Der kurdische Fürst MĪR MUHAMMAD AL-RAWĀNDIZĪ genannt MĪR-Ī KŌRA

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3. Die Persönlichkeit des Mīr

Aus den Berichten, die uns über Mīr-ī Kōra vorliegen, können wir einiges über sein Privatleben und seine persönlichen Angelegenheiten ersehen:

Mīr Muḥammad hatte nach Fraser drei Frauen.204 Dies stand im Gegensatz zur Tradition der Kurden, in der die Monogamie herrscht.205 Mīr-ī Kōra hielt es also, wie die Feudalen, die manchmal mehr als eine Frau heiraten. Der bekannte kurdische Gelehrte Malā Mahmūd-ī Bāyazīdī (geb. um 1797) bestätigt diese Tatsache: „Die Mehrheit der Kurden hat nur eine Frau. Selten haben die Āġās (Feudalen) zwei oder drei Frauen“.206

Vielleicht hatte Mīr-ī Kōras Polygamie ihre Ursache in der Kinderlosigkeit seiner beiden ersten Ehen. Denn Fraser sagt:”Three wives but no family, nor as he is forty-five, is he likely to have any, in which case Rassol is regarded as his successor“.207

Xēlānī bestätigt ebenfalls die Kinderlosigkeit des Mīr, aber er berichtet, dass Mīr-ī Kōra nur zwei Frauen hatte, und zwar eine Kurdin und eine Türkin, aus Istanbul.208

Daneben ist eine andere Tatsache zu berücksichtigen. Die Scheidung gilt unter den Kurden als große Schande. Bāyazīdī sagt: „Die Scheidung der Frau ist unter ihnen (den Kurden) sehr unangenehm und gilt als Schande. Sie wird sehr selten vorgenommen“.209 Vom islamischen Standpunkt aus verstieß die Polygamie des Mīr nicht gegen seinen Glauben, obwohl aus dem unten zitierten Koranvers210 eine gewisse Bevorzugung der Monogamie zu ersehen ist. Auch die Scheidung ist nach dem islamischen Gesetz erlaubt, aber Muḥammad betrachtet diese Erlaubnis als „abġaḍ al-ḥalāl“, d.h. als „das Übelste alles Erlaubten“.211

Über manche persönliche Eigenschaften des Mīr berichtet Dr. Roos:”The Meer (was) a benevolent pleasing-looking man of about forty-five years of age; fair, marked with the small-pox, and blind of an eye212, which was depressed and opaque. His beard was about twelve inches long, of a light brown colour, the lower beard being uncombed and quite felted together: in other respects, he was rather tidy in dress. He was lame of one leg from the kick of a horse, and spoke with a weak voice”.213

Der Bericht von Dr. Roos, dass Mīr einäugig war, gibt uns im nächsten Kapitel Gelegenheit, auf die verschiedenen Volksetymologien einzugehen. Der Bart des Mīr bestätigt die traditionelle Mode des muslimischen Gelehrten und Fürsten in der damaligen Zeit. Seine Zerlumptheit weist eine gewisse Neigung zum Ṣūfīsmus hin. Mīr-ī Kōra hatte, wie die meisten Kurden, als Gebirgler militärisches Talent; dies kam ihm bei der Bekämpfung seiner Feinde sehr zustatten. Longrigg berichtet darüber:”The remarkable qualities of the blind Beg showed themselves in an unbroken series of conquests“.214

Obwohl aus den Berichten von Mukriyānī zu ersehen ist, dass der Mīr seine Feinde nicht immer mit Waffen besiegt hat, sondern sich auch der List bediente215, kann nicht geleugnet werden, dass er eine gute Führungsgabe besaß. Er griff wohl manchmal zur List, vielleicht nach dem bekannten Wort des Propheten „der Krieg ist eine List“216, eine Weisheit, die meiner Ansicht nach Mīr-ī Kōra wohl verstanden hatte.

