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Loe raamatut: «Neu-Land», lehekülg 9

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Sechzehntes Capitel

Als Neshdanow am andern Morgen erwachte, fühlte er sich nicht im Geringsten befangen durch die Erinnerung an das Gespräch des vergangenen Abends; er war im Gegentheil ganz durchdrungen von der Empfindung einer gewissen frischen und gesunden Freude, als ob er etwas gethan hätte, was schon längst hätte geschehen müssen. Nachdem er Ssipjagin’s Erlaubniß zur Fahrt eingeholt – Ssipjagin bewilligte ihm sogleich den erbetenen Urlaub, wenn auch mit strenger Miene – begab er sich auf zwei Tage zu Markelow. Bevor er sich aufmachte, fand er noch Gelegenheit, Marianne zu sehen und zu sprechen. Sie war eben so wenig verwirrt und befangen, wie Neshdanow, sie blickte ihm ruhig und entschlossen in die Augen und nannte ihn »Du.« Aufgeregt war sie nur wegen der Mittheilungen, die ihm bei Markelow erwarteten, und bat ihn, ihr sogleich nach seiner Rückkehr Alles zu erzählen.

– Das versteht sich von selbst, – antwortete Neshdanow.

»Und warum sollten wir denn auch aufgeregt sein!« – dachte er. – »Das individuelle, persönliche Interesse und Gefühl steht bei uns in zweiter Reihe. Wir sind aneinander gekettet, so daß uns nichts mehr trennen kann! Im Namen des großen Werkes, dem wir uns geweiht? Ja, im Namen dieses großen Werkes!«

So dachte Neshdanow, ohne daß es ihm zum Bewußtsein kam, wie nahe sich Wahrheit und Lüge in diesen seinen Gedanken berührten.

Er fand Markelow noch immer in der gleichen abgespannten und ernsten Gemüthsstimmung. Nach dem spärlichen Mittagsmahl begaben sie sich in dem uns schon bekannten Tarantaß – da Markelow’s Pferd noch immer hinkte, hatte man bei einem der Bauern ein junges, noch nie im Anspann gewesenes Pferd, geliehen – zur großen Baumwollenspinnerei Falejew’s, welche von Ssolomin geleitet wurde. Neshdanow brannte vor Ungeduld, jenen Menschen kennen zu lernen, von dem er in der letzten Zeit s so viel gehört. Ssolomin wußte, daß sie ihn besuchen würden; als sie vor dem Thor der Fabrik anhielten und ihre Namen nannten, führte man sie sogleich in ein unansehnliches Nebengebäude, in welchem Ssolomin wohnte, der »Mechaniker und Verwalter« der Fabrik. Er befand sich im Augenblick im großen Hauptgebäude und während einer von den Arbeitern ihm die Ankunft der beiden Fremden zu melden ging, hatten diese Zeit, sich ein wenig umzusehen. Sie traten an das Fenster und blickten hinaus. Die Fabrik stand offenbar in voller Blüthe und war mit Arbeit überladen. Rings umher erzitterte die Luft im Getöse der lärmenden Thätigkeit: man vernahm das Keuchen und Poltern der Maschinen, das Knarren der Webstühle, das Rasseln der Räder, das Schwirren der Riemen; hier wurden Fässer über den Weg gerollt, dort zogen ganze Reihen von Schiebkarren und Lastwagen hin; aus dem Hauptgebäude ertönten laute Befehle, Glocken- und Pfeifensignale; Arbeiter in bunten Hemden mit schmalen Lederriemen um das fliegende Haar und Arbeitermädchen in kattunenen Rücken liefen hin und her, langsam bewegten sich Lasten ziehende Pferde. . . Ein dumpfes Dröhnen klang durch alle Räume, verursacht durch das Gewimmel der tausendköpfigen, in höchster Arbeitsspannung sich tummelnden Menschenmenge. Alles ging tüchtig, sicher und schwungvoll von Statten; nirgends war aber eine Spur von Luxus, Ordnung und Sauberkeit zu sehen, überall machte der Schmutz sich breit, der an Allem klebte, was das Auge überblickte. Hier eine Fensterscheibe eingeschlagen, dort ein Stück von der Stukkatur abgefallen, an einer anderen Stelle Bretter herabgestürzt, drüben eine Thür weit aufgerissen. Mitten auf dem Hofe ist eine große, schwarze, faulende, in allen Farben des Regenbogens schillernde Pfütze, weiter unten liegen Haufen auseinandergeworfener Ziegelsteine, Reste zerrissener Matten, zertrümmerter Kisten, Stücke von Stricken und Tauen; zottige, ausgehungerte Hunde durchstreifen den Hof. In einer Ecke am Zaun sitzt ein aufgedunsener vierjähriger Knabe mit zerzaustem Haar und mit Ruß überdeckt: er weint bittere Thränen, als hätte ihn die ganze Welt verlassen; dicht neben ihm wühlt ein Schwein, ebenso rußig und schmutzig, von buntfarbigen Ferkeln umgeben, in den umherliegenden Kohlstrünken; durchlöcherte, über einen aufgespannten Strick gehängte Wäsche flattert im Winde – überall welche Schwüle, welche übelriechenden Dünste. – Eine echte russische Fabrik, keine deutsche oder französische industrielle Anstalt!

