Der Teich der Tränen

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Der Teich der Tränen
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Inhaltsverzeichnis

Titel

Über die Autorin

Impressum

Widmung

Prolog

I: Licht am Firmament

II: Eine kleine Seejungfrau

III: Der Oger

IV: Früchte der Verdorbenheit

V: Der Geschmack von Meerschaum

VI: Vergiftete Herzen

VII: Flucht in die Vergessenheit

VIII: Das Märchen vom Mondschatten

IX: Besuch der Finsternis

X: Eine Reliquie

Epilog

Der Teich der Tränen

Isabelle Kerani

Über die Autorin


Isabelle Kerani wurde in der Schweiz geboren und studiert zurzeit „Nahost-“ und „Zentralasien-Studien“ an der Universität Bern. Sie begann ihre Geschichten schon vor dem schulischen Alter ihren Eltern zu diktieren und verfasste später kleine Romane und groteske Erzählungen. „Der Teich der Tränen“ ist ihr erstes veröffentlichtes Werk.


1. Auflage

Taschenbuchausgabe Februar 2016

epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

Copyright © der Originalausgabe 2016 von:

Mirjam Hafner

Gibelmatte 14

6166 Hasle LU

Schweiz

Alle Rechte vorbehalten.

Quelle der Umschlagabbildungen: www.fotolia.com

Umschlaggestaltung: Simon Hafner

Printed in Germany

ISBN: 978-3-7375-8927-7

www.isabellekerani.com

FÜR FRANZ KAFKA

Prolog

Wohl hinterlassen Tränen einen großen Eindruck bei den Menschen, wenn sie wie kleine, schimmernde Perlen an den Wangen dahinschmelzen und das Licht des Tages sich in ihren durchsichtigen Körpern verfängt. Aber nur die wenigsten haben sich auch Gedanken darüber gemacht, was mit ihnen passiert, wenn sie aus dieser Welt verdunstet sind. Ich hätte es mir lange Zeit selbst nicht vorstellen können, aber heute weiß ich mit großer Bestimmtheit, dass alle vergossenen Tränen schließlich in ein besonderes Land reisen, welches fernab von unserer Welt liegt und nur durch ein geheimes Tor erreicht werden kann. Dieses Land wird „Reich der Tränen“ genannt. Ich persönlich habe es noch nie gesehen, aber ich weiß eine Geschichte darüber zu erzählen, welche mit meiner vollen Bürgschaft wahr ist und die ich mein ganzes Leben nie wieder vergessen werde. Schenkt mir nur ein wenig Zeit, setzt euch hin und hört mir gut zu. Vielleicht werdet ihr dann einiges aus dieser Geschichte an euch wiedererkennen und ihr werdet verstehen, dass unser Leben eng mit dem Erdachten zusammenhängt, um dem genauen Betrachter ebenso Erstaunliches anzubieten, wie ein fantastisches Märchenbuch selbst.

Das Reich der Tränen ist ein Kosmos für sich und liegt unveränderlich und gut behütet von einem sanftmütigen Wesen, umkreist von einem gewaltigen Tannenwald, in der Mitte eines vergessenen grünen Tals. Dort steht seit unzählbaren Jahrtausenden der Palast des Wächters erbaut, der von einem uralten Himbeergarten umgeben wird. Im Herzen dieses Gartens wiederum befindet sich ein kleiner Teich, an dem der Hüter des geheimen Landes jeden Abend vorübergeht, um die vergossenen Tränen der Menschen und Tiere zu überprüfen, die darin gelagert werden.

Lange Zeit lebte dieser Wächter allerdings nicht alleine und unsere Geschichte hätte niemals ihren Lauf nehmen können, hätte er nicht auch noch eine Tochter gehabt, die sich durch den ungewöhnlichen Namen „Honeybean“ auszeichnete. Diese Tochter des Wächters war ein graziles kleines Wesen, das leicht mit einem jungen Menschenmädchen verwechselt werden konnte, ihre graugrünen Augen jedoch bargen einen überirdischen Schimmer in sich und das Antlitz der Honigbohne war von solch makelloser Reinheit, dass dessen Anblick einen gewöhnlichen Sterblichen glauben ließ, einer Fee oder einem wahrhaftigen Engel gegenüberzustehen. Honeybean spazierte tagein, tagaus von aller Welt unbemerkt unter dem grünen Blätterwerk des Himbeergartens umher, wo ihr die zahmen Hummeln zu den liebsten Gefährten zählten. Dabei verspürte sie weder Hunger, Durst, noch das Bedürfnis, jemals schlafen zu gehen. Mit der Zeit jedoch geschah es, dass sich ein arglistiges Gefühl in ihr Leben schlich, welches in ihr die Langeweile aufkeimen ließ. Es war also nicht verwunderlich, dass dem Mädchen eines Tages plötzlich der Gedanke kam, sich die Tränen im Teich, denen sich zu nähern ihr der Vater strengstens verboten hatte, einmal genauer anzusehen.


