Glaube & Ansichten – Beiträge zur zeitgenössischen deutschen Geschichte

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Glaube & Ansichten – Beiträge zur zeitgenössischen deutschen Geschichte
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Gert HOLSTEIN

Glaube und Ansichten

Ein Skizzen- und Episodenbuch

Inhaltsverzeichnis

Ansichten 7

Vom Unternehmer-Mythos 13

Autowahn 21

Sinn der Gesellschaft 48

Katzenjammer 52

Woher – wohin 75

Verwandtschaft 82

Moses 150

Ego sum, ego existo 157

Freiheit 159

Heinz 163

Selbstbestimmungsrecht der Völker 171

Jochen 173

Ostalgie 175

Waffe Erdöl 177

Wörter und Unwörter 178

Bodo Ramelow 183

Center-Ost 189

Flüchtlinge 192

Mäcke 196

Volkes Wille 208

Vereinfacher 209

Bedingunsloses Grundeinkommen 214

Gutmenschen 217

MoraL 228

Armageddon 231

Per aspera ad astra? 237

Joachim Gauck 243

Wolfgang 245

Donald Trump 258

Ansichten

(September 2013)

Meine Tochter zieht es in die Ferne. Australien, Mexiko, Indien, Vietnam, alles hat sie schon, zumeist auf asketisch-abenteuerliche Art, bereist. Das Fernweh muss sie von mir geerbt haben, obgleich ich inzwischen über Tage hinweg kaum mehr als nur einen Fuß über die Grenzen unseres bescheidenen Anwesen setze. Schon als kleiner Bub im Vorschulalter war ich vom unstillbaren Wunsch beseelt, später einmal als Seemann um die ganze Welt zu fahren. Aus diversen Gründen hat sich dieser Wunsch dann lediglich im Befahren der Ostsee, und auch dies nur in sehr bescheidenem Umfang, manifestiert. Aber zurück zu meiner Tochter. Vergangenes Jahr kehrte sie aus China zurück und brachte wie üblich neben jeder Menge fremdländischer Utensilien auch mir eine Geschenk mit. Eine Mao-Fibel, zweckmäßig im Format, so dass in jede Jackentasche passend, versehen mit einem strapazierfähig-schlichten roten Plastikeinband. Die Zitate und Thesen des Großen Führers darin thematisch und zeitlich geordnet, dargeboten in teilweise liebenswert-fehlerhaftem Englisch. Seitdem lese ich hin und wieder darin. Was ich zu meinem Erstaunen vorfinde, ist mir allesamt bestens bekannt. Zitat für Zitat könnte einem der Lehrbücher, Referate, Diskussionsbeiträge etc. entnommen sein, wie sie einst zu hunderten über mich ergingen. Mit eiferndem Enthusiasmus aufsaugend in meinen frühen Jahren, späterhin gelangweilt und aus eingeredet-notwendiger Disziplin hingenommen, um letzten Endes mit Skepsis, Argwohn und zuweilen mit geringem Schauder selbige in Frage zu stellen. Ich habe kein Problem damit zu gestehen, dass auch ich einige dieser Zitate dereinst im Munde führte: aus unwissender Überzeugung, aus rechthaberischem Drang, den Disputgegner verbal zu liquidieren, aus Parteidisziplin, aus Opportunismus der guten Schulnote wegen.

Ein Zitat hat es mir besonders angetan, war es doch über Jahrzehnte eines meiner obersten Glaubensgrundsätze: The sodalist system will eventually replace the capitalist system; this is and objective, law independent of mans will. However much the reactionaries try to hold back the wheel of history, sooner or later revolution will take place and will inevitably triumph. (Speech at the Meeting of the Surpreme Soviet of the U.S.S.R., in eleboration of the 40th Anniversary of the Great October Socialist Revolution, November 6, 1957) steht so wie hier Buchstabe für Buchstabe und Wort für Wort geschrieben in dem Büchlein. Unterm Strich die Unausweislichkeit und Unabänderlichkeit des prognostizierten historischen Verlaufs.

Seite für Seite, These für These, Zitat für Zitat arbeite ich mich nun durch die Fibel, freilich ohne jegliche Hast und schon gar nicht mehr unter Druck. Und so verwunderlich es auch klingen mag: Ich finde darin nichts Unlogisches. Wer das Große Ziel im Auge hat, und festen Willens ist, dies umzusetzen, kommt nicht umhin, die Zitatenweisheiten nahezu abstrichlos zu befolgen. Ich sehe keine andere Alternative. Es ist keine Ansichtssache, es ist Sachzwang. Ansichtssache hingegen ist das Große Ziel an sich. Und da scheiden sich die Geister, ganz erheblich zumal. Womit ich beim eigentlichen Thema wäre.

