DJATLOV PASS – Die Rückkehr zum Berg des Todes

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DJATLOV PASS – Die Rückkehr zum Berg des Todes
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Djatlov-Pass – Die Rückkehr zum Berg des Todes
J.H. Moncrieff

übersetzt von Tina Lohse

This Translation is published by arrangement with SEVERED PRESS, www.severedpress.com

Title: RETURN TO DYATLOV PASS. All rights reserved. First Published by Severed Press, 2018. Severed Press Logo are trademarks or registered trademarks of Severed Press. All rights reserved.

Diese Geschichte ist frei erfunden. Sämtliche Namen, Charaktere, Firmen, Einrichtungen, Orte, Ereignisse und Begebenheiten sind entweder das Produkt der Fantasie des Autors oder wurden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, lebend oder tot, Ereignissen oder Schauplätzen ist rein zufällig.

Impressum

Deutsche Erstausgabe

Originaltitel: RETURN TO DYATLOV PASS

Copyright Gesamtausgabe © 2019 LUZIFER-Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert

Übersetzung: Tina Lohse

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2019) lektoriert.

ISBN E-Book: 978-3-95835-392-3

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhaltsverzeichnis

Djatlov-Pass – Die Rückkehr zum Berg des Todes

Impressum

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Danksagungen

Im Februar 1959 waren neun erfahrene russische Skifahrer zu einer Expedition ins Ural-Gebirge aufgebrochen. Nachdem am 12. Februar das erwartete Telegramm von Gruppenleiter Igor Dyatlow nicht angekommen war und man von den Skifahrern bis zum 20. noch immer nichts gehört hatte, war ein Rettungsteam losgeschickt worden.

Als die Suchenden den Lagerplatz auf dem Berg des Todes erreichten, wurden sie Zeugen eines Tatorts, der schaurig genug war, um ihnen für den Rest ihres Lebens Albträume zu verschaffen.

Irgendetwas hatte Djatlov und seine Freunde in Panik versetzt, woraufhin sie ihr Zelt von innen mit Messern aufgeschlitzt und das Weite gesucht hatten. Ein paar aus der Gruppe hatten nur Unterwäsche und Socken getragen, andere waren barfuß gewesen. Die Temperatur zu dem Zeitpunkt, als sie in den Schnee rannten, wurde auf -25°C geschätzt.

Einige der Leichen wurden gleich entdeckt, die anderen erst Monate später. Alle Gruppenmitglieder hatten schwere Verletzungen erlitten und vier der Opfer waren so stark zerschunden, dass die Ärzte das Ausmaß ihrer Verletzungen mit denen eines Autounfalls verglichen.

Die russischen Behörden legten sich schließlich darauf fest, dass die Tode durch höhere Gewalt verursacht worden waren. Bis zum heutigen Tage ist die Tragödie ungeklärt. Sie ist als das Unglück am Djatlov-Pass bekannt.

Dieses Buch ist der Erinnerung an die neun Skifahrer gewidmet, die an jenem Ort umkamen, den man heute den Djatlov-Pass nennt: Igor Alexejewitsch Djatlov, Juri Nikolajewitsch Doroschenko, Ljudmila Alexandrowna Dubinina, Juri (Georgi) Alexejewitsch Kriwonischtschenko, Alexander Sergejewitsch Kolewatow, Sinaida Alexejewna Kolmogorowa, Rustem Wladimirowitsch Slobodin, Nikolai Wladimirowitsch Thibeaux-Brignolle und Semjon (Alexander) Alexejewitsch Solotarew.

Mögen sie in Frieden ruhen.

Prolog

Uralgebirge, Sowjetunion, März 1959

In dem Augenblick, bevor sie starb, fragte sich Ljudmila, wie alles nur so fürchterlich hatte schieflaufen können. Verborgen in der behelfsmäßigen Schneehöhle, zum Schutz und zur Wärme, schmiegte sie sich enger an Nikolai, auch wenn der Leichnam ihres Freundes schon lange kalt und steif war.