An diesem Punkt sind wir nun also am Beginn unserer Erzählung angelangt: Vorsichtig legte das Mädchen die katzengroße Hummel, die eben noch auf ihrem Schoß gelegen hatte, auf den Boden und verließ den Garten, um sich mit wachsender Aufregung dem Innenhof zu nähern. Als Honeybean schließlich am Rand des Wassers angekommen war, schwammen ihr die kleinen Fische, deren Schuppenkleider golden, weiß und in kräftigem Orangerot schimmerten, neugierig entgegen und streckten ihr die Köpfe mit weit aufgerissenen Mäulchen aus dem frischen Nass entgegen. Da beugte sie ihre Knie hinab zum Wasser und wollte die glatte, klare Oberfläche mit ihren Händen berühren. Als ihre Fingerkuppen schließlich aber mit den ersten Tropfen im Teich zusammentrafen, ging ein eigenartiger Schauer durch den Körper des Mädchens und es war ihr, als sei sie mit einem Mal aus der vertrauten Umgebung des Palastes geschleudert worden. Die verschiedensten Menschengesichter zogen an ihren Augen vorbei, einige so eigentümlich von Schmerz oder Freude verzerrt, dass Honeybean, welche weder Glück noch Leid kannte, ein unwillkürlicher Schrei des Erstaunens entfuhr. Erschrocken riss sie sich zurück zur Bank am Rande des Wassers und verweilte dort eine Weile zitternd und in vollkommener Regungslosigkeit. Als sie über alles nachgedacht und sich wieder etwas beruhigt hatte, beschloss das Mädchen, am nächsten Morgen zurückzukehren und das seltsame Geheimnis des Teiches auf eigene Faust zu ergründen. Sie wagte nicht, ihren Vater danach zu fragen, der stets beschäftigt in seinem Büro saß und es bestimmt nicht gern gehört hätte, dass sie sich ohne seine Erlaubnis so nah an das Wasser der Tränen herangewagt hatte. So geschah es, dass Honeybean, die sich für ihre Forschungen eigens ein Sieb beschafft hatte und nun vorsichtiger zu Werke ging, um jeweils nur einen Tropfen des Teichs auf ihre Fingerspitze fallen zu lassen, langsam dahinter kam, dass es sich beim Inhalt des verbotenen Nasses um die zu Salzwasser geronnenen und konservierten Gefühle von anderen Lebewesen handeln musste. Als sie die einzelnen Tränen der fremden Menschen und Tiere berührte, wurde sie für eine kurze Zeit in deren Gefühlswelt zu jenem Zeitpunkt zurückversetzt, in dem sie die kostbaren Perlen der Trauer oder der Freude geweint hatten. Das Mädchen war dadurch im Stande, die geheimsten Augenblicke im Leben ihr völlig fremder Geschöpfe zu beobachten und geriet schließlich so sehr in deren Sogkraft, dass sie den Himbeergarten und die Hummeln sowie ihr eigenes Leben in der Gegenwart vollkommen vergaß. Fortan schlich sie sich jeden Morgen zum Teich und verlor sich in einer seiner Tränen, um den Rest des Tages auf einer Bank im Innenhof zu sitzen und stundenlang über das Erlebte zu grübeln. Ihr Vater, der tagsüber in seinem Arbeitszimmer verweilte, bemerkte von allem nichts.