Menschen streiten sich seit Aber- und Aber-Zeiten über das Woher und das Wohin. Sie tun dies unter allen möglichen und unmöglichen Umständen, verbunden nur allzu oft mit rein materiellen Motivationen. Das Problem dabei: Die wirklichen Bewegungsgesetze des Universums, darin eingeschlossen die der menschlichen Gesellschaft, waren und sind uns nach wie vor weitestgehend unerkannt. Selbst die Physik, Urmutter aller Naturwissenschaften vermag bei Bemühung der aufwendigsten Methoden die verborgenen Geheimnisse nicht zu entschleiern und flüchtet sich der Erklärung halber in ominöse Raum-Zeit-Betrachtungen und esoterische Stringtheorien, welche bis dato immerhin 11-fach dimensionierte Universen-Strukturen entstehen ließen. Wie sprach doch gleich die Gänsemagd zum Pferdekopf? Oh Falada, der Du da hangest! Was mich dabei zudem bewegt: Bedarf das Universum in seiner Unendlichkeit tatsächlich eines Faktors „Zeit“? Wenn nicht, wohin dann mit ihrer Krümmung und dem „Raum-Zeit-Kontinuum“? Und die Krümmung des Raumes wäre dann auch gleich noch zu hinterfragen.

Noch ärger betrifft’s, was die Wahrheitsdeutung anbelangt, die sogenannten Gesellschaftswissenschaften (Geschichts-, Politik- und ähnliche andere „Wissenschaften“ darin eingeschlossen).

Was letztlich, solange der wirkliche 100ige Beweis nicht vorliegt, verbleibt, sind bloße Ansichten, diese mehr oder weniger stark in ihrem Wahrscheinlichkeitsgehalt durch praktischen Gebrauch belegt. In diesem Sinne sehr stark belegten Ansichten wie dem Axiom „1+1=2“ stehen aus reinen Naturgegebenheiten gänzlich unbelegte Ansichten wie die „Einführung des Mindestlohnes“ gegenüber. Ich stritt in meinen jüngeren Jahren zu meinem heutigen Verdruss selbst mit Freunden, Verwandten und Bekannten, da ich glaubte (damals „wusste“), die Gesetzmäßigkeiten des geschichtlichen Verlaufs zu kennen - dem Prinzip nach wenigstens - und vermeinte, meinem jeweiligen dies so nicht bewussten Streitgegenüber auch mit zuweilen recht deutlicher Vehemenz vermitteln zu müssen. Was hin und wieder zu verständlichen Irritationen und Verärgerungen führte.

Mit der Zeit musste ich mir eingestehen, dass besagte Ansichten, welche ich vor Zeiten noch mit dem Begriff „Weltanschauung“ ummantelte, in aller Regel der Ursachen mehrere haben. Theoretische Erkenntnis und Wissen schon, soziale Herkunft, Mentalität, praktische Erfahrung und andere mehr aber nicht minder. Zumal das Wissen, allem voran das individuelle, naturgegeben – emsige Belesung dabei unterstellt – am Ende immer wieder nur knapp bemessen sein wird, je nach Umstand noch bemessener. Was im komplexen Prozess der individuellen Einflussfaktoren über die Jahre und Jahrzehnte entsteht, die individuellen Ansicht, ist von den tatsächlichen Gegebenheiten und Wahrheiten lichtjahreweit entfernt.

Lohnt es dann, darob zu streiten? Mag sein. Lohnt es dann, darob zu kämpfen, zu verkrüppeln, zu sterben? Wohl kaum.

Vornehmlich die gesellschaftlichen Ansichten, geboren aus ethisch-moralischen Befindlichkeiten, aus politischen „Notwendigkeiten“, aus eigenen und kollektiv-historischen Erfahrungen usw. nicht aber aus Naturgegebenheiten (und schon gar nicht aus belegten) befinden sich nach wie vor im Dunstkreis menschlicher Erkenntnis. Ich nenne ein paar prägnante:

Es gibt keinen Gott.

Die Naturreichtümer der Erde gehören allen Menschen.

Völker bedürfen einer starken Führung.

Kapitalismus ist Ausbeutung.

Die Besitzverhältnisse sind ungerecht verteilt.

Wir brauchen direkte Demokratie und Volksentscheide.

Fleischesser sind Unholde.

Präventivkriege sind gerechte Kriege.

Alles Ansichten. Ich belasse es dabei, könnte jedoch noch Seiten damit füllen. Was bleibt? Wenn Ansichten „nicht vollständig belegte Erkenntnisse“ sind, ist - wie hoch auch immer – stets die Wahrscheinlichkeit gegeben, dass der Widerpart im Streit um Ansichten der wahren Ansicht ist. Das jedoch kann sich erst im Fortgang der Geschichte herausstellen. Bis dahin soll der verbale Streit, die mit Wort geführte Mehrheitengewinnung, nicht aber der waffentechnische Kampf die Plattform für Auseinandersetzung um Ansichten sein.