Diese Siege hatten aus Mīr-ī Kōra um das Jahr 1834, also in wenigen Jahren, “the most remarkable man in Kurdistan“217 gemacht. Sein Emirat Sōrān war dadurch um die Mitte des 19. Jh. ‘s zum mächtigsten Fürstentum Kurdistans geworden.218

4. Über den Beinamen Kōra

Mīr Muḥammad Rawāndizī trägt verschiedene Beinamen: „Mīr-ī Gawra (der große Fürst)“219 oder Muḥammad Pāšā-ī Rawāndizī220 oder Pāšā-ī Kōra (Köra)221, ist aber auch als „Mīr-ī Kōra“222, d. h. „der blinde Mīr“, bekannt. Diesen letzten Beinamen hat der Mīr bekommen, weil er tatsächlich einäugig war, wie Dr. Roos als Augenzeuge bestätigt.223 Trotz dieser Tatsache versuchen die meisten kurdischen Berichte224, eine andere Deutung zu finden. Die Ursache liegt meiner Ansicht nach darin, dass die Kurden die tapferen Menschen sehr hochschätzen; sie neigen dazu, solchen Menschen alle guten Eigenschaften zuzuschreiben. Deshalb konnte ein großer Mīr wie Mīr-ī Kōra natürlich nicht blind sein und einen Beinamen führen, der bei Kurden Ausdruck eines Makels und der Kraftlosigkeit gewesen wäre.225 Ich erwähne an dieser Stelle Ansichten, die ich von Kurden hörte, und möchte versuchen, ihre Vertrauenswürdigkeit zu prüfen:

Viele Rawāndiz-Kurden, die ich persönlich befragt habe, waren der Meinung, dass die Familie von Mīr Muḥammad ursprünglich aus dem Dorf Kōr̂ē226 stamme; daher der Beiname. Aber der kurdische Ausdruck für blind ist kōr oder kör – je nach dem Dialekt – und nicht kōr̂.227

Der verstorbene Šākir Muğrim (starb1957), Minister für Post- und Telegraphenwesen im kurzlebigen Königreich des Scheich Maḥmūd Barzinği (1882-1956), lebte längere Zeit in Rawāndiz und interessierte sich sehr für die Geschichte des Mīr-ī Kōra. Er erzählte mir, dass „Mīr Muḥammad, der ein ganz gläubiger Mensch und dessen Gesetz nur der Koran war, jedem Menschen die Augen ausstechen ließ, der die Ehre eines anderen Menschen angegriffen hatte“.228 Darum trug er den Namen Kōra.229

Gewiss, Mīr-ī Kōra war „gläubig“. Es gibt viele Dokumente über seine Einstellung. Er richtete sich nach dem Koran und verehrte die islamischen Gelehrten.230 Aber Kōr oder Kōra ist eine Bezeichnung für jemanden, der selbst blind ist, und nicht für jemanden, der andere blendet.

Der kurdische Forscher Gīw-ī Mukriyānī,der die 2. Auflage des Werkes seines Bruders Ḥuznī Mukriyānī231 herausgab, bringt am Ende des Buches einige neue Berichte über Mīr-ī Kōra. Er erwähnt beide Auffassungen, die ich vorhin besprochen habe.232 Aber er ist sich nicht ganz sicher. Doch gibt er an, dass er „eine alte Urkunde“ besitze, in der viele geschichtliche Daten aufgezeichnet seien. Dort gebe es einen Hinweis auf den „kriegerischen Zusammenstoß von Muḥammad Pāšā und Tamir Pāšā aus Kōya233 mit Aḥmad Pāšā am Fuße des Giłazarda-Berges"234 sowie einen weiteren auf den "Tod von Tamir Pāšā, die Festnahme und die Blendung von Muḥammad Pāšā durch Aḥmad Pāšā und den Tod von Aḥmad Pāšā am 17. Ramaḍān in Qaradāġ235 im Jahre 1192h (1779/80)“.236 Der Kommentator fügt hinzu, dass „der hier erwähnte Muḥammad Pāšā vielleicht der ‚Große Mīr-ī Kōra‘ sei“.237 Diesen Bericht von Gīw-ī Mukriyānī habe ich in ähnlicher Form bei Rich in seinem Reisebericht gefunden.238 Rich berichtet, dass er am 10. Oktober 1820 eine Schriftrolle von Omar Agha bekommen habe, auf der verschiedene Daten standen.239 Im Anhang seines Buches übernahm Rich diese Daten und Geschehnisse

