred Lehmann. Darauf meinte Otto Schulte, dass die Geburtenkontrolle eine preisgebundene sei, worin sich der Sozialismus nicht vom Kapitalismus unterscheide. Die Äußerung setzte Alfred Lehmann in stärkeres Erstaunen, dass der Spaziergangsgefährte durch den Buchenwald den Sozialismus mit seinen Errungenschaften auf eine Stufe mit dem Kapitalismus setzte. Eine innere Stimme sagte ihm, vorsichtig wenn überhaupt auf diese Äußerung zu reagieren. “Da müssen eben beide Eltern arbeiten. Da meine ich unterscheidet sich die sozialistische Gesellschaft von der kapitalistischen, dass in diesem Arbeiter- und Bauerstaat jeder Arbeit findet, wenn er arbeiten will. Arbeitslosigkeit kennt der Sozialismus im Gegensatz zum Kapitalismus nicht.” Das war die Resonanz von Alfred Lehmann auf die sozialistisch-kritische Äußerung von Otto Schulte bezüglich der preisgebundenen Geburtenkontrolle, wobei er der inneren Stimme zur Vorsicht gefolgt war.

 

Otto Schulte holte eine Flasche Pils der VEB-Brauerei Wismar und zwei Biergläser und füllte beide Gläser. “Trinken wir auf die sozialistische Zukunft.” Mit diesem Trinkspruch erhob er das Glas und sagte ‘prost’. Alfred Lehmann folgte, hob sein Glas mit dem Gegenprost und spülte mit dem zu wenig gekühlten Bier den bitteren Beigeschmack mit der sozialistischen Zukunft von der Mundschleimhaut. “Wissen Sie”, fuhr Otto Schulte fort und setzte das Glas auf die verkratzte Glasplatte des kleinen Klubtisches, “ich habe mir die sozialistischen Errungenschaften etwas anders vorgestellt. Ich hatte die Vorstellung, dass sich der Sozialismus durch eine gerechte Güterverteilung nach dem Gleichheitsprinzip vom Kapitalismus unterscheidet. Es hat sich aber eine Zweiklassengesellschaft herausgebildet, in der die Staatsfunktionäre oben die Sahne abschöpfen und die Magermilch für den Normalverbraucher unten übrig bleibt. Das verstößt meines Erachtens gegen das Gleichheitsprinzip. Was meinen Sie dazu?” Alfred Lehmann nahm einen Schluck vom zu wenig gekühlten Bier, setzte das Glas zurück und sagte, dass er da nicht widersprechen könne. “Dann teilen Sie auch meine Meinung”, fuhr Otto Schulte fort, “dass ein unausgewogener oder ungleich hantierter Sozialismus die Gefahr des Weg- oder Umkippens habe, wenn das System auf unsoliden Säulen ruht. Aber gerade das braucht unser neues Deutschland nach den beiden großen Kriegen nicht, und spätestens die junge Generation wird auf die Ungleichheit der Behandlung mit einem Sturm der Empörung reagieren. Sie wird die Oberklasse der Funktionäre als die neue Ausbeuterklasse brandmarken, die den Fleiß der arbeitenden Klasse zu ihrem Vorteil ausbeuten und durch ihre Raffgier den Sozialismus ruinieren und letztendlich als ein ausgehöhltes totes Gebilde zum Einsturz bringen.”

Alfred Lehmann war sprachlos über die offene Kritik in der Handhabung des Sozialismus im neuen Deutschland und wusste der Kritik weder etwas hinzuzusetzen noch sie anhand von Tatsachen abzumildern. Er entschuldigte sich damit, dass er zur Praxis seines Arztes gehen müsse, um das Rezept für die Schmerztabletten abzuholen, obwohl der Abholtermin erst für den Nachmittag vereinbart war, weil Dr. Brettschneider den ganzen Vormittag in der Poliklinik beschäftigt sei, wie Frau Speer, seine Sprechstundenhilfe, sagte. Alfred Lehmann drank das Glas aus und stellte es auf die verkratzte Glasplatte des kleinen Klubtisches. Otto Schulte begleitete ihn vor die Wohnungstür und sah zu, wie Alfred Lehmann den grauen Regenmantel vom Treppengeländer nahm und sich anzog und die abgegriffene schwarze Baskenmütze, das Erbstück seines Onkels Karl auf den Kopf setzte und in die richtige Position schob. “Ihrem Rücken wünsche ich eine gute Besserung”, sagte Otto Schulte, während sich Alfred Lehmann den Regenmantel zuknöpfte und mit der linken Hand noch einmal über die Baskenmütze strich. “Denken Sie daran, den Arzt auf die Spezialbehandlung bei einem Orthopäden anzusprechen. Wie gesagt, ich könnte in dieser Sache mit einem höhergestellten Funktionär im Ministerium für Volksgesundheit sprechen, um eine operative Behandlung mit einer statistischen Wahrscheinlichkeit zu ermöglichen.” Nach diesem Schlusskommentar von Otto Schulte gaben sich beide die Hand, und Alfred Lehmann dankte für das Bier und das Angebot. Sie gingen auseinander, Otto Schulte zurück in die Wohnung, wobei er die Wohnungstür leise in Schloss legte, und Alfred Lehmann die Treppe herunter mit den ausgetretenen quietschenden Stufenplanken und der linken Hand am Geländer wegen der erheblichen Rückenschmerzen, die in beide Lenden ausstrahlten. Er drehte am Knopf und zog den Schließbolzen der Haustür zurück und schloss die Haustür mit dem Schnapplaut des Verschlusses.