Ist meine Ansicht eben.

Vom Unternehmer-Mythos

(Januar 2017)

Ein Mythos geistert seit Adam Smiths Zeiten nunmehr nahezu ein Vierteljahrtausend durch die Lehrbücher der Betriebs- und Volkswirtschaften: der Mythos vom Unternehmer. Es ist der Mythos vom risikobereiten, verantwortungsbewussten, reichtumschaffenden sowie vor allem erfindungs- und entdeckungsumtriebigen Individuum, welches stimuliert vom Gewinnstreben sein Unternehmen betreibt und erweitert und auf diese Weise Beschäftigung und Einkommen sichert, letzteres gar im nationalen und globalen Rahmen. Klassische Figuren wie Siemens, Bosch, Bell, Schuckert, aber auch modernerer Art wie Jobs, Zuckerberg und Gates stehen dafür gern als Protagonisten parat, der von ihnen im Rahmen ihrer ökonomischen Betriebsamkeit realisierte Profit – in welcher Größenordnung auch immer - wird im allgemeinen unter der Wucht vorgenannter Attributierungen bedenkenlos als rechtmäßig akzeptiert.

Bei genauerer Betrachtung dieser menschlichen Spezies indes fällt auf, dass darunter ganz sicher eine Reihe hochkreativer Erfinder und Entwickler zu finden sind, doch stellen sie bei weitem nicht die Mehrheit, im Gegenteil – ihr Anteil ist weit eher als gering zu benennen. Was wir dagegen mehrheitlich vorfinden – und das trifft auch oder gerade auf diejenigen zu, welche eigentlich selbst nicht direkt die Eigentümer von Unternehmen sondern sind, sondern die hochdotiert im Auftrag der Eigentümer die Geschäfte führen - sind Berufsfelder, die bekannterweise nicht unbedingt zu den kreativen gehören, als da wären Juristen, Kaufleute aller Coleur, Verleger, Inhaber von Galerien und dergleichen mehr. Unter “kreativ” verstehe ich hierbei eingeengt die Fähigkeit, vermittels wissenschaftlicher oder technischer Methoden qualitativ neue Produkte oder Verfahren zu schaffen. Die besondere Sorte Kreativität, welche den Unternehmern allerdings allesamt eigen ist, über welche sie bei Strafe ihres Untergangs unbedingt verfügen müssen, ist von einer anderen Art. Diese Kreativität ist nicht auf die Entwicklung von Produkten oder Verfahren gerichtet sondern darauf, zu erkennen, auf welche Weise man über die Zeit mit Produkten und Verfahren aus einem in diese Produkte oder Verfahren investierten Geldbetrag einen angemessen höheren herausziehen könnte. Ganz unbestritten eine Art von Kreativität, welche wahrlich nicht jedem Menschen gegeben ist. Doch rechtfertigt diese Art von Kreativität tatsächlich die teilweisen, in Relation zu den Einkünften der in ihren Unternehmen Beschäftigten enormen Gewinne? Zumal dann, wenn diese Unternehmer, wie vornehmlich unter den modernen Produktionsbedingungen gegeben, selbst rein fachlich gesehen nicht einmal der Branche entstammen? Die funktionell lediglich Leitungs- und Steuerungsfunktionen ausüben, ohne von der betrieblichen Materie an sich wirklich etwas zu verstehen? Verleger, welche selbst nicht in der Lage sind, Bücher oder Kolumnen zu verfassen, Galeristen, welche nicht einmal eine simple Kohlestift-Skizze zuwege bringen, geschweige denn ein erkennbares Gemälde? Banker, welche den tatsächlichen Inhalt der von ihnen verkauften Finanzprodukte selber nicht kennen oder gar verstehen? Top-Manager in Super-Unternehmen, die bitgesteuerte, juristisch festgezurrte In-und-Out-Put-Algorithmen erstellen, ohne zu wissen, wie das Unternehmen eigentlich praktisch bewegt wird? Also all derer, deren Kreativität am Ende allein auf die Motivation ihrer unmittelbaren, mit den Geschehnissen im Unternehmen schon besser vertrauten Unterstellten sowie der Erhaltung und des Ausbaus der für das Unternehmen notwendigen Netzwerke ausgerichtet ist?