So nahte jener schicksalshafte Morgen, an dem Honeybean zum allerletzten Mal von den Erinnerungen des verbotenen Teichs kosten sollte. Wie jeden Tag schaute sie sich erst einmal genau um, ob nicht eine traurige Hummel ausgezogen sei, um sie zu suchen - und lief dann, nachdem sie niemanden hinter den breiten Säulen des Hofs entdecken konnte, entschlossen los, um sich die nächste Träne aus dem Wasser zu fischen. Ihre nackten Füße huschten eilig über den warmen Marmorboden - und als wäre es ein langgeübter Tanz - gingen die geschmeidigen Bewegungen des Mädchens vor dem Rand des Teiches in eine Verbeugung zum Gewässer hin über und die Hände zitterten ihr leicht, als sie die erste vom Sieb herabfallende Wasserperle mit ihren schmalen Fingern berührte. Auch dieses Mal verschwand der Geruch der reinen Frühlingsluft und das ferne Summen der riesenhaften Insekten im Himbeergarten um sie herum abrupt und tiefe, undurchdringliche Dunkelheit umringte Honeybean. So dicht und schwer erschien ihr der Geruch des finsteren Zimmers, in dem sie sich jetzt befand, dass sie kaum noch zu atmen wagte. Das Mädchen stand in einer Ecke und konnte erkennen, dass die Vorhänge vor den breiten Fenstern des Raumes eng zugezogen waren. Von draußen her versuchte das schummerige Licht einer künstlich beleuchteten Außenwelt hereinzudringen, der Rest des Zimmers blieb ihr jedoch verborgen. So wartete sie einen Augenblick lang vergebens auf Geräusche, welche ihr die Anwesenheit eines weinenden Wesens verraten hätten. Es war tatsächlich, als sei die ganze Welt zu einem bewegungslosen Eisblock eingefroren worden. Honeybean verharrte geräuschlos an ihrem Platz und hätte schließlich fast die Geduld verloren, als sich auf einmal etwas in den Schatten des stillen Zimmers zu regen begann, um sich schwerfällig aufzurichten. Für das Mädchen war klar, dass es ein menschliches Wesen sein musste, welches sich nun langsam zu den Fenstern mit den undurchdringlichen Vorhängen hinbewegte und dabei erstaunlich geräuschlos an ihr vorüberzog. Der junge Mann, obwohl groß und schlank, schien beim Gehen von einer schweren, unsichtbaren Last niedergedrückt zu werden und sein Körper verströmte bei jedem weiteren Schritt den eigentümlichen Geruch von mit einer scharfen Axt angeschlagenem, blutendem Holz. Honeybean zwang sich zur Konzentration und richtete all ihre Aufmerksamkeit auf den Rücken jener dem Fenster zugewandten Gestalt, welche ihre Arme noch immer regungslos hängen ließ. Dann aber ging auf einmal eine feine Bewegung durch den Körper des Mannes und er hob seine Hand, um den Stoff des Vorhangs einen winzigen Spaltbreit beiseite zu schieben. Das Mädchen hielt seinen Atem an und stutzte. Wie der fahle Mond bei abnehmender Form wurde nun auch das Gesicht des jungen Mannes bloß ein kleines Stück vom weichen, hereinströmenden Licht der nächtlichen Stadt unter ihnen beleuchtet, doch genügte dies schon, um ihr Herz auf erschreckende Weise zum Stocken zu bringen. Noch nie, so erschien es Honeybean, hatte sie ein so schönes und eigentümlich zusammengestelltes menschliches Gesicht erblickt, welches die Klugheit und den Stolz eines wilden Fuchses besaß und in diesem einen Moment doch auch eine so tiefe Traurigkeit ausstrahlte, dass man in den grünen Augen jenes Menschen die Verlorenheit eines sterbenden Hirschkindes erblickte. Sie hätte noch eine ganze Weile in der Ecke des stillen Raumes dasitzen können, bloß um die Tränen auf den Wangen jenes Fremden zu betrachten, genau im nächsten Augenblick jedoch begannen sich die Umrisse um sie herum plötzlich aufzulösen und das Mädchen fiel in ein tiefes schwarzes Nichts. Danach fand sie sich bestürzt auf dem Boden vor dem Teich in ihrem altbekannten Palast wieder. Neben ihr saß eine herbeigeflogene Hummel und untersuchte sie aufgeregt mit den Fühlern. Das Tier schien zu spüren, dass das Mädchen sich einem merkwürdigen Wandel unterzogen hatte, konnte die Ursache der Veränderung aber noch nicht erkennen. Honeybean indessen richtete sich benommen auf, um zu einer der Bänke ganz in der Nähe zu gehen. Sie ließ sich darauf niedersinken und verspürte mit einem Mal einen stechenden, tiefen Schmerz, der sich von ihrer Brust aus in den ganzen Körper auszubreiten schien. Dieser Schmerz, so dachte das Mädchen nun bei sich, musste von der Gewissheit herrühren, dass sie das wundervolle Antlitz des ihr vollkommen unbekannten jungen Mannes nie wieder sehen würde. Seine Träne war verbraucht und eine weitere aus den gleichen Augen im Meer des Teiches wiederzufinden schien so gut wie unmöglich. Von diesem Tage an verlor sie allen Mut und alle Kraft, um wie eine leere Hülle durch das üppige Grün und den Innenhof des prächtigen Palastes zu wandeln. Die Hummeln im Himbeergarten jedoch liebten das Mädchen so sehr, dass sie bald einen Entschluss fassten und ihre Königin als Sprecherin vor die Füße der unglücklich Verliebten schickten. Es war um die Mittagszeit, als sich der pelzige, runde Körper des riesenhaften Tieres gemächlich von seinen Flügeln durch die Luft tragen ließ, um mit einem tiefen Brummen schließlich im Innenhof zu landen. Dort stand schon das Mädchen und starrte gedankenverloren auf den Teich hinaus. Mit den Gebärden ihrer zwei Fühler machte die Hummelkönigin auf sich aufmerksam und überbrachte Honeybean die Botschaft ihres Volkes:

 

„Liebe Honigbohne, es ist lange her, seit wir etwas von Euch gehört haben und wir sind sehr besorgt um Euren geistigen Zustand, der sich stetig zu verschlechtern scheint. Uns ist auch nicht entgangen, dass Ihr diesen Teich hier nun unserem Garten vorzieht und tagein, tagaus vor seinem Wasser weilt. Wir haben nicht die Geduld, noch längere Umschweife zu machen und nennen Euer Geheimnis darum gleich beim Namen, das uns durch kurze Überlegung sofort offenkundig geworden ist. Ihr müsst Euch dem Teich verbotenerweise genähert haben und in seinen Bann gefallen sein, wie es unumgänglich ist für alle, die sich dem Rat Eures Vaters widersetzen.“

Da erwachte Honeybean aus ihrer Teilnahmslosigkeit und ihre hübschen Wangen, die zuvor noch blutleer schienen, verfärbten sich mit einem Mal wieder rot. Sie wollte etwas erwidern, doch die Königin fuhr fort:

„Keine Angst, wir beabsichtigen nicht, Eurem Vater etwas davon zu erzählen. Wir wissen gut genug, dass der Schaden schon geschehen ist und selbst der Wächter nichts mehr für Euch tun kann. Wer sich einmal im Teich der Tränen verliert, kann nur noch schwerlich aus seinen Untiefen gerettet werden.“

Das Mädchen schluckte und fragte dann:

„Aber Ihr wisst, was mich retten könnte, nicht wahr?“

Die großen, schimmernden Augen der Hummelkönigin verblieben in ihrem Schwarz und zeigten keinerlei Regung.

„Gut dosiert wirkt das stärkste Gift oft als effektives Heilmittel. Wenn Euch also die Welt, die Ihr als bloße Spiegelung auf der Oberfläche jenes Wassers wahrgenommen habt, so begehrenswert erscheint, dass Ihr in Eurer echten Heimat nicht mehr leben wollt, scheint es doch am sinnvollsten, Euch einmal die Wirklichkeit auf der anderen Seite zu zeigen. Vielleicht folgt auf Eure Schwärmerei dann Ernüchterung und vielleicht werdet Ihr dann mit umso größerer Dankbarkeit in das Tal Eures Vater zurückkehren.“

Das Mädchen mit dem kastanienbraunen Haar ließ sich die Worte der Hummel durch den Kopf gehen und starrte hinaus auf die Weiten der grünen Wiese hinter den Säulen des Palasthofes.

„Heißt das also, Ihr wollt mir das Tor zur anderen Welt zeigen?“

Ihr Gegenüber antwortete ihr:

„Euer Vater wird wohl sehr wütend, wenn er von unserem Plan erfährt und wir wissen nicht, was mit Euch geschieht, wenn Ihr erst einmal auf der anderen Seite seid. Allerdings werdet Ihr dort, sofern Ihr unbeschadet bleibt, auch einen Weg finden, wieder in Eure Heimat zurückzukehren. Es bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als diesen Schritt zu wagen, zumal Ihr sonst immer schwächer werdet und zu einem bloßen Schatten verkommt, der - sich ununterbrochen nach dem Fernen verzehrend - bald unsichtbar geworden sein wird.“