»Denk dran, Mila«, hatte er ihr eingeschärft. »Egal, was du tust, du darfst nicht schreien. Egal, wie viel Angst du hast, egal, was passiert, du musst still bleiben. Du musst überleben und unseren Familien erzählen, was uns widerfahren ist.«

Die Tränen auf ihren Wangen waren schon längst gefroren. Die Luft war so kalt, dass sie nicht einmal richtig trauern konnte. Die Einsamkeit und Pein, die sie beim Verlust ihres letzten verbliebenen Freundes empfunden hatte, des Mannes, der alles aufgegeben hatte, um sie zu beschützen, musste tief vergraben bleiben. Wenn sie es sicher nach Hause schaffte, würde sie um ihn trauern. Aber jetzt noch nicht. Jetzt musste sie sich auf ihr Überleben konzentrieren.

Ljudmila hatte die meisten Winter damit verbracht, diese Berge auf Skiern zu erkunden. Sie kannte sich gut mit den Symptomen von Erfrierung und Unterkühlung aus. Wenn sie nicht bald eine Möglichkeit fand, ihre Körpertemperatur zu erhöhen, würde sie nicht mehr lange unter den Lebenden weilen. Mit Kribbeln in ihren müden Armen, das sie ignorierte, stieß sie sich von Nikolai ab und kroch bäuchlings durch den Schnee zu dem zusammengesackten Häufchen Elend, das einst Alexander war. Alexander war als Erster ihrer kleinen Gruppe in der Höhle gestorben. Sie wandte ihren Blick von seinem gefrorenen Gesicht ab, während sie ihm die Stiefel auszog. Die Stiefel waren ihr zu groß, aber auch wärmer als ihre eigenen. Mit den Wollsocken, die sie Semjon abgenommen hatte, würden sie ihr schon passen.

Sie zwängte noch einige Socken und einen Stiefel über ihren steif werdenden Fuß, bewegte ihre Zehen, während sie sich auf die Lippen biss, um keinen Laut von sich zu geben. Das Brennen in ihren Extremitäten, so schmerzhaft es auch war, war willkommen. Es bedeutete, dass ihre Füße nicht erfroren waren – bisher.

Ein Krachen aus dem umliegenden Wald erschreckte sie, ließ sie innehalten mit ihren Händen an Alexanders zweitem Stiefel. Ein weiteres Krachen, gefolgt von anhaltendem Rascheln und dem Geräusch von Zedernzweigen, die auf Schnee schlugen. Ljudmila wimmerte, bevor sie beide Hände über ihren Mund schlagen konnte, fest genug, dass ihre Vorderzähne ihre Oberlippe verletzten und metallisch schmeckendes Blut ihren Mund füllte.

»Nein«, stöhnte sie leise. »Nein.«

Sie sah zu Nikolai, der auf der anderen Seite ihres Unterschlupfs lag. Er war so weit weg, zu weit, um ihn rechtzeitig zu erreichen. Sie hätte niemals von seiner Seite weichen sollen. Wenn die anderen sich gelegentlich über sie lustig gemacht und sie als die Jüngste der Gruppe abgetan hatten, hatte nur er ihr geglaubt. Er hatte sie für mutig gehalten. Auch wenn es sich anfühlte, als ob Eis ihre Netzhäute überzog, füllten sich Ljudmilas Augen wieder mit Tränen. Sie wagte es nicht, sie fallenzulassen. Ihre Peiniger konnten jedes noch so kleine Geräusch orten, wie Füchse, die nach den hastenden Schritten ihres Abendessens unter der Schneedecke lauschten. Sie würde nicht hasten, aber sie würde zurück an Nikolais Seite rutschen. Selbst im Tode würde er sie beschützen.

 

Ihre kreischenden Nervenenden außer Acht lassend begann Ljudmila den langsamen, peinigenden Kriechgang zu ihrem Freund. Sie war nur ein Dutzend Schritte entfernt, als sie das schlimmste Geräusch von allen vernahm; das Geräusch, das sie alle zu fürchten gelernt hatten.

Das Geräusch von Fleisch, das von Knochen gerissen wurde.

Sie biss wieder auf ihre Lippen und konzentrierte sich nur auf Nicky, um nicht zu schreien. Ihre Oberschenkel, stark vom jahrelangen Skifahren, schoben sie über den dichten Schnee. Wusch, wusch. Wusch, wusch. Sie passte ihre Bewegungen den grässlichen Kaugeräuschen an, damit auch das leichteste Rascheln ihrer Schneehose verborgen blieb, aber sie hatte etwas vergessen.