Der Nieselregen dauerte an, und Alfred Lehmann fuhr mit der bloßen Hand durch das nasse Gesicht, als er den ‘Platz der Revolution’ erreichte und in Richtung Bäckerei Pollack am anderen Platzende ging, um dort eine Tasse Kaffee zu trinken und ein belegtes Brötchen zu essen, das für den Mittag reichen sollte. Frau Pollack begrüßte ihn freundlich mit den Worten: “Eine Tasse Kaffee und ein Brötchen mit frischer Leberwurst”. Alfred Lehmann nickte und hängte den tropfenden Regenmantel und die Baskenmütze so an den Ständer, dass der Mantel auf einen ausgelegten Scheuerlappen tropfte. Er nahm am kleinen Fenstertisch mit der runden Tischplatte Platz und wartete auf das Bestellte, während er aus dem Fenster sah und den Verkehr auf der nassen Straße mit den quäkenden und qualmenden Trabis und Zweitakt-Motorrädern und die vorübergehenden Fußgänger auf den mit Pfützen überzogenen Gehsteigen verfolgte und in Gedanken bei dem Gespräch mit Otto Schulte war. Frau Pollack setzte die Tasse Kaffee mit Teelöffel und zwei Zuckerwürfeln auf der Untertasse und ein Schälchen mit Trockenmilch und den Teller mit dem Leberwurstbrötchen auf die runde Tischplatte und wünschte dem Gast einen guten Appetit. Da kein weiterer Kunde im Geschäft war, kam es zu einem Gespräch, in dem Frau Pollack fragte, ob Alfred Lehmann auch davon gehört habe, dass viele DDR-Bürger über Ungarn und die Tschechoslowakei die Republik verließen, um in den Westen zu kommen. Einige Hundert hielten sich auf dem Gelände der westdeutschen Botschaft in Prag auf und weigerten sich, in die DDR zurückzukehren. Sie würden von der Botschaft mit Essen versorgt. Sogar Zelte seien von der Botschaft aufgestellt worden. Alfred Lehmann schaute auf das Leberwurstbrötchen und hatte das Bild des Untergangs der Republik vor dem geistigen Auge, als er leise sagte, dass er auch davon gehört habe und sich nicht vorstellen könne, wie es mit der Republik weitergehen soll. Darauf sagte Frau Pollack, dass sie seit Jahren das ungute Gefühl hätte, dass der Sozialismus durch das Schmarotzertum der Funktionärsklasse bald am Ende sei. “So etwas kann doch auf Dauer nicht gutgehen, wie die sich da oben in Berlin benehmen und alles unter den Nagel reißen und wie die Maden im Speck mit westlichem Luxus leben. So etwas ist doch nicht in Ordnung. Das hat doch mit Sozialismus nichts mehr zu tun”, erregte sich Frau Pollack.

Ein Kunde betrat die Bäckerei, und Frau Pollack ging zur Theke zurück. Alfred Lehmann aß das Brötchen mit dem Appetit des leeren Magens und sah dabei aus dem Fenster. Nach dem Gespräch am kleinen runden Tisch betrachtete er die vorübergehenden Menschen im Nieseldauerregen mit ‘anderen’ Augen und erkannte in ihren Gesichtern die Zeichen der Unzufriedenheit, die ihm so deutlich vorher nicht aufgefallen waren. Das mit dem weniger Aufgefallensein hatte auch mit seinen Rückenschmerzen zu tun, dass er in den letzten Wochen und Monaten seltener einen Gang durch die Stadt unternommen und sich mehr in seiner Dachwohnung aufgehalten hatte mit dem Blick durch das Dachfenster auf die Straße oder Zeitung lesend, wobei sich die Zeitung auf das ‘Neues Deutschland’ beschränkte, in der von solchen unzufriedenen Gesichtern in keinem der Artikel die Rede war. Im Gegenteil, die Leitartikel auf den Frontseiten und die anderen Artikel auf den folgenden Seiten priesen in unverminderter Großherrlichkeit die Errungenschaften des sozialistischen Aufbaus und die Unterstützung afrikanischer Länder im Befreiungskampf gegen Apartheid und Kolonialismus. Schwarze Kinder aus Mosambik und Namibia wurden in der DDR aufgenommen, wo sie in Stassfurt zur Schule gehen und in Heimen untergebracht und großzügig versorgt werden. Afrikaner studieren an den Universitäten der DDR. Doch die Gesichter der Bürger der DDR verrieten, dass es mit der Praxis des Sozialismus nicht stimmte. Die Zeitbombe, von der Otto Schulte sprach, tickte. Es war eine Frage der Zeit, dass das missbrauchte Volk auf die Straße gehen und gegen die Beton- und Schröpfköpfe eines ausgehöhlten, maroden und verkalkten Systems protestieren würde. Die Werte einer guten Ideologie waren verbraucht. Die Theorie des Sozialismus mit der gerechten Güterverteilung scheiterte an der orthodoxen Engstirnigkeit, dem Lügenmaul und der rücksichtslosen Verschwendungssucht der Funktionäre. Sie sind die Ausbeuter am Volk und die Verräter an einer guten Sache mit einer guten Idee, die für die Verrottung und den Untergang des Sozialismus verantwortlich zu machen sind.