Neshdanow blickte auf Markelow.

– Man hat mir so viel von den außerordentlichen Vorzügen Ssolomin’s erzählt, – begann er, – daß ich, aufrichtig gesagt, ganz verblüfft bin, hier eine solche Unordnung vorzufinden; ich hatte das nicht erwartet!

– Es ist hier keine Spur von Unordnung, – entgegnete Markelow finster, – es ist das nur russischer Unflath! Nichtsdestoweniger werden hier Millionen umgesetzt! Es ist aber zu berücksichtigen, daß er sich den alten Gewohnheiten anschmiegen muß, den Anforderungen des Geschäfts, seines Herrn. Wissen Sie denn, was das für eine Persönlichkeit ist, dieser Falejew?

– Nein, – Der größte Geizhals und »Bourgeoise« Moskau’s!

In diesem Augenblick trat Ssolomin ins Zimmer. Bei seinem Anblick fühlte sich Neshdanow nicht weniger enttäuscht als bei dem Anblick der Fabrik. Im ersten Moment glaubte er einen Finnen oder einen Schweden vor sich zu sehen. Eine hoch aufgeschossene, breitschultrige, hagere Gestalt mit blondem Haar, einem langen, gelben Gesicht mit kurzer und breiter Nase, kleinen, graugrünen, ruhig blickenden Augen, dicken, schwülstigen Lippen, großen weißen Zähnen und einem in der Mitte gespaltenen Kinn, dem kaum merkbar ein leichter Flaum entsproß. Er war gekleidet wie ein Handwerker, wie ein Ofenheizer: den Oberkörper umhüllte eine kurze, enganliegende Jacke mit herabhängenden Taschen, eine zerknitterte Wachstuchmütze bedeckte den Kopf, um den Hals war eine wollene Schärpe geschlungen, die Füße steckten in Schmierstiefeln. Ihn begleitete ein Mann von ungefähr vierzig Jahren in einem langen, einfachen Oberrock, mit einem ungeheuer beweglichen, zigeunerartigen Gesicht und pechschwarzen stechenden Augen, aus denen sofort ein durchdringender Blick Neshdanow streifte . . . Markelow kannte er bereits. Dieser Mann hieß Paul und war Faktotum Ssolomin’s.

Ssolomin kam auf die beiden Gäste zu, reichte einem Jeden schweigend die schwielige, magere Hand, holte aus dem Tisch ein versiegeltes Packet heraus und übergab dasselbe, ohne ein Wort zu sprechen, Paul, der es einsteckte und sich gleich daran entfernte. Dann warf er die Mütze mit einem Ruck vom Kopf herunter, setzte sich auf einen kleinen gestrichenen hölzernen Stuhl und forderte Markelow und Neshdanow mit einem einfachen »Bitte!« auf, sich auf einem ähnlichen Divan niederzulassen.

Markelow stellte Ssolomin und Neshdanow einander vor, worauf Ssolomin dem Letzteren von Neuem die Hand kräftig drückte. Markelow ging dann gleich »zur Sache« über und erwähnte des Briefes von Wassily Nikolajewitsch. Neshdanow zeigte denselben Ssolomin. Während Dieser, denselben Zeile für Zeile aufmerksam und bedächtig durchlas, hatte Neshdanow Zeit, sich den Mann genauer anzusehen.

Ssolomin saß in der Nähe des Fensters, die Abendsonne fiel in hellen Strahlen auf sein eingebranntes mit Schweiß bedecktes Gesicht, auf das blonde, bestaubte, im Schein der Sonne glitzernde Haar. Während er den Brief fest in den emporgehobenen Händen hielt und mit dein Auge dem Inhalt desselben folgte, zuckten ununterbrochen die Nasenflügel und bewegten sich die Lippen, als ob er jedes Wort still vor sich hinspräche. Neshdanow gefiel das. Ssolomin gab den Brief, nachdem er ihn durchgelesen, freundlich lächelnd Neshdanow zurück und wartete geduldig, bis Markelow mit seiner darauf folgenden langen Rede endlich zu Ende war.