 

Werfen wir eine Blick zurück in die Geschichte. Umtriebig-geschäftstüchtige Menschen sind bekannt seitdem es Handel und Wandel gibt, seitdem also im gegebenen Moment nicht selbst benötigte Güter zum Tausch bereit gestellt wurden. Ein besonderer Gewinn indes konnte aus diesen frühen Tauschgeschäften örtlicher Märkte nicht erzielt werden, solange jedenfalls nicht, solange die am Tausch beteiligten Personen selbst den Arbeitsaufwand der Tauschobjekte einigermaßen reell einzuschätzen vermochten. Ergo tauschten sich die Produkte nach dem Äquivalenzprinzip gleicher darin verausgabter Aufwendungen. Kein Mensch wird ohne wirklich zwingenden Grund einen Handwagen gegen einen Kamm im Verhältnis 1:1 tauschen. Gewinne aus den Tauschgeschäften wurden erst dann möglich, als der am Tauschobjekt interessierte Partner abgesehen von seinen Begierden den Arbeitsaufwand des Gutes nicht mehr selbst einschätzen konnte, die Basis dafür schuf der Fernhandel. Dass Waren über unendliche See- und Landwege herangekarrt auch ihren entsprechenden Preis haben müssen, galt wohl als gerechtfertigt. Dass der eigentliche in fernem Land gezahlte Warenpreis aber um ein Vielfaches den nun geforderten Kaufpreis abzüglich der Transportaufwendungen unterlag, blieb den Käufern verborgen. Die Differenz manifestierte sich im Profit des Fernhändlers. Allein, so ganz ohne Risiko und Kosten war der Fernhandel nicht zu realisieren, ausgesprochen hohe Vorleistungen waren erforderlich, um Transportgerät wie Schiffe oder Wagenkolonnen nebst ihren Besatzungen bereitzustellen, nicht zu reden von den zu transportierenden Gütern. Ein Fernhändler allein war dazu nicht in der Lage, auch nicht im genossenschaftlichen Verbund seinesgleichen. Die Finanzlücke füllte der frühe Banker. Der stellte zeitweilig freies, eine ihm zur sicheren Verwahrung und möglichen Mehrung übergebene Geldmenge, das Kapital, gegen eine entsprechende Teilhabe am geschätzten Ertrag der Handelsunternehmung zur Verfügung. Diese Teilhabe, der “Zins”, fand in den Lehrfibeln der bürgerlichen Betriebswirtschaft als “Preis für Geldverleihung” ihren Eingang, was zwar ihrer oberflächlichen Erscheinung Genüge tut, nicht aber ihren wahren Inhalt kennzeichnet. Woraus wir zweifelsfrei ersehen, dass die wahre Blüte des Unternehmertums, der Kapitalismus, im Bunde des Fernhandels mit dem Bankensystem ihre wahren Wuzerln hatte.

Gewinnerwirtschaftung ist nur möglich vermittels Tauschgeschäften, welche, abgesehen von Extremsituationen, den inneren Warenwert der zu tauschenden Produkte, die in ihnen steckenden Arbeitsaufwendungen also, nicht sofort offenbaren, unerheblich dabei, ob es sich um Güter der materiellen Art oder Dienst- also Arbeitsleistungen handelt. Seit sich neben dem frühen Handels- und Bankenkapitalismus der Kapitalismus herauskristallisierte, ist dieses Prinzip der Unkenntnis der wahren Tauschwerte das Kernelement der Privatwirtschaft, seine praktische Umsetzung findet es im System der Geschäfts- oder “Ladenkasse”. Einblicke in diese Kasse hat nur der Eigentümer, der Unternehmer, beziehungsweise sein Prokurist, ein von ihm vergatterter und wohldotierter Beauftragter. Die inneren Prozesse der Ladenkasse, ihre Aus- und Eingänge und daraus resultierenden Salden bleiben den Unternehmensbeschäftigten ein ehernes Geheimnis, sie sie ist die praktikable Grundlage der Aneignung fremder, unbezahlter Arbeitsleistung und damit des Unternehmergewinns. Ein Geheimnis, welches wir seit Marx “Ausbeutung” nennen.

Der Unternehmer von heute ist das, was er vor Jahrhunderten schon war – ein Mensch mit einem besonderen Instinkt für Tauschgeschäfte, aus denen er mittels verdeckter Kosten einen finanziellen Gewinn für sich ganz persönlich erzielen kann, ein Kaufmann eben. Und dies gänzlich unbedacht seiner auch möglichen technischen und wissenschaftlichen Begabungen, am Ende schaut aus allen Fugen und Ritzen seiner Persönlichkeit nichts als der auf Profit orientierte Kaufmann heraus. Nur dass er unter den nunmehrigen globalen Vernetzungen und den damit einhergehenden transparenten Aufwandskenngrößen der jeweiligen Waren und Dienstleistungen diesen seinen Profit nicht mehr dadurch erzielen kann, dass er Produkte von Weither mit einem für den Kunden nicht durchschaubaren Preisaufschlag versieht. Heutzutage bezieht er seinen Profit aus nichts anderem als aus dem unbezahlten Einbehalt von Wertschöpfungsanteilen, welche die in seinem Unternehmen Beschäftigten erwirtschaften. Alles Gerede von zu vergeltender Risikobereitschaft, Verantwortungsbereitschaft, Erfindergabe, Entdeckerdrang und dergleichen ist Schall und Rauch, denn eingestellt werden die Beschäftigten vom Unternehmer nur, wenn durch ihre Beschäftigung im Unternehmen ein signifikanter Mehrgewinn erwirtschaftet wird. Legen die Beschäftigten die Arbeit nieder, nutzen all die oben genannten edlen Charaktereigenschaften eines Unternehmers nichts, dann gehen im Unternehmen alle Lichter aus, dann gibt es weder Umsatz noch Gewinn.