Den Sirenengesang frischen Blutes.

Trotz der eisigen Temperaturen stand ihr der Schweiß auf der Stirn und tropfte von ihrer Nase herab. Wusch, wusch. Wusch, wusch. Allerliebster Nicky. Sie konnte ihn beinahe schon anfassen. Seine letzte verbleibende Körperwärme würde ihr wieder Mut machen. An seiner Seite würde sie die Nacht überstehen, und am Morgen, von seiner guten Winterjacke vor den Elementen geschützt, würde sie den Versuch wagen, den Berg hinabzusteigen und sich in Sicherheit zu bringen.

Ljudmila war nur noch Zentimeter von Nikolais Leichnam entfernt, als ein weißes Etwas vor ihr durch den Schnee brach, den Schädel ihres Freundes packte und wie eine überreife Traube zerquetschte. Als das tiefe Rot von Nickys Blut die Wände ihres Zufluchtsorts in die Farbe des Todes tauchte, vergaß sie ihr letztes Versprechen an ihn.

Sie schrie.

Und sie schrie noch immer, als ihr die Zunge herausgerissen wurde, zusammen mit dem Inneren ihres Rachens.

Kapitel 1

Nat sehnte jene Zeiten herbei, in denen Trolle groteske Kreaturen waren, die in Norwegen unter Brücken hausten. Leider lauerten Trolle heutzutage im Posteingang und man wurde sie nicht los, bis sie gelangweilt waren und weiterzogen. Hätte sie diesen Bestimmten zu den Fjorden schicken können, hätte sie nicht eine Sekunde gezögert.

»Schon wider ‘ne Morddrohung?«

»Häh?« Nat konnte sich lange genug vom Bildschirm wegreißen, um Andrew grinsen zu sehen.

»Ich arbeite schon lange genug mit dir zusammen, um dieses Seufzen zu kennen. Was war es diesmal? Morddrohung? Sexuelle Belästigung? Gutes, altmodisches Stalking?«

»Weder noch. Gutes, altmodisches Ködern.«

Als Moderatorin von Nat’s Mysteriöse Welt, dem beliebtesten Podcast der USA, der sich dem Übernatürlichen und ungeklärten Rätseln widmete, war Nat es gewohnt, von Spinnern kontaktiert zu werden. Aber dieser Kerl war anders. Er hatte ihr während der letzten drei Wochen ständig geschrieben, der Ton seiner E-Mails war geradezu provokant. Das Schlimmste war jedoch, dass er sie da traf, wo es wehtat. Sie sollte seine neuste Nachricht ungelesen löschen und ihn blocken, bevor er eine weitere Minute ihrer wertvollen Zeit stahl, aber er war wie ein Autounfall, von dem man nicht wegsehen konnte.

Dieser Troll war nicht wie die anderen. Dieser Kerl kannte sich aus.

»Cliff schon wieder?«

»Ja«, gab sie zu und machte sich für den Vortrag bereit. Ein inzwischen vertrautes Ritual.

»Ich versteh’ einfach nicht, warum du den nicht längst geblockt hast. Warum verschwendest du Zeit für dieses Arschloch?«

»Stimmt, du hast ja recht.« Nat fuhr mit den Fingern durch ihre platinblonde Kurzhaarfrisur und zog daran. Sie konnte ihre schlechte Laune jedenfalls nicht an Andrew auslassen, der nicht nur ihr Produzent war, sondern auch so etwas wie einem Freund am nächsten kam. »Ich glaube, ich wollte ihm einfach nicht die Genugtuung geben. Ich bin sicher, das ist genau, was er will, der Beweis, dass er mir zu schaffen macht.«

»Aber er macht dir doch zu schaffen. So zu tun, als wär’s nicht so, kostet dich mehr, als klein beizugeben. Wenn er erstmal geblockt ist, ist es vorbei. Und mit der Zeit vergisst du, je von ihm gehört zu haben.«