– Wissen Sie was, – begann daraus Ssolomin mit etwas heiserer, aber kräftiger Stimme, die Neshdanow ebenfalls sehr gefiel, – es ist hier nicht ganz bequem darüber zu sprechen; sollten wir nicht lieber zu Ihnen fahren? Es sind ja nur sieben Werst – Sie sind wohl im Tarantaß gekommen?

– Ja.

– Nun es wird da wohl auch für mich ein Plätzchen sein. In einer Stunde hören die Arbeiten auf; dann bin ich frei. Und Sie wohl auch? – wandte er sich zu Neshdanow.

– Bis übermorgen.

– Das ist ja sehr schön! Wir bleiben zur Nacht bei Ihnen, Ssergei Michailytsch, Sie erlauben doch?

– Wie können Sie noch fragen! Natürlich!

– Nun – ich bin gleich fertig. Ich werde mich umkleiden.

– Wie stehts um die Sache auf Ihrer Fabrik? – fragte Markelow bedeutungsvoll.

Ssolomin blickte zur Seite.

– Davon sprechen wir später, – antwortete er. – Warten Sie einen Augenblick . . . Ich bin gleich fertig. . . Ich habe Einiges vergessen . . .

Er entfernte sich. Wenn er nicht einen so guten Eindruck auf Neshdanow gemacht, so würde dieser den Markelow vielleicht direkt gefragt haben, ob Ssolomin nicht gar zurücktreten wolle. So aber unterblieb diese Frage.

Als eine Stunde daran die Arbeiterschaaren lärmend aus allen Thüren der verschiedenen Stockwerke des mächtigen Gebäudes herausströmten, setzte sich auch der Tarantaß mit Markelow, Neshdanow und Ssolomin in Bewegung.

– Wassily Fedorytschi Soll ich’s anpacken? – rief Paul, der Ssolomin bis an’s Thor geleitet hatte.

– Versuch es . . . – antwortete Ssolomin. – Es handelt sich um eine nächtliche Operation, – erklärte er seinen Reisegefährten.

In Borsenkowo angekommen, aßen sie zu Abend – mehr aus Liebenswürdigkeit gegen den Wirth, als aus Bedürfnis —, worauf dann wieder eine jener nächtlichen Unterhaltungen begann, jener unermüdlichen russischen Unterhaltungen, welche in dieser Form und in dieser Maßlosigkeit wohl kaum bei irgend einem andern Volke möglich sind. Neshdanow fühlte sich wieder enttäuscht, da Ssolomin seinen Erwartungen entgegen, merkwürdig wenig sprach . . . so wenig, daß man beinahe sagen konnte, er habe die ganze Zeit über geschwiegen. Er hörte jedoch aufmerksam zu, und wenn er zuweilen eine Bemerkung hinwarf, so war es eine kurze, schlagende, gewichtige Bemerkung. Es ergab sich, daß Ssolomin an eine bevorstehende Revolution nicht glaubte, da er aber seine Meinung Niemandem aufdringen wollte, gedachte er abzuwarten – nicht aus der Ferne, sondern von der Seite – ob der Versuch dazu gemacht werden würde. Er war mit den Führern der revolutionären Partei in St. Petersburg gut bekannt, ihren Bestrebungen brachte er bis zu einem gewissen Grade offene Sympathie entgegen, da er selbst aus dem Volke hervorgegangen war; er fühlte aber auch, daß dieses Volk, »ohne welches man nichts ausrichten könne,« sich nicht daran betheiligen werde, daß es dazu einer langen Vorbereitung bedürfe, und zwar in anderer Weise, als es Jene thaten. Daher zog er sich auch stets zurück, nicht aus Schlauheit oder Hinterlist, sondern wie ein gescheuter Mensch, der weder sich noch Andere unnützer Weise preisgeben will. Hören könne man freilich, was da gesprochen werde, dachte er, und auch Dieses und Jenes von ihnen lernen, wenn der Zufall es füge!