Im ersten Band seines Buches steht unter “Series of Bebeh Princes“ auf Seite 383 folgendes, und zwar in dieser Tabellenform:


* = 240 / ** = 241 / *** = 242

Ich glaube, beide Berichte sagen das Gleiche aus: dieser Muḥammad Pāšā kann nicht Mīr-ī Kōra sein, d. h. nicht Muḥammad Pāšā-ī Rawāndizī, sondern es ist vielmehr Muḥammad Pāšā-ī Bābānī. Außerdem möchte ich hier erwähnen, dass ein auf beiden Augen Erblindeter nach den islamischen Gesetzen nicht regieren darf. Es scheint, dass G. Mukriyānī selbst nicht von der Glaubhaftigkeit seines Dokumentes überzeugt war, deshalb schloss er eine Erklärung an für den Fall, dass dieser Muḥammad Pāšā nicht Mīr-ī Kōra gewesen sein sollte243: „Die Kurden verwendeten einige Jahrhunderte lang den Namen Mīr an Stelle von Pā(d)šā(h). In der Zeit Mīr Muḥammads und auch vorher gab es viele andere Mīre in vielen Orten Kurdistans. Mīr Muḥammad Pāšā erhob die Fahne der Freiheit, erklärte die Unabhängigkeit Kurdistans, belegte Thron, Krone, Münzrecht und Armee für sich mit Beschlag und ließ alle Arten von Waffen in Rawāndiz herstellen. Er hat die Kugel des Fortschrittes von anderen Mīren gewonnen.244 Er war mächtiger, größer und besaß mehr Autorität als die anderen Mīre. Deshalb nannte man ihn den großen Mīr; Mīr-ī Gawra. Jedermann weiß, dass es damals keinen eigenen Buchstaben für den Laut ‘g گ ‘ gab, sondern dass er als ‘k ك ‘ geschrieben wurde245, und wenn der Buchstabe ‘h ە ‘ als Schriftzeichen für a (Fatḥah) nicht am Wortende stand, wurde er nicht geschrieben.246 Deshalb wurde ‘gawra گەورە ‘ – als ‘KWRA کورە ‘ geschrieben und man hat es fälschlich auch so als ‘kōra کورە ‘ ausgesprochen. Er heißt in Wirklichkeit Mīr-ī Gawra, der große Mīr, und nicht Mīr-ī Kōra, der blinde/ einäugige Mīr.“

 

Zu dieser „philologischen“ Deutung Gīw-ī Mukriyānīs möchte ich sagen, dass es keinen Anlass dafür gibt, dass die Kurden ihre Muttersprache selbst hätten falsch aussprechen sollen. Außerdem war die Mehrheit dieser Kurden Analphabet. Sie hörten den Namen von Mīr-ī Kōra nur und lasen ihn nicht. Ferner möchte ich sagen, dass aus der Art des Berichtes von Gīw-ī Mukriyānī seine Begeisterung für Mīr-ī Kōra spricht. Deshalb versuchte er wie viele andere Berichtschreiber, keinen Makel an ihm sichtbar werden zu lassen. Ähnlich äußert sich Xēlānī: „Muḥammad Beg ist jene Person, die im Land Sōrān als Pāšā-i Kōra bekannt ist. Dieser Ausdruck wird mit persischem Kāf 247 gelesen. Aber die Feinde lesen ihn mit arabischem Kāf.“ 248

So kann man wohl sagen, dass der Persönlichkeit des einäugigen Sōrānī-Fürsten wie auch seine kriegerische Tüchtigkeit ihm einen guten Ruf eingebracht hatten. Bis heute steht er in hohem Andenken: außerdem war er Anlass für das Entstehen einer Reihe von volksetymologischen Deutungen und von Volkserzählungen.