Wenn es doch nur so einfach wäre. »Dann macht er doch nur ‘nen neuen Account auf.«

»Das machen diese Typen nie. Das weißt du. Die haben ihren Spaß und wenn’s vorbei ist, ziehen sie weiter und ärgern jemand anderes.«

»Aber meinst du nicht, dass er nicht ganz Unrecht hat?« Nat beobachtete Andrews Gesicht, da sie glaubte, erkennen zu können, wenn er sie anlog. Auch wenn ihr Produzent erst neulich seinen dreißigsten Geburtstag gefeiert hatte, konnte er noch als Teenager durchgehen und hatte glücklicherweise auch die Energie eines solchen.

»Nein«, sagte er und seine flaschengrünen Augen hielten ihrem Blick stand, ohne nachzugeben. »Finde ich gar nicht. Ich glaube, der redet nur Scheiße, und die Tatsache, dass dir dieser Arsch an die Nieren geht, kotzt mich an.«

»Danke.« Um ihn gnädig zu stimmen, löschte sie die E-Mail, aber es machte keinen Unterschied. Cliffs Worte würden ihr bestimmt ein bis drei Stunden durch den Kopf gehen und sie quälen. »Aber vielleicht hat er recht. Vielleicht ist die Show nur noch Gerede. Es ist schon eine ganze Weile her, seit ich irgendwas Nennenswertes unternommen habe.«

»Und was hat er vollbracht, außer zu wichsen und sich hinter seinem Computer zu verstecken? Der lebt wahrscheinlich bei seiner Mutter im Keller, frisst Flips und trinkt Cola.«

Der Hauch eines Lächelns huschte über ihre Lippen. Genauso hatte sie sich Cliff bereits vorgestellt. Aber Flips hin oder her, das hieß nicht, dass der Kerl Unrecht hatte. In vergangenen Jahren war kein Abenteuer zu gefährlich oder schwierig gewesen. Sie hatte Poveglia überstanden, auch bekannt als die spukigste Insel der Welt. Sie hatte eine Nacht im Winchester House verbracht, hatte das Innere der Queen Mary nur mit einer Taschenlampe erkundet und sich im Hoia-Baciu in Rumänien die Seele aus dem Leib gekotzt.

In letzter Zeit war sie jedoch etwas träge geworden. Sicherlich machte sie die ein oder andere Geistertour oder ging in Nationalparks auf die Jagd nach Bigfoot, aber schon viel zu lange hatte sie nichts mehr auch nur annähernd Riskantes unternommen. Troll oder nicht, Cliff hatte recht. Sie schwang nur große Reden, ohne Taten folgen zu lassen. Sie hatte ihre Glaubwürdigkeit verloren, genau die Sache, die ihren Podcast überhaupt so beliebt gemacht hatte.

»Hör mal, er ist ein Freak. Er ist besessen. Lass es einfach ruhen. Du hast nicht die Zeit, dich um die Cliffs dieser Welt und ihre schrägen Ansichten zu sorgen.«

Das stimmte, die Zeit hatte sie nicht. Trotzdem …

»Aber es wäre ‘ne ziemliche Herausforderung, oder nicht? Die Story hat mich nie wirklich in Ruhe gelassen. Hast du gewusst, dass es schon fast sechzig Jahre her ist, und wir wissen immer noch nicht, was wirklich passiert ist?«

Andrew verdrehte die Augen. »Und das werden wir auch nie erfahren. Es ist sinnlos, Nat. Und nicht zu vergessen, Selbstmord.«

Das ging ihr sofort gegen den Strich, wie er zweifellos erwartet hatte. Auf seine eigene Weise war Andrew auch recht geschickt darin, sie aufzuziehen. »Du darfst nicht vergessen, ich bin Kanadierin. Kein Weichei wie du.«

»Ja ja, erspare mir die Geschichten von deiner Kindheit im Iglu, mit dem Hundeschlitten zur Schule und so weiter. Du bist in Vancouver aufgewachsen, nicht gerade vergleichbar mit russischen Bergen.«

»In Vancouver bin ich aufs College gegangen, nicht aufgewachsen, woran man wieder mal sehen kann, dass du keine Ahnung hast. Wir hatten vielleicht keine Iglus in meiner Heimatstadt, aber der Iditarod-Champion lebte gleich um die Ecke.«

»Von mir aus. Nat, willst du so wirklich deinen Urlaub verbringen? Dir auf einem gottverlassenen russischen Berg den Arsch abfrieren, bei dem Versuch, ein fast sechzig Jahre altes Rätsel aufzuklären?«

»Du musst zugeben, das klingt nach ‘ner Menge Spaß, oder nicht?« Cliffs letzte Stichelei war vergessen, als sie im Geiste bereits die Packliste durchging. »Das weckt die Lebensgeister.«

»Sich auf einem Himmelfahrtskommando abzuquälen, ist das Gegenteil von Spaß. Ganz abgesehen davon, dass es nicht gerade neu ist, sozusagen – und du wirst mir den Ausdruck verzeihen – todlangweilig.«

Nat als wenig originell zu bezeichnen, war fast genauso schlimm wie sie einen Feigling zu nennen. »Wieso das? Wer und wann?«

»Komm schon, Nat. Jeder Dahergelaufene mit ‘nem Blog und ‘nem Tippfinger hat schon über das Unglück am Djatlov-Pass geschrieben. Es ist nicht gerade bahnbrechend. Wenn du schon dein Leben riskieren willst, dann such‘ was nettes Unerklärliches, das noch keiner entdeckt hat.«

Sie schnaubte und hoffte damit die entsprechende Menge Abscheu herüberzubringen. »Wie diese Listicles? Die werden den Vorfällen nicht mal annähernd gerecht, total lächerlich und amateurhaft. Das ist doch nichts weiter als der immer gleiche Wikipedia-Artikel mit ‘nem neuen Aufhänger. Wenn ich das Thema schon aufgreife, dann mache ich es richtig. Ich stelle ein Team zusammen und stelle eigene Ermittlungen an, was da draußen wirklich passiert ist. Wer weiß, vielleicht finde ich sogar ein paar Antworten. Oder wenigstens eine interessante Theorie.«

»Wow, das war noch nie da. Und ganz bestimmt hat noch niemand einen Film darüber gemacht.«

»Das war reine Fiktion, Andrew. Ich bin kein milchbärtiger Filmstudent mit Anflügen von Größenwahn.«

»Nein, du bist eine erfahrene Journalistin. Und deswegen schockt es mich so, dass du das ernsthaft in Erwägung ziehst. Wie kommst du darauf, dass die russische Regierung da mitspielt? Glaub’ mir, es ist Zeitverschwendung. Du lässt dich von diesem Kerl in ein frühes Grab locken.«

»Wo ist dein Sinn für das Rätselhafte? Macht es dich kein bisschen neugierig?« Je mehr er dagegen argumentierte, desto mehr wuchs ihre Begeisterung. Alle ihre besten Ideen fingen damit an, dass jemand sie für verrückt erklärte. Okay, auf einer verlassenen, von Beulenpest heimgesuchten Insel herumzuspringen, war nicht gerade der vernünftigste aller Einfälle gewesen, die sie je gehabt hatte, aber die Zuhörer liebten solches Zeug. Ihre Quoten waren in die Höhe geschossen und die Sponsoren hatten nicht lange auf sich warten lassen. »Lass es mich so formulieren – würde eine dicke Gehaltserhöhung dich neugierig machen?«

Andrews Mundwinkel zuckten. Nur für eine Sekunde, aber es war genug. »Na gut«, sagte er. »Ich rufe nachher bei der russischen Botschaft an.«

»Du bist großartig.«

»Und du bist bekloppt.«

»Danke.« Mit den Kopfhörern auf den Ohren lauschte sie ihrer Musik.

Es war schon zu lange her, dass jemand sie so genannt hatte. Und es fühlte sich verdammt gut an.

Kapitel 2

Ihr Handy klingelte sie mitten in der Nacht wach, was für Nat eher drei Uhr morgens war. Gerade erwacht aus einem Albtraum, in dem die Russen ihren Reisepass eingezogen und sie in den Gulag geworfen hatten, tastete sie orientierungslos nach ihrem Telefon.