Ssolomin war der einzige Sohn eines Küsters, dessen fünf Töchter, Ssolomin’s Schwestern, bereits alle an Priester verheirathet waren. Mit Einwilligung seines Vaters, eines gesetzten und verständigen Mannes, verließ er das Seminar, und legte sich aufs Studium der Mathematik s und namentlich der Mechanik; darauf gelang es ihm, auf eine englische Fabrik zu kommen, deren Eigenthümer ihn wie einen Sohn lieb gewann, und ihm die Mittel zu einer Reise nach Manchester verschaffte, wo er zwei Jahre verblieb und die englische Sprache erlernte. Die Stelle in der Fabrik des Moskauer Kaufmanns hatte er erst vor Kurzem angetreten, und obgleich er gegen seine Untergebenen streng war – wie er es in England gesehen – waren sie ihm dennoch sehr ergeben, denn er war doch einer von den »Eigenen,« wie sie sich ausdrückten, kein Fremder! Der Vater war mit ihm sehr zufrieden, nannte ihn stets einen »pünktlichen« Menschen und klagte nur darüber, daß der Sohn nicht heirathen wollte!

Wie bereits bemerkt, hatte Ssolomin während der Unterredung bei Markelow kaum ein paar Worte fallen lassen und fast die ganze Zeit über geschwiegen; als aber Markelow jetzt auf die Fabrikarbeiter zu sprechen kam und der Hoffnungen gedachte, welche man auf dieselben setzte, schnitt Ssolomin, seiner Gewohnheit gemäß, die Bemerkung kurz ab, indem er erklärte, daß die russischen Arbeiter – im Gegensatz zu den ausländischen – ein ruhiges, stilles Volk seien.

– Aber die Bauern? – fragte Markelow.

– Die Bauern! Nun, Händler und Bauernschinder giebt’s unter ihnen genug, und es wird die Zahl derselben noch zunehmen; diese kennen aber nur ihren eigenen Vortheil; die Uebrigen – die sind wie Schafe so fromm, eine dunkle, unerforschte Masse!

– Wo soll man denn suchen?

Ssolomin lächelte.

– Suchet, so werdet Ihr finden!

Er pflegte fast immer zu lächeln, und wenn es auch ein einfaches Lächeln war, so war es doch nicht inhaltslos – eben so wenig wie er selbst.

Besonders freundlich war er gegen Neshdanow; der junge Student schien seine aufrichtige Theilnahme zu erregen, er behandelte ihn sogar mit einer gewissen Zärtlichkeit. Während dieser nächtlichen Unterhaltung war Neshdanow ein Mal ganz besonders in Feuer gerathen: da war Ssolomin langsam aufgestanden und hatte, nachdem er schwerfälligen, breiten Schrittes über das ganze Zimmer gegangen, das offene Fenster hinter Neshdanow’s Rücken geschlossen.

– Sie könnten sich erkälten – meinte er, als er den verwunderten, auf sich gerichteten Blick des Redners bemerkte.

Neshdanow fragte ihn, welche sozialistische Ideen in der ihm anvertrauten Fabrik er durchzuführen gedenke und ob er die Absicht habe, die Arbeiter an dem Gewinn theilnehmen zu lassen.

– Lieber Freund! – antwortete Ssolomin, – wir haben eine Schule eröffnet und ein Lazareth eingerichtet – und unser Patron hat sich wie ein Bär dagegen gestemmt!

Nur ein Mal wurde Ssolomin ernstlich böse und schlug mit der mächtigen Faust auf den Tisch, so daß Alles, was auf demselben stand, emporschnellte, das neben dem Tintenfaß befindliche Pudgewicht nicht ausgenommen: es geschah das, als von einer Ungerechtigkeit, die bei einer gerichtlichen Verhandlung vorgefallen, von der Verfolgung eines Arbeiter-Vereins erzählt wurde . . .

Als jedoch Neshdanow und Markelow wieder darauf zu sprechen kamen, wie man »vorgehen« müsse, auf welche Weise man das geplante Vorhaben in Ausführung bringen solle, fuhr Ssolomin fort, ihren Reden mit einer gewissen achtungsvollen Aufmerksamkeit zu folgen – obgleich er selbst kein Wort mehr sprach. Bis vier Uhr Morgens zog sich diese Unterhaltung hin. Was wurde da nicht Alles verhandelt! Markelow wies unter Anderem etwas geheimnißvoll auf den unermüdlichen Reisenden Kissljakow hin, auf dessen Briefe, die immer interessanter würden; er versprach Neshdanow, ihm einige von diesen Briefen zu zeigen und sie ihm sogar nach Hause mitzugeben, da sie sehr lang und unleserlich, aber auch sehr gelehrt seien, es kämen sogar Gedichte in ihnen vor, zwar keine leichtfertigen, sondern sozialistische! Von Kissljakow ging Markelow zu den Soldaten, den Adjutanten, zu den Deutschen über, endlich – zu seinen Aufsätzen über die Mängel des russischen Artilleriewesens! Neshdanow äußerte einige Gedanken über den Antagonismus zwischen Heine und Börne, über Proudhon, über den Realismus in der Kunst; Ssolomin aber hörte aufmerksam zu, rauchte lächelnd seine Cigarre, und schien, ohne ein geistreiches Wort gesagt zu haben, die Dinge, um die es sich handelte, besser und richtiger zu begreifen, als sie Alle!