B. DIE VERHÄLTNISSE IM EMIRAT ZUR ZEIT MĪR-Ī KŌRAS
1. Die religiösen Verhältnisse

Die islamischen Theologen spielten im Sōrān-Emirat eine sehr bedeutende Rolle. Sogar „die Rechtspflege lag in den Händen der ‘Ulamā“.249 Das hatte seine Ursache wohl in der streng islamischen Erziehung des Fürsten. Zakī berichtet über die „Frömmigkeit“ des Mīr: „Muḥammad Pāšā war von großer Frömmigkeit und Rechtschaffenheit in der Beachtung des islamischen Rechtes. Er nahm keine Sachen in Angriff, ohne von den ‘Ulamā ein Fatwā eingeholt zu haben. Ihre Auffassung war für sein Handeln maßgebend. Das Gesetz, auf das er sich stützte, waren der heilige Koran und die Regeln des ehrwürdigen islamischen Rechts“.250

Durrah berichtet etwas Ähnliches über Mīr-ī Kōra: „Er war ungewöhnlich fromm, gut und hing am ehrwürdigen Gesetz (des Islams)“.251

Xēlānī berichtet über Mīr-ī Kōra, die beiden vorherigen Berichte bestätigend: „Der Pāšā hatte die stetige Gewohnheit, in den großen Problemen der Religion und der Welt den Malā252 um Rat zu fragen“.253

Dr. Roos berichtet nichts über solch fanatisch islamische Anschauungen Mīr-ī Kōras, aber seine Berichte über die Strafen, die im Sōrān-Emirat verhängt wurden, lassen die vorherigen Berichte von Zakī, Durrah und Xēlānī als richtig erscheinen: “… for theft, a hand is chopped off; for desertion, a foot; and for other crimes, the loss of one or both eyes is held sufficient“.254

Insofern diese Strafen im allgemeinen255 dem islamischen Strafgesetz entsprechen, kann man sagen, dass die islamische „šarī’at“ herrschte.

Angesichts dieser Sachlage ist zu vermuten, dass die ‘Ulamā neben dem Mīr das Emirat regiert haben, wie Nikitine berichtet. Von den ‘Ulamā, die im Emirat sowie in ganz Kurdistan einen besonderen Ruf genossen, sind zwei zu nennen: Malā Muḥammad-ī Xatē (geb. 1200h. bzw. 1785/6)256 und Malā Yaḥyā-ī Mizōrī (starb 1254h. bzw.1839/40).257

Xatē ist eine Persönlichkeit, die bis heute bei den Kurden bekannt ist. Xatē und Idrīs-ī Bitlīsī (starb 1520) werden häufig in einem Atemzug erwähnt, jedoch nicht wegen ihres Wissens, sondern wegen ihrer von den Kurden als unpatriotisch betrachteten Haltung. Bitlīsī wird wegen seiner Hilfe für die Osmanen bei den kurdischen Fürsten als „Makler“ und „Handlanger“258 und Xatē wegen seiner Unterstützung der Osmanen gegen Mīr-ī Kōra als „Vaterlandsverkäufer“259 betrachtet. Xatē hatte das Amt eines Muftīs des Emirates260 inne und war beim Mīr sehr geachtet.261 Nach Mukriyānī soll der Wālī von Bagdad, Dā’ūd Pāšā, absichtlich Xatē mit dem Auftrage zum Mīr geschickt haben, diesen zum Abschluss eines Bündnisses für schwere Zeiten zu veranlassen. Der Wālī soll aus Angst vor der Annäherung zwischen Mīr-ī Kōra und der Qāğāren-Regierung die Freundschaft Mīr-ī Kōras gesucht haben.262 Demnach müsste Xatē ein Handlanger Dā’ūd Pāšās gewesen sein.263 Es ist sehr schwer zu entscheiden, ob dieser Bericht zutrifft. Es gibt ja eine ganz bekannte Angabe, dass die Armee des Mīr-ī Kōra auf Grund eines Rechtsgutachtens von Xatē nicht gegen die osmanische Armee im Jahre 1836 gekämpft hat.264 Wenn man auch annimmt, dass Dā’ūd Pāšā seine Annäherung an Mīr-ī Kōra nicht aus Zuneigung und Respekt vornahm, sondern weil er ihn als eine neue Macht gegen das Bābān-Emirat und den iranischen Einmarsch einsetzen wollte, wie manche Kommentatoren angeben265, so muss man trotzdem eine Tatsache berücksichtigen: Dā’ūd Pāšā war in der Zeit des Sturzes Mīr-ī Kōras (1836) nicht mehr Wālī.266 Außerdem war Dā’ūd Pāšā ein Mensch, der die ‘Ulamā sehr hochachtete.267

Xēlānī berichtet, dass Dā’ūd Pāšā vom großen Wissen des Malā-ī Xatē sehr begeistert war. Deshalb war Xatē bei Dā’ūd Pāšā sehr geachtet.268 Aber ob Xatē insgeheim ständig osmanischer Agent war, wie man nach Mukriyānī annehmen muss, mag dahingestellt bleiben.

Der zweite ‘Ālim, Malā Yaḥyā-ī Mizōrī, war ebenfalls einer der berühmtesten kurdischen Gelehrten.269 Mizōrī war zu Mīr-ī Kōra geflüchtet, nachdem ‘Alī Beg Dāsanī 270, der Mīr der Yazīdī, seinen Onkel 271, ‘Alī Beg-ī al-Kōšī, getötet hatte. Mīr-ī Kōra und Malā-ī Xatē nahmen ihn herzlich auf.272

Nach Damlūğī soll Dā’ūd Pāšā den Theologen Mizōrī zu Mīr-ī Kōra geschickt haben. „Malā Yaḥyā Mizōrī reiste nach Bagdad und trug dem Wālī von Bagdad, Dā’ūd Pāšā, das Unrecht vor, das man ihm angetan hatte. Dieser gab ihm einen Empfehlungsbrief mit, der an Muḥammad Pāšā, den Mīr von Rawāndiz, adressiert war. …. Man erzählt, dass Dā’ūd Pāšā, als er Yaḥyā den Brief gab, ihn mit dem heiligen Koranvers ‘O Yaḥyā, nimm die Schrift mit Kraft hin‘ 273 ansprach. Yaḥyā antwortete ihm sofort ‘O David! Wir haben dich zum Statthalter auf Erden eingesetzt‘ 274“.275

Es fällt nicht so sehr ins Gewicht, ob dieser Bericht stimmt. Wichtig ist die Rolle, die Mizōrī mit Hilfe des gleichgesinnten Xatē gespielt hat, um die Yazīdī in eine katastrophale Lage zu bringen. Es gibt Berichte, wonach Mizōrī, um seinen Bruder (oder Neffen) an den Yazīdī zu rächen, den Mīr dazu gebracht habe, 1247h. (1831/2) eine Offensive gegen die Yazīdī zu eröffnen und einen Vernichtungskrieg gegen sie zu führen.276 Es ist bekannt, dass der Mīr auf Grund eines Rechtsgutachtens in das Yazīdī-Gebiet einmarschierte. Dagegen weiß man nicht genau, wer von beiden ‘Ulamā (Xatē oder Mizōrī) dieses Rechtsgutachten ausgestellt hatte. Damlūğī führt zwei verschiedene Berichte an: „Im Jahre 1932 besuchte ich das Dorf Xatē, um nach der Fatwā zu suchen, die Malā-ī Xatē ausgesprochen hatte, aber ich fand nichts. Man sagte mir, dass derjenige, der die Fatwā zur Vernichtung der Yazīdī erteilt hatte, Malā Yaḥyā Mizōrī und nicht Malā-ī Xatē gewesen sei“.277 Später äußerte Damlūğī: „Mizōrī verlangte von dem ‘Ālim des Sōrān-Fürstentums, Malā Muḥammad Xatē, ihm ein Rechtsgutachten auszustellen, um seinen Wunsch nach einem Kampf gegen die Yazīdī zu erfüllen. Xatē stellte sofort eine Fatwā aus, die die Yazīdī für vogelfrei erklärte“.278 Doch zweifelt Damlūğī am Verfasser der Fatwā. Er sagt: „Man sagt auch, dass Mizōrī selbst diese Fatwā ausgestellt hat“.279

Ob Mizōrī oder Xatē diese Fatwā ausgestellt hat, ändert am Ergebnis nichts. Damlūğī selbst sammelt in seinem Werk “al-Yazīdī–yyah“ viele andere Fatwās gegen die Yazīdī. Die Rolle Mīr-ī Kōras dabei soll nicht außer Acht gelassen werden. Denn der Mīr war ein Handlanger zur Ausführung des fanatischen islamischen Willens der ‘Ulamā.

Die Yazīdī hatten sehr viel zu leiden. Es gibt Berichte, die uns wissen lassen, dass der Yazīdīführer ein Opfer dieses Fanatismus wurde. Minorsky berichtet: „Die Yazīdī wurden mehrmals hart gezüchtigt. Ihr Führer ‘Alī, der sich weigerte, sich zum Islam zu bekehren, wurde hingerichtet“.280

Mukriyānī bestätigt diesen Bericht: „Wie ich von den alten Leuten in Rawāndiz hörte, war ‘Alī Beg ein tapferer, schön aussehender und korrekter Mensch. Er hatte nicht die Ermordung und Hinrichtung verdient. Aber der große Mīr (Muk meint damit Mīr-ī Kōra) verlangte von ihm (‘Alī Beg) auf Veranlassung der fanatischen ‘Ulamā, dass er (‘Alī Beg) sich zum Islam bekehren müsse. Aber ‘Alī Beg weigerte sich. Als Folge wurde dieser ehrenwerte Fürst (‘Alī Beg) auf Anstiftung jener Theologen getötet, nicht etwa weil seine Frau (Frau ‘Alī Begs) in Sinğār einen Aufruhr angezettelt hätte, wie manche erzählen. Heute kennen die Rawāndiz-Leute alle die Geschichten von ‘Alī Beg und sie erzählen sie einander“.281

Xēlānī bestätigt die vorherigen Berichte: „In der Hoffnung, dass ‘Alī Beg eines Tages den richtigen Weg einschlage und Muslim würde, hatte der Mīr ihn sehr geachtet. Besonders war der Mīr von seiner Ritterlichkeit und starken Persönlichkeit begeistert. Er verlangte von ihm dreimal zu verschiedenen Zeiten, dass er (‘Alī Beg) Muslim werden müsse. Aber ‘Alī Beg antwortete jedes Mal: ‘Wegen einem Löffel Blut werde ich nicht Muslim‘. Als der Mīr keine Hoffnung (auf die Umkehr des ‘Alī Beg) mehr hatte, befahl er, ihn zu töten“.282

Diese sich entsprechenden Berichte von Minorsky, Mukriyānī und Xēlānī schlugen sich auch in einem kurdischen Volkslied nieder.283

Die Beziehungen des Mīr zu den Christen, die immerhin von den Muslimen als „Buchbesitzer“ anerkannt werden, anders als die Yazīdī, die „Teufelsanbeter“ heißen284, waren gleichermaßen schlecht. Bei einem Feldzug gegen das von Christen bewohnte Dorf Alqōš wurden 172 Christen erschossen.285

 

Nach Mukriyānī war das Opfer der Christen noch größer: „Die Bevölkerung in Alqōš bereitete sich zum Kampf vor. Der Mīr vernichtete sie bis zum letzten Mann. Aber im Dorf Hurmuzd schützte die Diplomatie der christlichen Priester die dortige Bevölkerung vor den Maßnahmen des Sōrānī-Mīr“.286

Der Verfasser der „Geschichte Mossuls“, Sulaimān al-Ṣā’iġ, der seine Information aus der „Geschichte der Hurmuzd-Priester“, einer Handschrift in aramäischer Sprache, übernahm, berichtet folgendes: „Die Soldaten des Mīr marschierten in Alqōš ein. Nachdem sie Alqōš ausgeraubt und eine große Zahl der Einwohner getötet hatten – denn niemand konnte sich retten außer denjenigen, die in die Berge geflohen waren – drangen sie im Dēr Rabbān Hurmuzd ein. Sie töteten und beraubten einige ihrer Priester“.287

Ein christlicher Priester aus Alqōš namens Damyānōs al-Alqōšī beschrieb damals in einer enthusiastischen Dichtung in chaldäischer Sprache dieses Unheil und die Gewaltherrschaft Mīr-ī Kōras.288 Ein Freund von mir, der aus Alqōš stammt, hat die Dichtung dem Sinne nach für mich ins Kurdische übersetzt.

Über die Lage der Juden (die im Übrigen bis 1948 im ehemaligen Sōrān-Emirat als Minderheit lebten), haben wir nur eine kurze Nachricht von Suğādī, der berichtet, dass Mīr-ī Kōra einen Pferdeknecht hatte, der Jude war. Mīr-ī Kōra soll ihn sehr geschätzt haben, obwohl die Juden nach Suğādī in der Mīr-ī Kōra-Zeit überhaupt kein Ansehen besaßen.289 Jedoch deutet nichts darauf hin, dass die Juden besondere Feindseligkeiten zu erdulden hatten.

Nach der Dichtung „Malīxā“ soll diese Haltung des Mīr ihm einen besonderen Ruf unter den ‘Ulamā in Bagdad verschafft haben. So schrieben die ‘Ulamā von Bagdad dem Mīr 1244 h. (1828/9) einen Brief, in dem sie ihn aufforderten, Bagdad zu erobern, und die Stadt von der Herrschaft der Mamlūken zu befreien.290

Xēlānī berichtet, dass die Bevölkerungen von Bagdad, Kirkuk und Mossul im Zeitraum 1204-08 h. (1789-1793) zu verschiedenen Zeiten „den Mīr aufforderten, ihre Länder zu erobern. Sie ließen ihn wissen, dass die Umstände für ihn besonders günstig seien. Aber der Mīr lehnte ihre Angebote ab“.291

Obwohl ich keine anderen Berichte darüber gefunden habe und auch das Datum, das Xēlānī angibt, nicht stimmen kann, weil Mīr-ī Kōra zu diesem Zeitpunkt nicht regierte, halte ich diese Nachricht nicht für unmöglich, denn die ‘Ulamā von Erbil hatten Mīr-ī Kōra ihre Stadt ohne Kampf in die Hände gegeben.292

Zusammenfassung

Nach der Überprüfung der religiösen Verhältnisse im Emirat Mīr-ī Kōras kann man folgendes feststellen:

1 Der Islam sunnitischer Prägung war die Staatsreligion im Emirat. Doch die subjektive Frömmigkeit des Mīr stimmte nur z. T. mit den Gesetzen des Islam überein:a. Nach den Berichten von Fraser293 und Mukriyānī294 hat Mīr-ī Kōra muslimische Bevölkerungen angegriffen und sie dezimiert. Ein solches Verhalten steht deutlich im Gegensatz zum islamischen Recht.295b. Die Christen sollten – nach islamischem Gesetz – bekämpft werden, soweit sie die Kopfsteuer nicht zahlten.296 Es ist aber nicht nachzuweisen, dass Mīr-ī Kōra wegen dieser Kopfsteuer gegen die Christen gekämpft habe.

2 Trotz dieser Abweichung von der theoretischen Lehre des Islam richtete sich das öffentliche Leben danach. Dies hatte gewisse positive, aber auch sehr negative Begleiterscheinungen:

a. Die strenge Rechtsprechung nach islamischen Gesetzen zog gegen einige schlimme Gewohnheiten zu Felde: “Theft and robbery are scarcely ever heard of, and no door is ever closed at night; yet punishment by death is seldom implicated“.297 Meiner Ansicht nach konnte sich durch Maßnahmen dieser Art nur die äußere Lage ändern. Die Ursachen solcher Vergehen wie Diebstahl und Räuberei können nur Hand in Hand mit einer Umerziehung des Volkes beseitigt werden. Das analphabetische, hungrige kurdische Volk bekannte sich zum Islam nicht als Glauben aus verstandesmäßiger Überzeugung, sondern aus einer gefühlsmäßigen Tradition. Solche Menschen gehen zum Beten, ohne zu verstehen, welche Gebete sie auf Arabisch sprechen.

Es gibt eine sehr bekannte Anekdote in Kurdistan. Man erzählte, dass der osmanische Kalif ‘Abd al-Ḥamīd einmal den Befehl gab, alle Christen müssten Muslime werden oder sie würden vernichtet.

Ein muslimischer Kurde nahm daraufhin sein Gewehr und ging zu seinem christlichen Nachbarn und sagte:

- Sei Muslim oder du bist sofort tot!

- Aber ich bin doch dein Nachbar und wir sind gute Freunde.

- Ich verstehe dich nicht. Werde schnell Muslim oder du bist tot.

- Gut! Ich werde Muslim. Aber was soll ich sagen oder tun?

- Werde ganz schnell Muslim, wenn du noch weiter leben willst.

- Gerne! Aber sag mir doch, was ich sagen oder tun muss!

Der Muslim überlegte etwas, dann stellte er sein Gewehr hin:

- Bei Allah, das weiß ich auch nicht“.298

Das ist nur eine Geschichte, aber sie mag sich so zugetragen haben. Deshalb kann man sagen, dass die blinde Anwendung der islamischen Strafgesetze in solchen Fällen nicht viel nutzt. Hier kann man mit den Verfassern des offiziellen Lehrbuchs der irakischen Schulen „Neue Geschichte“ einverstanden sein, wenn sie die Enthaltsamkeit der „schlechten Leute“ von Missetaten nur als Resultat der strengen Regierung Mīr-ī Kōras betrachteten:

„Muḥammad Pāšā befolgte beim Regieren die Gesetze der Religion. Dieben wurden die Hände abgehauen, und Mörder wurden hingerichtet. Wegen dieser unnachsichtigen Härte ließen die schlechten Leute von üblen und verbotenen Taten ab“.299

b. Die islamisch geprägte Regierung gab den fanatischen ‘Ulamā die Rechtspflege in die Hand, die somit ihrem Gutdünken ausgeliefert war. Infolgedessen wurden Yazīdī und Christen unbarmherzig angegriffen. Dies brachte Mīr-ī Kōra viele Feinde unter den Nicht-Muslimen gerade zu einer Zeit ein, als das Osmanische Reich sich darauf vorbereitete, Mīr-ī Kōra und die anderen kurdischen Fürsten anzugreifen.300 Mīr-ī Kōra hätte aus diesen Yazīdī und Christen für sich treue Verbündete gegen die Osmanen schaffen können, wenn er nicht so fanatisch eingestellt gewesen wäre und entsprechend gehandelt hätte.

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