»Andrew?«

Sie hatte sich beinahe daran gewöhnt, dass ihr Produzent zu jeder Tages- und Nachtzeit anrief. Sobald ihm klar war, dass sie ihre Meinung über Djatlov nicht ändern würde, hatte er sich den Vorbereitungen gewidmet, und ein Teil davon war, das beste Team der Welt zusammenzustellen. Das bedeutete: Kanadier. Nat war egal, wie viele Meister-Felskletterer in Kalifornien lebten – sie wollte Leute, die Kälte verstanden und Erfahrung darin hatten, extreme Temperaturen zu überstehen. Es hatte eine Weile gedauert, bis sich Andrew ihrer Logik unterwarf und einsah, dass es Logik war, keine verschrobene Form von Patriotismus, aber von da an warf er sich voll und ganz in das Projekt hinein. Er hatte es geschafft, ein junges Inuit-Pärchen anzuheuern. Anubha und ihr Mann Joe lebten auf traditionelle Weise und Anubha war eine geschickte Fährtensucherin. Ihr Wissen bezüglich der arktischen Tierwelt würde dem Team zugutekommen. Nat hatte zwar kein Interesse daran, ihre Ermittlung zu einer Survival-Show zu machen, aber es war klug, sich nicht allein auf ihre Vorräte zu verlassen.

 

Bisher hatte Andrew jede Hürde genommen, bis auf eine. Nat wollte einen Mansen als Teil des Teams. Sie glaubte nicht an den Unsinn, dass das örtliche Volk keinen Fuß auf den Berg des Todes setzte. Nicht für eine Sekunde. Jeder hatte seinen Preis.

Dies musste ihr Produzent sein, um triumphal zu verkünden, dass er alle ihre Bedingungen erfüllt hatte.

»Andrew, du bist ein Genie. Wie zum Teufel hast du einen gefunden?«

»Ich bin froh, dass du meinen Ratschlag angenommen hast.«

Nat verkrampfte. Die Stimme, rau wie eine Käsereibe auf Kies, gehörte nicht ihrem Produzenten. »Wer ist da?«

»Du weißt, wer ich bin. Du solltest lieber fragen, warum ich erst jetzt anrufe.«

»Cliff.«

»Bingo.«

Sie umklammerte ihr Bettzeug, zog es enger um ihren Körper. »Woher hast du diese Nummer?« Ihre Handynummer war nirgendwo aufgeführt. Sehr wenige Menschen waren im Besitz davon und so war es ihr am liebsten. Sie gab ihre Nummer sicherlich nicht an ihr Publikum weiter.

»Du bist nicht die Einzige, die Recherchen anstellen kann.«

»Wenn du nochmal anrufst, werde ich das melden«, sagte sie, ihre Stimme stark und fest und überhaupt nicht so verängstigt, wie sie sich fühlte.

»Wegen eines Anrufs? Was habe ich verbrochen?« Seine Stimme war zwar rau, aber auch so geschmeidig wie die eines Radiomoderators. Nat kam es vor, als ob sie die Stimme schon einmal irgendwo gehört hatte. Wenn sie ihn noch ein Weilchen in der Leitung halten konnte, würde ihr vielleicht einfallen, wo.

»Stalking.«

Er lachte. »Ich stelle dir bestimmt nicht nach, Nat McPherson. In so einem Fall würde ich jetzt vor dem Schlafzimmerfenster stehen.« Er hielt einen Moment inne, lange genug, dass sich Gänsehaut auf ihren Armen ausbreitete. »Was nicht der Fall ist. Keine Bange.«

Sie spürte deutlich den Kloß, der sich in ihrem Hals geformt hatte. »E-Mails und Anrufe zählen auch zu Stalking.«

»Ich bin kein Stalker. Ich bin ein Fan. Hast du so wenige, dass du sie nicht erkennst?«

»Ich würde dich nicht als Fan bezeichnen, Cliff.« Sie lief rot an, als sie an einige seiner schroffsten Kommentare dachte. »Du bist ein Troll. Ein gehässiger, unbedeutender Troll mit mehr Zeit als Verstand.«

»Na na, redet man so vielleicht mit dem Fan, der dir die beste Idee deiner gesamten Karriere gegeben hat?«

»Wohl kaum. Ich interessiere mich schon seit Jahren für den Djatlov-Pass-Vorfall.«

»Ist das so? Warum hast du dann bisher nichts unternommen? Warum musste ich dich dann erst anstacheln?«

Seine Unverfrorenheit trieb sie fast an den Siedepunkt. Wer glaubte dieses Arschloch zu sein? Dachte er wirklich, dass er Macht über sie hatte? Andrew hatte recht – dieser Kerl war ein Freak, nichts weiter. »Niemand musste mich zu dieser Expedition anstacheln. Hast du auch nur irgendeine Ahnung, welche enormen Mengen an Vorbereitung, ganz zu schweigen von Geld, für so etwas nötig sind? Ich würde mir diese Arbeit nicht machen, weil mich jemand herausfordert. Ich bin nicht zwölf.«

Er lachte wieder. »Nicht gewohnt, die Anerkennung zu teilen. Auch gut, ich verstehe das.«

»Ruf hier nie wieder an, Cliff.«

»Leg doch auf, wenn du willst. Ich dachte nur, du möchtest vielleicht mit jemandem reden, der mit dem Fall aufs Engste vertraut ist.«

»Und wer soll das sein?« Sie war todmüde und unfassbar genervt, aber ihre angeborene Neugier gewann wie immer die Oberhand. Was das anging, war sie wie eine Katze.

»Ich.«

»Klar. Du hast Connections zum Djatlov-Fall.«

»Nach der Feindseligkeit in deiner Stimme zu urteilen, glaubst du mir offensichtlich nicht. Aber ich versichere dir, dass es so ist. Warum sollte ich sonst so hartnäckig sein? Ich habe ein persönliches Interesse daran.«

Dieser Typ war unglaublich. Nicht nur ein Stalker, sondern auch psychisch labil. Fantastisch. »Verzeih mir, wenn ich das so sage, aber du klingst nicht sehr russisch.«

»Nach dem Tod meiner Großtante war meine Familie so traumatisiert, dass sie nach Amerika ausgewandert ist. Ich bin auf amerikanischem Boden aufgewachsen, genauso wie du.«

Also wusste er nicht, dass sie Kanadierin war und selbst eine Einwanderin. Zumindest schienen seine Stalking-Künste Grenzen zu haben. »Ach ja? Und wer war diese Tante?«

»Ljudmila Dubinia.«

Nat überkam ein Schauer. Plötzlich war es in ihrem Zimmer sehr viel kälter. »Du bist Ljudmilas Großneffe?«

»Das bin ich.«

»Ich halte das für äußerst unglaubwürdig.« Aber glaubte nicht ein kleiner Teil von ihr schon daran?

»Welchen Grund hätte ich, zu lügen? Ich hab’s schon gesagt, persönliches Interesse.«

Sie war beeindruckt, ob sie wollte oder nicht. Selbst angesichts der niemals endenden Faszination des Falles waren nur wenige in der Lage, die Skifahrer beim Namen zu nennen, abgesehen von Djatlov, und kaum jemand kannte seinen Vornamen. Allerdings, falls es Cliffs Masche war, vorzugeben, Ljudmilas Neffe zu sein, hatte er bestimmt seine Hausaufgaben gemacht.

»Falls das stimmt, warum hast du das nicht gesagt? Warum die hässlichen E-Mails? Warum hast du dich nicht vorgestellt und gefragt, ob ich mir den Tod deiner Großtante näher anschauen könnte, wie ein normaler Mensch?«

»Weil du einen Schubs brauchtest. Du bist über die Jahre faul geworden, abgestumpft. Wenn ich gefragt hätte, hättest du ein paar Anrufe gemacht, vielleicht, oder in deinem Podcast darüber geredet, aber du wärst niemals selbst dorthin gefahren. Verzeih meine Ausdrucksweise, aber jemand musste dir mal Feuer unterm Arsch machen.«

»Wenn Ljudmila wirklich deine Tante war, würde sie es sicherlich nicht schätzen, dass du eine Frau belästigst.«

»Meine Tante war eine starke Frau. Sie hätte verstanden, dass manchmal der Zweck die Mittel heiligt.«