Die Uhr schlug vier . . . Neshdanow und Markelow konnten sich kaum mehr auf den Füßen halten« so müde waren sie, während sich Ssolomin nicht im Geringsten abgespannt fühlte. Die Freunde trennten sich endlich; vorher hatten sie jedoch noch beschlossen, zusammen am andern Tage in der Stadt den altgläubigen Kaufmann Goluschkin in Sachen der Propaganda zu besuchen: er war selbst eifrig bei der Sache und hatte auch Proselyten zu machen versprochen . . Ssolomin bezweifelte anfänglich, daß es sich überhaupt lohnen werde, diesen Goluschkin hineinzuziehen. Später stimmte er jedoch der Meinung der Anderen bei.

Siebzehntes Capitel

Markelow’s Gäste schliefen noch, als bei ihm ein Bote seiner Schwester mit einem Brief erschien. Im diesem Brief war zuerst von unbedeutenden Wirthschaftsangelegenheiten die Rede, dann von einem Buche, welches Markelow von ihr geliehen und das sie ihn zurückzuschicken bat; im Postskriptum endlich theilte ihm seine Schwester »à propos« eine »höchst komische« Neuigkeit mit: der Gegenstand seiner Leidenschaft, Marianne, habe sich in den Lehrer Neshdanow verliebt, der Lehrer ebenfalls in Marianne, und das sei nicht Klatscherei, sondern sie selbst, Valentine Michailowna, habe es mit eigenen Augen gesehen und mit eigenen Ohren gehört! Markelow’s Gesicht war finster geworden, wie die Nacht . . . es kam jedoch kein Laut über seine Lippen. Er befahl, das gewünschte Buch dem Boten zu übergeben, und als er gleichzeitig Neshdanow von oben herabkommen sah, begrüßte er ihn, als ob nichts vorgefallen wäre, und händigte ihm sogar das versprochene Packet Kissljakow’scher Briefe ein, verließ jedoch gleich darauf die Stube, um »nach der Wirthschaft zu sehen.«

Neshdanow kehrte in sein Zimmer zurück und vertiefte sich in die Lektüre der von Markelow erhaltenen Briefe. Er fand, daß der junge Propagandist in denselben immer nur von sich sprach, von seiner fieberhaften Thätigkeit: er war, wie er schrieb, während eines Monats in elf Kreisen gewesen, in neun Städten, neunundzwanzig Flecken, dreiundfünfzig Dörfern, auf einem Freihof und in acht Fabriken; sechzehn Nächte habe er auf dem Heuboden verbracht, eine Nacht in der Scheune, eine sogar im Kuhstall (mit einem Nota bene setzte er die Bemerkung hinzu, daß ihn die Flöhe nicht beißen); er habe sich in Erdhütten, in Kasernen der Arbeiter aufgehalten, habe überall Propaganda gemacht, Bücher vertheilt und im Fluge Beobachtungen angestellt; Einiges habe er dann gleich notirt, Anderes sich nach den neuesten Regeln der Mnemonik fest eingeprägt; ferner habe er vierzehn große Briefe abgeschickt, achtundzwanzig kleine und achtzehn ganz kurze Briefchen (von denen er vier mit Bleistift geschrieben, eins mit Blut, eins mit in Wasser aufgelöstem Ruß) und dies Resultat habe er nur dadurch erreicht, weil er seine Zeit systematisch einzutheilen gelernt, indem er Quentin, Johnson, Karrelius, Sswerlitzky und andere Publizisten und Statistikers studirt. Dann begann er wieder von sich zu reden, von seinem Stern, davon, wie er die Theorie der Leidenschaften von Fourier ergänzt; schließlich versicherte er, daß er zuerst endlich den »Grund« entdeckt, den Boden, die Basis zukünftiger Entwickelung, daß er »nicht hinschreiten werde über die Welt, ohne eine Spur zu hinterlassen,« daß er selbst voll Staunen darüber sei, wie er, ein zweiundzwanzigjähriger Jüngling, bereits alle Fragen des Lebens und der Wissenschaft gelöst habe, – und daß er ganz Rußland umdrehen, »aufrütteln« werde! – Dixi!! – setzte er, eine neue Zeile beginnend, hinzu. Dieses »Dixi« mit zwei Ausrufungszeichen war eins seiner Lieblingsworte. In einem von den Briefen stieß Neshdanow auch auf ein sozialistisches Gedicht, das, an ein junges Mädchen gerichtet, mit den Worten begann:

Nicht mich sollst Du lieben – in mir die Idee!

Neshdanow war weniger über die eitle Selbstgefälligkeit Kissljakow’s erstaunt, als über die ehrliche Gutmüthigkeit Markelow’s, dachte jedoch: »Fort mit der Aesthetik! auch Herr Kissljakow kann Nutzen bringen!«

Etwas später versammelten sich die Freunde wieder im Eßzimmer; Keiner von ihnen schien jedoch Lust zu haben, die gestrige Unterhaltung fortzusetzen: Markelow und Neshdanow waren zu aufgeregt, Ssolomin aber schwieg wie gewöhnlich.

Nach dem Thee fuhren sie zur Stadt; der alte, auf dem Treppengeländer kauernde Diener Markelows blickte seinem Herrn in der gewohnten wehmüthigen Weise nach.

Der altgläubige Kaufmann Goluschkin, dessen Bekanntschaft Neshdanow der erhaltenen Weisung gemäß zu machen hatte, war der Sohn eines, durch sein Geschäft reich gewordenen Droguisten. Er selbst hatte zu dem väterlichen Vermögen nichts hinzugefügt, denn er pflegte sein Leben vollauf zu genießen, wie ein russischer Epikuräer, und war auch nicht im Geringsten zum Handelsberuf befähigt. Er war ungefähr vierzig Jahr alt und sah sehr wohlgenährt aus; in dem häßlichen, blatternarbigen Gesicht blinzelten zwei kleine, längliche Schweinsaugen; wenn er sprach – und er sprach viel und hastig, gleichsam über die Worte stolpernd – schlug er lachend mit den Händen um sich und stampfte mit den Füßen . . . er hatte überhaupt das Aussehen eines dummerhaften, verzogenen und selbstgefälligen Burschen. Er selbst hielt sich für einen höchst gebildeten Menschen, da er französische Kleider trug, offenes Haus hielt, obgleich es in denselben nicht sehr rein aussah, da er ferner mit reichen Leuten Umgang hatte, das Theater besuchte, und Chansonetten-Sängerinnen protegirte, mit denen er sich in einer ganz ungewöhnlichen, quasi-französischen Sprache unterhielt. Seine Hauptleidenschaft aber war die Sucht nach Popularität: die ganze Welt soll es vernehmen, wer Du bist, Goluschkin! Das ist Ssuworow, oder Potjemkin – das aber ist Kapiton Goluschkin! – Diese Leidenschaft, welche sogar mächtiger war, als der angeborene Geiz, hatte ihn auch in das Lager der Nihilisten und »in die Opposition« getrieben, wie er sich selbstgefällig auszudrücken pflegte (oder »in die Position,« wie er Anfangs sagte, bis man ihn des Besseren belehrte); er sprach die schroffsten Ansichten aus, spottete über die Lehren der altgläubigen Kirche, der er selbst angehörte, aß Fleisch in der Fastenzeit, spielte Karten und trank Champagner wie Wasser. Es gelang ihm Alles, denn, pflegte er zu sagen, wo es nöthig, da ist die Obrigkeit erkauft, jedes Loch, jeder Mund, jedes Ohr verstopft! Er war Wittwer und hatte keine Kinder; die Söhne seiner Schwester drehten sich kriechend um ihn, er schalt sie aber ungebildete Tölpel, Barbaren und empfing sie fast nie. Er wohnte in einem großen, steinernen, schlecht unterhaltenen Hause; einige Zimmer waren mit ausländischen Möbeln ausstaffirt, in den anderen waren nur einfache, gestrichene Stühle und ein mit Wachstuch überzogener Divan. An den Wänden hingen überall Bilder – und zwar sehr schlechte Bilder: rothe Landschaften, veilchenblaue Seestücke, »der Kuß« von Molier, dicke nackte weibliche Figuren mit rothen Knieen und Ellenbogen. Trotzdem, daß Goluschkin ohne Familie dastand, wimmelte es in seinem Hause von allerlei Schmarotzern, die er nicht aus Gastfreundschaft um sich duldete, sondern um sich populär zu machen – und um ihnen befehlen und auch sein Müthchen an ihnen kühlen zu können. »Meine Klienten,« sagte er gewöhnlich, wenn er Jemandem Sand in die Augen streuen wollte; obgleich er niemals etwas las, wußte er sich doch einzelne gelehrte Ausdrücke sehr gut einzuprägen.

Die jungen Leute trafen Goluschkin in seinem Kabinet. Er war in einem langen Hausrock, hielt eine Cigarre im Munde, eine Zeitung in der Hand und stellte sich, als ob er in dieselbe vertieft sei. Als er sie erblickte, sprang er auf, – lief erröthend von Einem zum Andern, befahl einen Imbiß zu bringen, fragte nach Diesem, lachte über Jenes – und das Alles zu gleicher Zeit. Markelow und Ssolomin kannte er bereits, Neshdanow aber hatte er noch nie gesehen. Als er vernahm, daß Neshdanow sei, drückte ihm Goluschkin noch ein Mal lachend die Hand Und rief:

– Herrlich! herrlich! Einer von unserem Schlage. . . Wissen ist – lichter Tag, Unwissenheit – finstere Nacht!l Ich habe selbst eine klägliche Erziehung erhalten, aber ich begreife es, denn ich habe was erreicht!

Neshdanow schien es, als ob Goluschkin verlegen wäre – und das war auch in der That der Fall. – »Paß auf, Kapiton! blamir Dich nicht!« – war jedes Mal sein erster Gedanke, so oft er ein neues Gesicht sah. Er faßte sich jedoch und begann lispelnd, in der seiner Rede eigenen, hastig verwirrten Weise von Wassili Nikolajewitsch zu sprechen über dessen Charakter, von der Nothwendigkeit der Pro . . . pa . . . ganda – davon, daß er, Goluschkin, einen höchst zuverlässigen Menschen entdeckt, der ihrer Sache beitreten wolle, daß die Zeit der Revolution nahe sei, daß die . . . Lanzette angelegt werden könne – er blickte hierbei auf Markelow, der aber ganz ruhig dasaß und auf die Anspielung gar nicht zu achten schien . . . – darauf wandte er sich zu Neshdanow und erzählte ihm von den Vorzügen seiner eigenen Persönlichkeit in einer selbst Kissljakow’s, des großen Reisenden, vollkommen würdigen Weise. Er sei, meinte er, kein roher, selbstgefälliger Autokrat alten Schlages, er kenne sehr gut die berechtigten Ansprüche der Proletarier – dieses Wort hatte er sich gleichfalls eingeprägt, – daß er jetzt freilich den Handel bei Seite geworfen und sich nur mit Bankgeschäften abgebe – um das Kapital zu vergrößern – aber er thue es nur, um mit diesem Kapital im gegebenen Moment der allgemeinen Bewegung zu nützen – dem Volke zu dienen, denn er, Goluschkin, sei im Grunde ein geschworener Feind des Kapitals!

In diesem Augenblick kam ein Diener mit dem Imbiß. Goluschkin bat die Herren ein Schnäpschen zu nehmen und ging selbst mit gutem Beispiel voran, indem er ein ziemlich großes Gläschen Pfeffermünzbranntwein hinunterstürzte.

Die Gäste leisteten seiner Aufforderung Folge. Goluschkin stopfte sich große Stücke gepreßten Kaviars in den Mund und trank unaufhörlich, seine Gäste immer wieder von Neuem ermunternd, sich Alles schmecken zu lassen. – Ein guter kleiner Macon! wiederholte er kichernd. – Nur zu, meine Herren, bitte! Er wandte sich dann zu Neshdanow und fragte ihn, von wo er komme, wo er sich aufhalte und ob er lange in S. zu bleiben gedenke. Als ihn Neshdanow daraus erwiderte, daß er bei Ssipjagin lebe, rief Goluschkin aus:

– Ich kenne diesen Herrn! Ein leerer Kopf – Und nun begann er alle Gutsbesitzer des Gouvernements S. zu schmähen – weil in ihnen nicht die Spur eines Gemeingefühls vorhanden sei, weil sie nicht einmal für die eigenen Interessen Verständniß hätten! . . . »Merkwürdig jedoch!« – dachte Neshdanow – »er tadelt und schilt ununterbrochen und doch irren ihm die Augen so scheu und unruhig umher! « – Neshdanow vermochte sich keine Rechenschaft zu geben, was das eigentlich für ein Mensch sei und wozu sie ihn brauchten? Ssolomin schwieg wie gewöhnlich; Markelow aber sah so finster aus, daß Neshdanow ihn endlich fragte, was ihm geschehen. Markelow entgegnete, daß ihm gar nichts passirt sei, aber in dem Ton, in welchem man gewöhnlich Leuten zu antworten pflegt, denen man zu verstehen geben will, daß man nicht geneigt ist, sich mit ihnen in eine Unterhaltung einzulassen. – Goluschkin fuhr unterdessen fort, in der alten Weise zu reden, bis er endlich auf die heranreifende Jugend zu sprechen kam und sich in überschwenglichen Lobeserhebungen über sie erging: wie sie jetzt klug sind, die jungen Leute! so klug, so klug! Da unterbrach ihn aber Ssolomin und fragte, wer denn jener zuverlässige Mensch sei, von dem er vorhin gesprochen, und wo er ihn gefunden? Goluschkin lachte laut auf und wiederholte zwei Mal: Sie werden schon sehen, Sie werden schon sehen! – worauf er gleich von der Fabrik zu reden anfing, sich nach dem Eigenthümer, dem »Spitzbuben« erkundigte . . . von Ssolomin jedoch höchst trockene und einsilbige Antworten erhielt. Er goß nun Allen Champagner ein, ergriff sein Glas, flüsterte Neshdanow in’s Ohr: »es lebe die Republik!« – und leerte es in einem Zuge. Neshdanow nippte ein wenig, Ssolomin bemerkte, daß er niemals am Morgen Wein trinke. Markelow aber leerte sein Glas voll Ingrimm gleichfalls bis auf die Neige. Eine gewisse Ungeduld schien an ihm zu nagen, als ob es ihn quäle, daß man sich hier amüsirte, statt vernünftig zu sprechen . . . Er schlug mit finsterer Miene auf den Tisch, rief: »Meine Herren!« – und wollte eben zu reden beginnen . . .

In diesem Augenblick trat ein kleines, offenbar schwindsüchtiges Männlein in einem Nanking-Rock von kaufmännischem Schnitt, mit glatt gekämmtem Haar und spitz zulaufendem, einer Kaffeekanne ähnlichem Gesicht in’s Zimmer, verneigte sich vor den Gästen und ging auf Goluschkin zu, dem er mit leiser Stimme irgend eine Mittheilung machte.

– Gleich! gleicht – antwortete Dieser hastig. Meine Herren, – fuhr er fort, – ich muß Sie um Entschuldigung bitten . . . Der Wassja, mein Kommis, hat mir da ein »Geschichtchen« mitgetheilt, welches so wichtig ist, daß ich mich jetzt durchaus entfernen muß; aber ich hoffe, meine Herren, daß Sie nicht ablehnen werden, bei mir zu speisen – um drei Uhr; dann werden wir uns noch gemüthlicher unterhalten können!

Weder Ssolomin, noch Neshdanow wußten, was sie darauf antworten sollten; Markelow aber rief sogleich noch immer mit derselben finsteren Strenge in den Mienen und in der Stimme:

– Natürlich kommen wir; was wäre das sonst für eine Komödie!

– Innigsten Dank, meine Herren! – fiel Goluschkin ein, und fügte, sich zu Markelow neigend, hinzu: – Tausend Rubel opfere ich jedenfalls . . . das unterliegt keinem Zweifel! – und betheuerte dieses Versprechen durch dreimaliges, bezeichnendes Niederschlagen der rechten Hand mit ausgestrecktem Daumen und kleinem Finger.

Er gab den Gästen bis an die Thür das Geleit und rief ihnen noch auf der Schwelle nach:

– Ich erwarte Sie also um drei!

– Gut! – antwortete Markelow.

– Meine Herren! – rief Ssolomin, als sie auf der Straße waren. – Ich werde zur Fabrik fahren. Was soll man bis zum Mittag unnütz die Zeit vertrödeln! Dieser Kaufmann . . . däucht mir, ist so viel werth, wie ein Bock, von dem man weder Milch noch Wolle bekommt.

– Nun, Wolle wird’s schon geben, – brummte Markelow. – Er verspricht uns Geld. Oder ist er Euch zu ungebildet? Wir können nicht auf Alles Rücksicht nehmen, wir sind – keine wählerischen Bräute!

– Es kümmert mich wenig, ob er ungebildet ist oder nichts – antwortete Ssolomin ruhig. – Ich frage mich nur, wozu meine Anwesenheit von Nutzen sein könnte. – Uebrigens, – fügte er, auf Neshdanow blickend, lächelnd hinzu, – gut: ich bleibe. Mit Kameraden ist’s gut sterben, wie das Sprichwort sagt. —

Markelow hob den Kopf empor.

– Gehen wir unterdessen in den Stadtgarten, das Wetter ist so schön. Wir können uns die Menschen ansehen!

Žanrid ja sildid
Vanusepiirang:
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04 detsember 2019
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