Da tat sich zum ersten Mal seit dem Morgen, an dem sie das Gesicht des schönen Mannes gesehen hatte, eine kleine Wolke am düsteren Himmel ihres Herzens auf und das Mädchen schöpfte wieder Hoffnung. Mit einem sanften Lächeln beugte sie sich hinab zu jenem pelzigen und runden Tier, um es dankbar mit ihren schlanken Armen zu umschlingen. Sie legte ihre Wangen auf den weichen Rücken der Hummel und flüsterte:

„Ich kann Euch nicht genug danken, meine treue Freundin. Lasst uns morgen schon aufbrechen und den Palast rasch hinter uns lassen, damit mein Vater, der bis zum Abend lange mit seiner Arbeit beschäftigt sein wird, nichts von unserem Verschwinden erfährt.“

Ihre treue Verbündete jedoch war ein naives Tier, das glaubte, immer alles besser zu wissen und sich niemals eingestand, mit seinen wilden Vermutungen auch einmal falsch zu liegen.


Und so kam es, dass das Mädchen und die Hummelkönigin sich am nächsten Morgen auf der Wiese vor dem Palast trafen, um den Boden ihrer vertrauten Welt zu verlassen. Gemeinsam überquerten die beiden das saftige Gras Richtung Waldrand, der sich schon in weiter Ferne wie ein einziger, unüberwindbar hoher Wall aus dunkelgrünen Tannen gegen sie erhob. Obwohl die Hummel den Weg zum geheimen Tor zur Menschenwelt kannte, wusste Honeybean doch, dass es kein leichtes Unterfangen werden würde, bis zur Grenze des Tränenreiches zu gelangen. Niemand außer die ältesten Insekten hatten sich in den dichten Wald hinter der Wiese des Wächters gewagt - und wenn doch einmal irgend ein ungebetener Gast den Boden unter den hochgewachsenen Tannenhölzern betrat, verlief er sich ganz einfach im undurchschaubaren Labyrinth aus alten Bäumen, um bald vollkommen ausgetrocknet und kraftlos von der bloßen Gewalt der endlosen Anzahl an harzig duftenden Nadeln um sich herum erstickt zu werden. Schlussendlich aber würde nur die Durchquerung jenes Ortes das Mädchen zu ihrem Geliebten führen, der irgendwo hinter dem unsichtbaren Schleier auf der anderen Seite leben musste.

Als Honeybean und die Hummelkönigin schließlich am Rand des finsteren Waldes ankamen, schauten sie in ein Heer aus kräftigen Tannenstämmen. Sie warfen einen letzten Blick zurück zum Palast, der nur noch ganz klein in der Ferne zu erkennen war und sagten ihrer Heimat Lebewohl. Dann ließen die beiden das Licht des Tages hinter sich und traten unter das Dach aus immergrünen Nadeln, die alles um sich herum in eine dämmerige Welt aus Stille und Regungslosigkeit tauchten. Indem sie immer weiter in die Wildnis hineinmarschierten, bemerkten sie auch, dass es im Wald anscheinend keinerlei Vögel oder andere Tiere zu geben schien. So weit man auch schaute, war da knorriges, vom Dunst umwabertes Holz und das dunkelgrüne Moos unter den Füßen des Mädchens roch intensiv nach feuchter Erde, um sich überall wie ein dicker Teppich auszubreiten. Ohne die Hummel und ihren Orientierungssinn hätte sich Honeybean in einer endlosen Wüste aus schweigsamen Bäumen verloren gesehen. Sie konzentrierte sich auf den Boden vor sich, der von Wurzeln durchzogen war und viele Stolpersteine bot. Die beiden gingen langsam voran, doch mit einem klaren Ziel -; und so kam es, dass sich dank ihrer pausenlosen Wanderung am späten Nachmittag jene dunkle Welt der Tannen endlich lichtete und sie mit großer Erleichterung die andere Seite des Waldes erreichten. Auch hier bot sich dem Mädchen und der Hummel die hübsche Aussicht auf eine friedliche kleine Ebene, in deren Mitte einsam und verlassen eine alte Eiche stand, deren unzählige Blätter sich sanft im Wind wiegten.