»Angenommen, ich glaube dir, rein hypothetisch, was glaubst du, was passiert ist?«

»Das ist ‘ne leichte Frage. Sie wurde ermordet, bevor ich geboren wurde.«

»Ermordet? Du glaubst nicht an die Lawinentheorie, nehme ich an.«

Cliff lachte leise in sich hinein. »Nein. Ich bezweifle außerdem die lächerliche Infraschalltheorie oder das paradoxe Entkleiden.«

»Was glaubst du dann?«

»Wie schon erwähnt, meine Tante war ein unglaublich starke Frau. Sie war außerdem eine erfahrene Skiläuferin. Sie hat in diesen Bergen kampiert, seit sie ein kleines Mädchen war. Sie hätte ihr Lager bestimmt nicht in einer Lawinenbahn aufgeschlagen, Nat McPherson. Dies war Mord.«

Von den neun toten Bergsteigern hatte Nat zu Ljudmila immer die engste Verbindung gehabt, vermutlich weil die Frau am meisten gelitten hatte. Sie war außerdem die Jüngste der Gruppe gewesen, nur einundzwanzig Jahre alt.

Während der Großteil der Leichen im Februar gefunden worden war, denselben Monat, in dem sie vermisst gemeldet wurden, hatten die arme Ljudmila und ihre drei bedauerlichen Freunde bis Mai warten müssen, als ein Suchtrupp ihre Überreste schließlich unter einer vier Meter dicken Schneedecke begraben fand.

Wer auch immer sie fand, hatte sich vermutlich ein lebenslanges Trauma eingefangen. Ljudmilas Augen, Teile ihrer Lippen und ein Teil ihres Schädels fehlten, ihre Nase war gebrochen und plattgedrückt. Vier ihrer Rippen auf der rechten Seite und sieben auf der linken waren gebrochen. Sie wies massive Blutungen im rechten Herzvorhof auf und ihr linker Oberschenkel war schwer geprellt. Die Kraft, die dafür nötig war, verglich der Arzt, der die Leiche untersuchte, mit der eines Autounfalls.

Aber das war noch nicht einmal das Schlimmste.

Ihre Zunge und die Muskeln im Inneren des Mundraums waren verschwunden. Die Menge an Blut in ihrem Magen ließ vermuten, dass das Gewebe entfernt worden war, als sie noch am Leben war.

»Meine Tante hatte Abwehrverletzungen an den Händen. Als sie starb, kämpfte sie um ihr Leben. Das ist ihr nicht nach ihrem Tod zugestoßen. Sie war wach, als etwas oder jemand ihre Zunge herausriss. Sie war bei vollem Bewusstsein

Angesichts der Schilderung des furchtbaren Schicksals, das die junge Frau ereilt hatte, verzog sich unwillkürlich Nats Gesicht und sie erwähnte das gleiche Argument, mit dem Andrew ihr seit Monaten in den Ohren lag. »Das ist über sechzig Jahre her. Was glaubst du, soll ich dort finden?«

»Da ist etwas auf diesem Berg. Etwas, das meine Tante und ihre Freunde getötet hat, und es ist nicht menschlich. Der Arzt, der die Opfer untersucht hat, gab zu, dass kein Mensch genug Kraft hat, um auf diese Weise jemanden umzubringen.«

Soviel stand fest. Sie hatte detaillierte Übersetzungen der Original-Autopsieberichte gelesen. Ein erhöhter Grad an Strahlung war an der Kleidung der Toten festgestellt worden. Es gab noch so viele Ungereimtheiten an diesem Fall.

»Wie kommst du darauf, dass dieses Etwas immer noch da ist?«

»Ich kann das nicht erklären. Nennen wir’s ‘ne Art Ahnung, Intuition, wenn du so willst, oder der Geist meiner Tante, der mich ruft. Aber ich glaube mit absoluter Gewissheit, dass du die Richtige bist, um herauszufinden, was ihr zugestoßen ist. Enttäusche mich nicht.«

Noch ehe sie ihm für dieses Vertrauensvotum danken konnte, legte er auf und ließ sie in Totenstille und mit der albtraumhaften Vorstellung einer um ihr Leben kämpfenden Frau zurück.