Kein Wunder, dass die Apologeten des Kapitalismus in Marx ihren Todfeind sehen, legt er doch als einziger der klassischen bürgerlichen Ökonomen das Geheimnis der Ladenkasse offen und prophezeit daraus den Niedergang des privaten Unternehmertums als prinzipielles System. Was ich unbedacht des derzeitig vollständig desolaten Zustandes nahezu jedweder aktuellen linken Theorien und Praxis nicht nur aus der Logik der marxschen Ökonomie und meinen eigenen Erkenntnissen aus kapitalistischer Arbeitspraxis heraus so korrekt finde. Auch aus dem schlichten, aber geradezu axiometrischen Grunde, dass seit Menschengedenken in den Religionen, Sagen, Märchen und Legenden der Erdenvölker ein Element als ganz besonders übel, schlimm und zutiefst verachtenswert herausragt: die menschliche Gier. Genau die aber ist es, die unter der moderaten Umschreibung des „unternehmerischen Gewinnstrebens“ in den dominanten Lehren der bürgerlichen Betriebs- und Volkswirtschaft als der eherne und in die Unendlichkeit reichende Dreh- und Angelpunkt von Wirtschafts- und Wohlstandsentwicklung ausgemacht wird.

Welch ein gigantischer, geradezu fataler Irrglaube!

Autowahn

(August 2008)

Ein Vorfall, obgleich lächerlich in seiner Art, heute erst vor wenigen Stunde erlebt, veranlasst mich, erneut zur Feder zu greifen. Das Thema diesmal: des, wie man sagt, Deutschen liebstes Spielzeug. Auch wenn ich mutmaße, dass von diesem Bazillus längst andere Völker im weiten Erdkreis befallen sind. Es handelt sich um das Auto.

Meine Haltung zu diesem Gefährt ist zwiespältig. Ich vermute, auch dies ist, wie manch anderes Statusdenken meiner Geschlechtsgenossen, meinem gegenüber dem Zeigefinger zu kurz geradenen Ringfinger geschuldet. Denn wie ich unlängst in einem der den Zeitungsmarkt überschwemmenden bunten Blättchen las, deutet eine solche Relation auf schwächelnde Mannhaftigkeit hin. Die Erkenntnisse, wenn sie denn hinreichend genug wissenschaftlich ausbalanciert sind, erklären, dass zum Zeitpunkt der Ausbildung der Keimdrüsen im männlichen Fötus auch gleichzeitig dessen Proportionen an Händen und Füßen definiert würden. Ein langer Ringfinger zeugt demzufolge von maskuliner Robustheit, Überzeugung und Durchsetzungskraft. Von im Wortsinn potenziellen Vorteilen im Zusammensein mit dem schwächeren, aber auch attraktiveren Geschlecht ganz zu schweigen. Wie es aussieht mündet mein zu kurz geradener Ringfinger auch in den Umstand, dass ich mich im Gegensatz fast aller meiner Geschlechtsgenossen für männerspezifische Zeitvertreibe wie Fußball und Formel-I-Rennen nicht die Bohne interessiere und mir Boxkämpfe eine wahres Greuel sind. Aber genug der Abschweifungen. Ein Auto ist und bleibt für mich schlichtweg ein Gebrauchsgegenstand, der Leute, kleine und große, sowie Güter effizient zu transportieren hat. Hinreichend bequem sollte es sein, pflegeleicht und energiesparend. Verkehrssicher natürlich auch. Und vor allem preiswert in Anschaffung und Unterhalt. Mehr nicht.

Im Vorfeld unserer abenteuerlicher Erlebnisse mit vierrädrigen Kraftfahrzeugen standen die nicht weniger aufregenden mit einem zweirädrigen, um es genau zu sagen: mit einem Motorroller. Den hatte ich für wenig Geld, ich glaube es waren um die 200 Mark, und an die 20 Jahre schon alt, als Student im ersten Semester gekauft. Das war 1975 und unser Sohn schon drei Jahre alt. Für den wurden Kindersitz und Windschutz installiert. Mit dem Roller gondelten wir zu dritt in der näheren Umgebung herum bis Dagi, zu diesem Zeitpunkt im dritten Monat mit Tochter Anja schwanger, verkündete: Auf diese Abtreibungsmaschine setze ich mich nicht mehr! Das war 1976. Ich fuhr alsdann damit allein, hin und wieder auch mit Sohnematz Steffen vor mir. Zu basteln gab’s daran in Hülle und Fülle. Das war, ich wusste es zu dieser Zeit noch nicht, ein Vorgeschmack auf kommende Zeiten.. Auch bin ich mit dem Roller mehrfach ziemlich übel gestürzt, da der Schwerpunkt eines Roller ganz anders liegt als der eines richtigen Motorrades. Man sitzt darauf wie der Großvater auf dem Kackstuhl, pflegte mein Bruder zu sagen.

Unser erstes Auto, angeschafft gleich nachdem ich das Studium absolviert hatte und der bislang genutzte Motorroller nicht mehr der inzwischen zahlenmäßig gewachsenen Familienstärke Rechnung trug, war ein Saporoshez 965. Von denen mit dem längeren Ringfinger auch ‚Chruschtschows letzte Rache genannt ‘. Klein und bucklig kam es daher und vor allem laut. Ich kaufte es für 2.500 DDR-Mark von einem, dem man es anmerkte, dass er es schnell loswerden wollte. Ein Jünger Jesu oder dergleichen, wie es sich nachträglich herausstellte, der schon auf gepackten Koffern saß und der Ausreise ins Gelobte Land in den kommenden Tagen oder gar Stunden ungeduldig entgegensah. Das Armaturenbrett vollständig beklebt mit Gottesermahnungen und Sinnsprüchen aus der Bibel. Doch boten mir die frommen Sprüche allesamt keinen Schutz davor, dass der ‚Sapo‘, wie wir ihn bald liebevoll nannten, schon nach der zweiten Fahrt, einer ausgesprochen kurzen zur nächsten Tankstelle, diese Fahrt abrupt unterbrach und mit defekter Kupplung liegenblieb. Dank eines mitgelieferten, sehr umfangreichen Ersatzteilfonds, denn auch der Keller des gottesfürchtigen Landflüchtigen harrte der Beräumung, gelang es mir, zunächst mit fremder Hilfe, später zunehmend eigenständig, ‚Chruschtschows Rache‘ wieder flott zumachen. Dieser Reparatur folgten in schöner Regelmäßigkeit weitere: das rechte Hinterrad löste sich nach dem Bruch der Achse, zum Glück fast im Stand, dafür aber im bitter kalten Winter, was die Instandsetzung bei Schnee, Eis und stürmischem Wind auf offener Straße zur Tortur werden ließ. Das Pleuellager eines Kolbens schlug aus, da fast schon zu Staub zerrieben, dies während eines Urlaubs im Osterzgebirge. Ein Traktor schleppte uns heim. Mit meines Bruders und dem hinterlassenen reichhaltigen Ersatzeifonds des flüchtigen Gottesgläubigen Hilfe gelang es in endlosen Reparaturstunden, den Motor und damit des Fahrzeug wieder flott zu machen. Allerdings mit einem kleinen Schönheitsfehler: Zur fachgerechten Reparatur fehlte uns das fachgerechte Werkzeug, der neu zusammengebaute Motor konnte nicht ausgewuchtet werden. Infolge dessen führte seine nicht behandelte Unwucht bei schnelleren Umdrehungen, in Geschwindigkeit ausgedrückt bei etwa 50 Stundenkilometer, zu ganz erheblichen, aus unrundem Lauf resultierenden Rüttelungen. Ich verschaffte dem Problem Abhilfe, indem ich ein Bleigewicht an der Randung der Kupplung befestigte, so dass die Unwucht merklich vermindert werden konnte und auch Geschwindigkeiten über 50 möglich waren. Hin und wieder riss dieses Ausgleichsgewicht durch die zunehmenden Fliehkräfte während der Fahrt ab. Da standen wir vier Insassen mit einem Ruck im Auto und mussten die Reststrecke nach Hause mit 30 und darunter liegen Stundenkilometern zurücklegen. Zuweilen auch wieder am Haken des Traktors.

 

Die Motorhaube riss einmal während der Fahrt aus ihrer Verankerung und stand plötzlich kerzengerade vor der Windschutzscheibe. Von den ewigen, geradezu zur Routine gewordenen Zündpunkteinstellungen und Entlüftungen der Bremsanlage will ich gar nicht reden. Ein anderthalb Jahr beschäftigte mich dieses Gefährt nahezu jedes Wochenende und meine Hände glichen wieder denen, als ich zwischenzeitlich als Reparaturschlosser Diesellokgetriebe instandsetzte: rissig, Schmutz und Öl in jede Hautfuge eingerieben, dass auch die sonst erfolgreichen Waschpaste nicht half. Dazu Brandmale von den heißen Motor- und Abgasanlageteilen. Ich verkaufte den Sapo 965 mit 1000 Mark Verlust, aber durchaus erlöst. Trotzdem hatte er uns vier mehr oder weniger treu gedient und dazu beigetragen, unseren Wochenendgarten außerhalb der Stadt wenigstens hin und wieder aufzusuchen. Zumeist aber saß uns schon vor Antritt der Fahrt die Angst im Genick, wir könnten nicht ohne Störfall zurück nach Hause kommen oder die Schwungkraft des Bergab könnte für den Anstieg des Begauf nicht reichen. Des öfteren waren wir in dieser Zeit auch wieder mit dem Bus unterwegs, da der Sapo mangels benötigtem Ersatzteil auseinander montiert auf seinem Parkplatz vor unserem Haus stand. Hin und wieder mussten wir den Bus auch nutzen, wenn der Sapo unterwegs schlappmachte. Er folgte uns dann in bewährter Weise am Haken des Traktors nach. Vor allem aber hatte der Sapo mit seinen vielfältigen Tücken meine fast verschütteten Facharbeiter-Kenntnisse hinsichtlich der Reparatur von Maschinen und Anlagen wieder vollständig auf Vordermann gebracht. Den Sapo kaufte eine junger Leutnant der NVA. Der war Kfz-Offizier und hatte gleich jede Menge Ideen, wie er die ihm unterstellten Soldaten am Wochenende dazu motivieren könnte, den Sapo in einen nachhaltigen technisch-verkehrssicheren Zustand zu versetzen. Nach dem Kauf habe ich nie mehr wieder etwas gehört, weder von unserem Sapo noch von dem Leutnant. Es bleibt zu hoffen, dass zumindest der Leutnant das Abenteuer heil überstanden hat.

Das auswärtige Wochenendgrundstück war für uns das, was man heutzutage Sachzwang nennt. Folglich musste ein neues, natürlich nicht im Wortsinn, also eher anderes, möglicherweise aber besseres, Auto her. Für 4000 Mark erstand ich ein solches. Diesmal vom staatlichen Gebrauchtwagenhandel. Wieder ein Sapo, aber ein Nachfolger des bisherigen, ein 966er. Farbe blau, dunkelblau, um es genau zu sagen, denn auch der vorherige war anfänglich blau. Hellblau allerdings, bevor ich ihn mittels Farbrolle bei heftigem Wind auf der Straße in ein schlichtes Safarigrün umtaufte. Der böige Wind hatte zur Folge, dass sich feine Staubkörnchen auf der noch frischen Lackfläche meiner Farbgebung absetzten und später die Karosserie bei Berührung an feines Schmirgelpapier erinnern ließ.

Der dunkelblaue 966er nun war moderner, er sah nicht nur wie ein Auto aus, sondern hatte auch bequeme Sitze und einen etwas größeren Kofferraum. Das Problem dabei: so leicht in eigener Hand zu reparieren wie der alte Sapo war er nicht, er bedurfte der Werkstatt, da Motor und Getriebe nur mit Hebezeugen entnommen und der Instandsetzung zugeführt werden konnten. Das bedeutete zusätzlichen Geldabfluss, der an anderer Stelle dringend notwendiger gewesen wäre, aber wir wissen schon: der Sachzwang! Von eigenständigen Reparaturen war ich nunmehr weitgehend befreit, sieht man von kleinen Dingen wie der mittlerweile beliebten Bremsentlüftung und dem Abkleben der von fortschreitender Durchrostung befallenen vorderen Kotflügel mit Hobby-Plast ab. Einmal riss im harschen Winter die Bremsleitung, da mussten wir zu Fuß weiter. Das aber war trainiert und angesichts der Erfahrungen mit ‚Chruschtschows letzter Rache‘ nicht weiter von Belang, Meine Hände erholten sich und nahmen allmählich das Aussehen an, wie es sich für einen ordentlichen Bankangestellten, als der ich inzwischen mein Brot verdiente, gehört. Die Arbeit bei der Bank fand ich im übrigen stinklangweilig und in keiner Weise befriedigend: endlose Zahlenfriedhöfe, mit deren Hilfe ich Effizienz oder Nichteffizienz mir zugeordneter Wirtschaftseinheiten zu ermitteln hatte und quantifizierte Verpflichtungsvorgaben im sozialistischen Wettbewerb zu Prozessen in diesen Wirtschaftseinheiten, die ich nicht im geringsten zu beeinflussen vermochte, waren in keiner Weise dazu angetan, mir nach getaner Arbeit deren Sinnfälligkeit zu vermitteln. Auch sah ich keine messbaren Ergebnisse. Ganz anders dagegen während unseres Waldeinsatzes nach dem galaktischen Schneebruch des Winters 79/80. Da sah man an jedem Abend, wieviele Festmeter Bruchholz aufgearbeitet wurden. Exakt abrechenbar und bewertend, ohne jeglichen Schmu oder Koeffezienten-hoch-oder-runter-Rechnung. Ich hatte wohl doch das falsche Studium gewählt, aber zurück zum Thema.

Der blaue Sapo 966 hätte uns wohlmöglich bis über die Wende ins bundesrepublikanische Autoparadies getragen, doch drei Jahre vorher brach der hintere Achsaufhänger infolge völliger Durchrostung, und da half auch kein Hobby-Plast mehr. Da die Werkstätten schon bei Anfrage abwehrend die Hände hoben, auch kein neuwertiges Ersatzteil mehr zu beschaffen war (nicht einmal über meine guten Beziehungen zu einer, die weiterhin einen soliden Draht zum dafür verantwortlichen Großhandel pflegte), legte ich nach altem Brauch wieder selbst Hand an: das benötigte Teil montierte ich bei strömendem Regen auf einem Schrottplatz für Altwagen ab, bezahlte dafür nass bis auf die Haut und lehmbeschmiert von oben bis unten obendrein 40 Mark und baute es dann mit ein paar Tricks und Kniffen anstelle des defekten ein. Wie gehabt auf der Straße, versteht sich. Dann verkaufte ich das gute Stück schleunigst für immerhin noch 2000 Mark. Der Nachfolgebesitzer fuhr damit zu seiner Datsche ins Erzgebirge, wo der gerade erst ersetzte Achsträger erneut brach. Über das weitere Schicksal des Fahrzeugs liegen mir keine zuverlässigen Informationen vor.

Der Sachzwang erzwang den erneuten Ersatz.. Wir befanden uns mittlerweile im Jahre 3 vor der Wende. Ein Sapo selbstredend wieder (meine Wartburg-Anmeldung hatte ich schon zu Studienzeiten gegen einen Taschenrechner eingetauscht, die dafür ins Spiel gebrachte Trabi-Anmeldung würde nach damaliger Hochrechnung erst im Jahr 1992 zu einem neuwertigen Fahrzeug führen). Den Sapo diesmal für nunmehr schon 6000 Mark. Farbe hellgrau, aber recht gut erhalten und die Mütter aller Sapo-Rostteile, die vorderen Kotflügel, gerade neu eingesetzt, sie mussten nur noch lackiert werden. Das besorgte ich nach gutem altem Brauch mit der Farbrolle. Mit diesem Auto hatten wir keine Sorgen, es fuhr uns laut, aber zuverlässig, wohin wir wollten, sogar noch im Jahr nach der Wende ins bis dahin unerreichbare Nürnberg, wo es in der Siedlung unserer dort lebenden Verwandten teils unverhohlen, teils klammheimlich über die Gartenzäune beglubscht wurde. Einen Ärger mit dem Grauen gab es dazwischen dennoch: Im Sommer 89 auf einer Fahrt nach Rostock brach ein Kolbendichtungsring, der luftgekühlte Motor erhitzte sich ungemein, wir mussten an jeder der karg gesäten Raststätten zwecks Abkühlung halt machen, und selbst die 500er Trabis zuckelte mit höhnischem Grinsen an uns vorbei. Die Sapo-Werkstatt in Rostock winkte ab, überhaupt keine Zeit, die in Wittstock nahm sich seiner an und schnaubte sich aus: 2500 Mark Reparaturkosten, für eine Instandsetzung, die allerhöchsten 500 Mark wert war. Dafür ein fast völlig neuer Motor. Der Werkstattbesitzer muss intuitiv den kommenden gesellschaftlichen Veränderungen vorgegriffen haben, denn er befreite sein Ersatzteillager vom geschmähten Sowjetschrott und schaffte Platz für die gewissermaßen schon vor der Tür lauernden Opel, VW, Citroen, Ford, Fiat und wie sie alle heißen mögen. Ich hingegen, ahnungslos und blind gegenüber den bald folgenden Staats-Umwälzungen, schluckte die deftige Kröte der aufwendigen und kostenintensiven Reparatur im Glauben, dadurch, wenn der fabrikneue Trabi nach 16-jähriger Wartezeit endlich fällig wäre, für den Sapo noch wenigsten 4000, wenn nicht gar 5- oder noch besser 6000 Mark zu erstreiten. Ein halbes Jahr später schon erwies sich die Investition als eine Fehlinvestition und der mit einem quais neuen Motor bestückte Sapo als absolut unverkäuflich..