Die Hummelkönigin wandte ihren Blick zu Honeybean und sprach:

„Hier sind wir nun also, dies ist die Grenze des Tränenreichs. Das Tor zur Menschenwelt ist nicht mehr weit - und wenn wir diesen Baum dort drüben erreicht haben, werdet ihr bald verstehen, wo es sich versteckt hält.“

Das Mädchen nickte und fühlte eine wachsende Aufregung in sich aufkommen. Schließlich vergeudeten die beiden keine Zeit mehr und ließen den Waldrand rasch hinter sich, um sich der großen Eiche in der Mitte der Wiese zu nähern. Am Fuße des riesenhaften Baumes angekommen, standen sie erst einmal still und betrachteten verwundert die knorrige, dicke Elefantenhaut vor ihnen. Da fuhr plötzlich ein scharfer Wind durch die Blätter des Kolosses und ein flüsterndes Rauschen entstand, welches das Erwachen eines Wesens aus seinem Schlaf ankündigte. Eine tiefe Stimme drang nun aus dem Inneren des Holzes hervor, die dem Mädchen und der Hummel im Kopfe dröhnte und sie erschrocken einen Schritt zurückweichen ließ.

„Wer ist da und wagt es, meinen tausendjährigen Schlaf zu stören?“

Nach einer kurzen Pause hatte sich die Hummelkönigin wieder etwas gefasst und antwortete dem alten Baum:

„Ehrenwerte Eiche, beruhigt Euch, denn wir sind keine gewöhnlichen Verirrten, wie Ihr vielleicht denken mögt. Wir sind die Königin der Hummeln und die Tochter des Wächters - und wir sind gekommen, weil eine dringende Mission in der Menschenwelt zu erfüllen ist. Darum bitten wir Euch jetzt freundlich, dass Ihr diesem Mädchen hier das Tor öffnen mögt.“

Da ging ein leises Rascheln durch die Blätter des Baumes, das wie ein müder Seufzer klang und die beiden Bittenden bekamen zu hören:

„Glaubt ihr wirklich, dass ich so leicht dem Drängen zweier Herumtreiber nachgebe? Wie viele Menschen und Tiere, die sich hierher aus ihrer Welt verlaufen haben, stolperten schon an mir vorüber, in ihren Gedanken nach einer Lösung flehend, wieder zurück in ihre Heimat zu kehren. Ich aber blieb standhaft und habe sie nicht durchgelassen, aus dem Grund, weil sie das verbotene Wissen über diesen Ort hier nicht auf der anderen Seite verbreiten sollten. Ihr wiederum, die ihr aus dem Palast der Tränen kommt, sollt nicht in die Menschenwelt reisen, um dort die Geheimnisse eures Herren zu verraten.“

 

Und indem die Eiche sich an Honeybean richtete, sprach sie schließlich streng:

„Besinnt Euch und kehrt nach Hause zurück - denn nichts könnte dringend genug sein, das Geschenk des ewigen Lebens so leichtsinnig in der Fremde zu verwirken.“

In diesem Moment kam dem Mädchen wieder das Gesicht des Unbekannten in den Sinn und ein aufgeregtes Funkeln trat in ihre Augen. Sie ging auf den Baum zu und antwortete ihm mit zitternder Stimme:

„Wie gerne würde ich Euren Ratschlag befolgen und zurück in den Palast meines Vaters kehren, um in Frieden dort weiterzuleben. Doch in meinem Herzen ist keine Ruhe mehr, seit ich im Teich der Tränen einen Blick in die Menschenwelt geworfen habe, und ich verzehre mich langsam von innen nach ihr, bis nichts mehr von mir übrig bleiben wird. Ich habe daher keine andere Wahl, als durch Euer Tor zu treten und meine Krankheit, die mich hier in den sicheren Tod führen wird, durch einen Besuch auf der anderen Seite zu heilen.“

Da ärgerte sich die alte Eiche über die Unnachgiebigkeit des jungen Mädchens und dachte bei sich, dass es ihm wohl ganz recht geschehen würde, in der anderen Welt zu sterben. Für sie hatte es keinen Wert mehr, weiter mit den beiden Störenfrieden zu verhandeln und so schwieg sie, um stattdessen ein finsteres Grollen durch ihren ganzen Stamm bis hinunter zu den tiefsten Wurzeln rollen zu lassen. Im nächsten Augenblick spürte Honeybean ein eigenartiges Beben unter den Füßen, das sich immer weiter verstärkte und schließlich eine solche Kraft entwickelte, dass der Boden vor dem großen Baum zunächst Risse bekam und sich danach als ein unheimlich klaffendes Loch in der Erde zu öffnen begann. Man konnte sehen, wie kleine, feine Wurzeln auseinander gerissen wurden und - verwundeten Adern unter dem Licht eines grausamen Seziertisches gleich - gewaltsam zu Tage befördert wurden. Steine lösten sich von ihrem Platz, um in die gähnende Dunkelheit hinabzubröckeln und die Lücke im Boden am Ende so weit zu verbreitern, dass ihr Platz gerade für den Durchlass eines zierlichen Körpers von der Größe eines Menschenmädchens reichte. Als ihr Werk vollendet war, raschelte die Eiche verdrossen mit ihren Blättern und sprach:

„So - hier habt Ihr, was Ihr wolltet; dies ist der geheime Eingang zur Menschenwelt. Geht nur hindurch und besucht die andere Seite, sie wird Euch wie ein einziges großes Wunder vorkommen. Die Reise dorthin wird nicht sonderlich angenehm sein, aber ich schätze, Ihr werdet dies wegen Eurer schrecklichen Krankheit Wohl oder Übel auf Euch nehmen müssen.“

Honeybean wusste auf diese Worte nichts zu erwidern und näherte sich stattdessen vorsichtig dem gähnenden Loch im Boden, dessen Leere unendlich weit in das Erdreich unter ihnen hineinzureichen schien. Die Hummel folgte dem Mädchen und tröstete es:

„Ich kann Eure Angst gut verstehen, da Ihr keine Flügel habt, so wie ich. Doch fürchtet Euch nicht, denn am Ende dieses Überganges wird Euch nichts geschehen. Wenn Ihr erst einmal gesprungen seid, wird es sein, als ob Ihr hinauffallen würdet in den Himmel, denn die Welt der Menschen liegt oberhalb unseres eigenen Landes.“

Da wandte sich die Tochter des Wächters ihrer Begleiterin zu und machte ein trauriges Gesicht. Sie hoffte, das gütige Tier bald wiederzusehen und heil auf den Boden in der Menschenwelt anzukommen. Ein letztes Mal streichelte das Mädchen der schwebenden Hummel über ihren flauschigen Kopf und verabschiedete sich dann schweren Herzens von ihr, um sich mit wachsendem Unbehagen dem Rand des Abgrundes zuzuwenden.

„Lebt wohl, liebe Hummelkönigin und richtet meinem Vater aus, dass er sich keine Sorgen zu machen braucht. Habe ich den Menschen, den ich im Teich erblickt habe, erst einmal gefunden, werde ich ihn dazu bewegen, mit mir in diese Welt zurückkehren und wir werden glücklich und bis in alle Ewigkeit in unserem Reich leben.“

Dann schloss Honeybean die Augen, atmete tief durch und sprang. Im nächsten Augenblick waren alle Geräusche der Natur um sie herum verschwunden und es schien, als ob auch der Schlag ihres Herzens plötzlich stillstand. Ihre nackten Sohlen bekamen die kühle, feuchte Luft unter sich in der Leere zu spüren und das Mädchen fiel immer tiefer und tiefer in den schwarzen Tunnel aus modriger Finsternis hinab, dessen Wind scharf an ihrem Gesicht vorbeipfiff. Den Mund weit geöffnet, hörte sie sich nicht schreien und fürchtete, von der dicker werdenden Luft schließlich erstickt zu werden. Dann auf einmal stand die Zeit abermals still und sie landete überraschend sachte auf einem harten dunkelgrauen Untergrund aus Asphalt, welcher vom Licht der untergehenden Sonne überflutet wurde. Rot wie Blut übergoss dieses Licht den abendlichen Parkplatz eines heruntergekommenen Industriegeländes in der Menschenwelt und kündigte den Tod des Tages und die Auferstehung der Nacht an, die dem Mädchen aus dem Tränenreich vollkommen fremd war. Sie saß dort und versuchte, ihre Augen an die sanften und doch überwältigend kraftvollen Strahlen der neuen Sonne zu gewöhnen. Dabei wusste sie noch nicht einmal, dass ihr zarter Körper schon im Begriff war, sich langsam aber sicher in Dunst aufzulösen. Wie eine Qualle, die im Meer ihren ganzen Zauber entfaltet hatte, dann jedoch irrigerweise an Land gespült wurde und kümmerlich in sich zusammenfiel, verhielt es sich auch mit der Erscheinung des fremden Mädchens, das noch immer verwirrt in die Sonne blinzelte. Es besaß nicht die physischen Mittel, länger als ein paar Minuten in der Atmosphäre der Erde zu überleben und war in seiner ganzen Unwissenheit dem Untergang geweiht. Und gerade als Honeybean endlich die wundersamen Umrisse um sich herum erkennen konnte, waren ihre zwei vor Aufregung glänzenden Augen fast vollkommen verblasst und der Körper des Mädchens verschwand im nächsten Augenblick im Nichts, so als hätte es ihn niemals gegeben. Das verlassene Parkgelände indes hüllte sich in tiefes Schweigen und nur die Vögel am Himmel waren Zeugen jenes sonderbaren Ereignisses geworden.


Im Reich der Tränen unterdessen war die Sonne nicht am Untergehen, obwohl es bereits Abend geworden war und Honeybeans Vater das Ende seiner heutigen Arbeit erreicht hatte. Er wollte gerade den Stift beiseitelegen und sich von seinem schweren Arbeitsstuhl im oberen Stockwerk des Palastes erheben, als auf einmal ein heftiger Schauer über seine Haut hinwegfegte, der tausend feinen Nadelstichen gleichkam und den großen Mann mit den vier dünnen Armen entsetzt von seinem Pult auffahren ließ. Der Wächter des Tränenreiches wusste sofort, dass seiner Tochter etwas zugestoßen sein musste. Er ließ alles stehen und liegen und eilte hinunter in den Garten, bloß um festzustellen, dass Honeybean nirgends in der Umgebung mehr zu finden war. Nachdem er die Hummeln nach ihrem Verschwinden befragt hatte, diese aber nichts aussagen wollten, bis ihre Königin wieder zurückgekehrt sein würde, verlor der Wächter die Geduld und ging zurück in sein Arbeitszimmer. Er hatte seine Tochter einst aus dem Fleisch und den Knochen einer seiner Finger geschaffen und ahnte bereits, dass etwas Ernsthaftes passiert sein musste. Vermutlich hatte ihr die törichte Hummelkönigin tatsächlich den Weg in die Menschenwelt gezeigt und das Mädchen befand sich nun auf der anderen Seite, wo es nur eine Frage der Zeit war, bis sie vollständig verloren sein würde. Indem der große Mann mit den durchdringend blauen Augen sich ermüdet an die Stirn fasste, kam ihm schließlich eine Idee, die als letzter Ausweg aus einem riesenhaften Problem gedacht war. Er begab sich zu einer der Kommoden in der Ecke des Raumes und holte ein schön geschwungenes, silbern glänzendes Messer daraus hervor, um es kurz im gleißenden Licht, das durch die Fenster hereinfiel, zu betrachten. Dann ging er zurück zu seinem Pult, legte die freie Hand des oberen linken Arms auf den Tisch vor sich und setzte das Messer am Ende seines Ringfingers an. Der linke Nachbar dieses Fingers dämmerte seit langer Zeit als ein kümmerlicher Stummel vor sich hin. Mit einer kurzen und kräftigen Bewegung hackte sich der Wächter nun auch noch seinen zweiten Finger ab und betrachtete ihn anschließend ungerührt auf der glatten Oberfläche des Pultes. Das Blut, welches nun aber aus der Öffnung seiner Wunde zu fließen begann, verwandelte sich, kaum traf es auf die Luft im stillen Zimmer, sofort in purpurrote, eigenartig züngelnde kleine Ranken, welche sich von der Hand des Mannes aus immer weiter auszudehnen schienen und schon den toten Finger umwickelten, um ihn - wie die Spinne es mit ihrer Beute tat - kokonartig zu umhüllen. So wuchs das Knäuel mit dem dahinfließenden Blut schließlich immer weiter an, bis es den ganzen Platz auf dem Arbeitstisch in Anspruch nahm. Es war unter dem Blick des Wächters zur Größe eines in sich zusammengekauerten, zarten Menschen herangewachsen, der von pulsierenden Armen aus Blut umschlossen wurde. Und als beherbergte jenes eigenartige Paket tatsächlich etwas Lebendes, begann sich das Innere in seinem Kern auf einmal zu regen und kleine Glieder schienen sich gegen die dichte Hülle des Kokons zu stemmen, als ob sie sich aus den engen Verhältnissen ihres Gefängnisses befreien wollten. Der Mann blieb ruhig und verfolgte schließlich mit, wie die elastischen Wände des Bündels nachgaben und zwei schneeweiße, zarte kleine Hände zum Vorschein kamen. Kurz danach lugte ein verwunderter Mädchenkopf aus der Öffnung des Kokons hervor, dessen Haar golden schimmerte und dem neugeborenen Wesen bis zur Taille reichte. Als es noch etwas ungeschickt aus seiner Hülle kroch und vom Tisch stieg, trug es bereits ein weißes Blütenkleid an seinem Körper. Das Mädchen rieb sich ungläubig die Augen und fragte seinen Vater: