Systemisches Management in Organisationen der Sozialen Arbeit

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1.3.1Organisation als Differenz: Zur Bedeutsamkeit der System-Umwelt-Unterscheidung

Eine systemtheoretische Betrachtung von Organisationen führt zwangsläufig dazu, das Beobachtungsspektrum zu erweitern, da Systeme stets in Abhängigkeit von bzw. im Austausch mit ihrer Umwelt betrachtet werden müssen. Nichts anderes ist gemeint, wenn Torsten Groth ein System als »Einheit der Differenz von System und Umwelt« (Groth 2017, S. 44) beschreibt. Organisation und Umwelt stellen folglich zwei Seiten einer Medaille dar. Eine Organisation entsteht und besteht daher nur dann, wenn sie kontinuierlich dafür Sorge trägt, dass sie die Differenz zwischen sich und der stets komplexeren Umwelt aufrechterhält, wenn also ein Innen von einem Außen (der Umwelt) abzugrenzen ist (Abb. 1).

Abb. 1: System als Differenz von Innen und Außen

Wie wichtig Abgrenzung im Alltag von Organisationen der Sozialen Arbeit ist, zeigt sich bei solchen Organisationen, die – wie ein Fähnchen im Wind – jedem aktuellen Trend hinterherlaufen und ständig ihr Profil, Aufgabenspektrum und damit auch die eigene Organisationsgrenze verändern. In diesen Fällen leiden nicht nur die Organisationsmitglieder, da ihnen die dringend benötigte Orientierung (zwischen Innen und Außen) fehlt. Auch die Umwelt zeigt sich bisweilen irritiert, da der Organisation kein eindeutiges Profil mehr zugesprochen werden kann (im Sinne von: die Organisation steht hierfür oder dafür).

In Bezug auf die Grenzen zwischen Organisation und Umwelt sind zwei weitere Aspekte von zentraler Bedeutsamkeit:

Die Grenze zur Umwelt wird von Organisationen selbst erzeugt.

Die Grenzziehung zwischen System und Umwelt bedeutet nicht, dass sich Organisationen vollständig gegenüber ihrer Umwelt abdichten können.

Selbsterzeugung der Organisationsgrenze

Wer sich mit den Annahmen der neueren Systemtheorie beschäftigt, kommt weder an dem Namen Niklas Luhmann noch an dem Begriff der Autopoiese vorbei. Wenngleich dieses Kunstwort3 von den chilenischen Biologen und Neurophysiologen Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela geprägt wurde (vgl. Maturana u. Varela 2009), war es insbesondere Luhmann, der sich dafür ausgesprochen hat, das Autopoiesekonzept auch auf soziale Systeme (und damit auch auf Organisationen) zu übertragen. Verkürzt formuliert, besagt die Theorie autopoietischer Systeme, »dass komplexe Systeme sich in ihrer Einheit, ihren Strukturen und Elementen kontinuierlich und in einem operativ geschlossenen Prozess mithilfe der Elemente produzieren, aus denen sie bestehen« (Willke 2006, S. 10).

Wenn Organisationen als autopoietische Systeme eingeordnet werden müssen, stellt sich die Frage, was als zu reproduzierendes Element eines sozialen Systems betrachtet werden muss. Anders gefragt: Wodurch grenzen sich Organisationen konkret dauerhaft von ihrer Umwelt ab? Während innerhalb der traditionellen Betriebswirtschaftslehre davon ausgegangen wird, dass der Mensch die kleinste Einheit einer Organisation bildet und folglich Menschen die Elemente von Organisationen sind, unternimmt Luhmann die, wie Willke (1994, S. 99) es formuliert, »wohl folgenreichste theorie-architektonische Weichenstellung in der soziologischen Systemtheorie«, indem er nicht den Menschen, sondern Kommunikation – präziser formuliert, kommunizierte Entscheidungen – als Element sozialer Systeme bezeichnet. Organisationen bestehen gemäß Luhmann (2006, S. 63) also (und grenzen sich hierdurch auch gegenüber der Umwelt ab), indem

»es zur Kommunikation von Entscheidungen kommt … Alles andere – Ziele, Hierarchien, Rationalitätschancen, weisungsgebundene Mitglieder oder was sonst als Kriterium von Organisationen angesehen worden ist – ist demgegenüber sekundär und kann als Resultat der Entscheidungsoperationen des Systems angesehen werden.«

Was sich hier möglicherweise noch abstrakt anhört, zeigt sich im organisationalen Alltag an zahlreichen Stellen. So müssen in der Gründungsphase einer Organisation Entscheidungen hinsichtlich eines bestimmten Zwecks (z. B. ambulante erzieherische Hilfen anzubieten und keine stationäre Einrichtung zu gründen), Entscheidungen in Bezug auf die Wahl der Gesellschaftsform (z. B. die Entscheidung für eine gemeinnützige GmbH und gegen einen eingetragenen Verein) oder aber Entscheidungen hinsichtlich des Personals gefällt werden (beispielsweise die Entscheidung für die Einstellung eines Sozialarbeiters und gegen einen Psychologen). Dadurch, dass Entscheidungen lediglich den Charakter von Ereignissen haben, »die, indem sie vorkommen, schon wieder verschwinden« (ebd., S. 152), ebbt der kontinuierliche Entscheidungsdruck für Organisationen auch nach deren Gründungsphase nicht ab.

Wenn Organisationen dadurch als Einheit Bestand erfahren, dass (kommunizierte) Entscheidungen an (kommunizierte) Entscheidungen anschließen und für das Treffen von Entscheidungen stets Rückbezug auf vorherige Entscheidungen genommen wird, dann muss konstatiert werden, dass Organisationen »auf der Ebene dieser selbstreferenziellen Organisation geschlossene Systeme [sind], denn sie lassen in ihrer Selbstbestimmung keine anderen Formen der Prozessierens zu« (Luhmann 1984, S. 60).

Abgrenzung von Organisationssystemen: Schließung und Öffnung zugleich

Wenngleich Organisationen im Kern ihrer Selbsterstellung als geschlossene Systeme betrachtet werden müssen, kann sich keine Organisation vollständig gegenüber ihrer Umwelt abdichten. Wie andere lebende Systeme auch, sind Organisationen auf Ressourcen (Geld, Personal etc.) und Informationen aus ihrer Umwelt angewiesen, um entscheidungsfähig und damit überlebensfähig zu bleiben.

Organisationen – bzw. generell autopoietische Systeme – weisen also gewisse paradox anmutende Tendenzen auf: Sie sind in den Tiefen ihrer Reproduktion hochgradig autonom – niemand kann von außen determinieren, wie und welche Entscheidungen an Entscheidungen innerhalb einer Organisation anschließen, dies lässt Organisationen bisweilen eigensinnig und strukturell konservativ erscheinen. Zugleich sind Organisationen – um ihr Überleben zu sichern – maßgeblich von ihrer Umwelt abhängig. Keine Einrichtung der Sozialen Arbeit kann ihre Umwelt vollends ausblenden. Wenn sich rechtliche Rahmenbedingungen ändern, Fördermittel wegbrechen oder auf der anderen Straßenseite ein Mitbewerber eine Einrichtung eröffnet, sind dies wesentliche Aspekte, die innerhalb der jeweiligen Organisation beim Treffen von Entscheidungen Berücksichtigung finden sollten. Organisationen sind daher zum Dauerbeobachten ihrer Umwelt »gezwungen«. Nur wenn solche Beobachtungen zu Informationen verdichtet werden und diese beim Treffen von Entscheidungen Berücksichtigung finden, kann die Organisation auch zukünftig weiterentscheiden und hierdurch ihre System-Umwelt-Grenze aufrechterhalten. Eben jene paradoxe Tendenz von autopoietischen Systemen, sich einerseits gegenüber der Umwelt zu verschließen, sich aber zugleich punktuell auch öffnen zu müssen, lässt sich als »operationale (oder operative) Schließung« bezeichnen (vgl. Willke 2001, S. 32).

Blickt man in die Praxis der Sozialen Arbeit, so ist es nicht schwierig, den selbstbezüglichen Charakter von Organisationen infolge ihrer operationalen Schließung zu beobachten. So neigen Organisationen der Sozialen Arbeit beispielsweise dazu, Veränderungen innerhalb der Rechtssystems so lange zu ignorieren und Entscheidungen weiterhin auf der Basis vergangener Entscheidungen (und damit einer überholten Rechtslage) zu treffen, bis der Druck zur Wahrnehmung und Anwendung des Rechts keine anderen Möglichkeiten mehr zulässt (eindrücklich zu beobachten bei der Einführung des Bundeskinderschutzgesetzes Anfang 2012). Das hohe Maß an Autonomie und Selbstbezüglichkeit, das Organisationen im Laufe der Zeit ausbilden, lässt sich auch an deren Umgang mit von außen auferlegten Reformabsichten erkennen. Zwar mussten sich in den 1990er-Jahren zahlreiche Einrichtungen der Sozialen Arbeit infolge der »Neuen Steuerung« mit »neuen Etiketten« versehen (aus dem Klienten wurde ein Kunde, aus dem Jugendamt ein Amt für Kinder, Jugendliche und Familien, es wurden Systeme des Qualitäts- und Beschwerdemanagements eingeführt etc.), die grundsätzliche Art und Weise, wie die Einrichtungen ihre Aufgaben erfüllten, wie also Entscheidungen an Entscheidungen anknüpfen, blieb hiervon aber lange Zeit unangetastet.

Würde das Treffen von Entscheidungen innerhalb einer Organisation jedes Mal das Zusammenkommen von Leitungskräften oder Fachteams erfordern, wäre eine Organisation innerhalb kürzester Zeit maßlos überfordert. Die Vielzahl von Entscheidungen, die tagtäglich auf völlig unterschiedlichen Ebenen innerhalb einer Organisation getroffen werden müssen, verlangen Formen der Vereinfachungen, die den Entscheidungsspielraum von Beginn an verkleinern und damit den Abstimmungsaufwand in Organisationen reduzieren. Strukturen übernehmen jene Funktion, indem sie als Prämissen für Entscheidungen wirken.

1.3.2Entscheidungsprämissen als Strukturen einer Organisation

Ähnlich wie Don Quichotte unbeirrt gegen die Windmühlen kämpft, sind Organisationen auf Gedeih und Verderb dem Kampf gegen eine stets komplexere Umwelt ausgesetzt. Um trotz der hohen Umweltkomplexität die eigene Autopoiese zu gewährleisten, benötigen Organisationen Vereinfachungsmöglichkeiten, also Vorkehrungen, die das Treffen zukünftiger Entscheidungen erleichtern. Eben jene Funktion übernehmen Strukturen in Organisationen, denn nach Luhmann (1984, S. 74) fassen sie

 

»die offene Komplexität der Möglichkeit, jedes Element mit jedem anderen zu verbinden, in ein engeres Muster ›geltender‹, üblicher, erwartbarer, wiederholbarer oder wie auch immer bevorzugter Relationen. Sie können durch diese Selektion weitere Selektionen anleiten, indem sie die Möglichkeiten auf jeweils überschaubare Konstellationen reduzieren.«

Dies klingt abstrakt, wird aber plausibel (bzw. plausibler), wenn man formale Strukturen in Organisationen der Sozialen Arbeit betrachtet. Als formale Strukturen werden hier beispielsweise Stellenbeschreibungen, Kompetenzregelungen, Verfahrens- und Verhaltensrichtlinien, Entlohnungspraktiken und vorgesehene Unter- bzw. Überordnungsverhältnisse bezeichnet. All jene Elemente der Formalstruktur einer Organisation dienen dazu, die Bedingungen für die Mitgliedschaft in einer Organisation festzulegen. In dem Moment, in dem ein Sozialarbeiter einen Arbeitsvertrag unterzeichnet, unterwirft er sich – in der Regel 5 Tage die Woche, 8 Stunden am Tag – den Erwartungen der Organisation, die innerhalb der Formalstruktur einer Organisation geregelt und in Kurzfassung für die jeweilige Stelle spezifiziert in seinem Arbeitsvertrag festgelegt sind.

Dies hat – sowohl für die Organisation als auch den neuen Mitarbeiter – den großen Vorteil, dass nicht jeden Tag neu darüber entschieden werden muss, wo und von wann bis wann er zu arbeiten hat, was er überhaupt innerhalb seiner Arbeit leisten soll, wen er wann wie informieren muss und welche Kommunikationspartner er zu akzeptieren hat, auch wenn er möglicherweise mit diesen privat keine Minute seines Lebens verbringen würde. Und dennoch determinieren Organisationsstrukturen nicht die einzelnen Entscheidungen, die innerhalb einer Organisation getroffen werden. Dies ist der Grund, warum trotz vorhandener Dienstwege eben jene abgekürzt werden, warum Verfahrensrichtlinien, wie sie beispielsweise in einem Qualitätsmanagementhandbuch dezidiert ausformuliert sind, kreativ erweitert oder umgedeutet werden und warum möglicherweise auch ein neuer Mitarbeiter eingestellt wird, der eigentlich nur bedingt den Formalanforderungen der zu besetzenden Stelle entspricht. Organisationsstrukturen, so die Kurzfassung, machen also lediglich bestimmte Entscheidungen wahrscheinlicher, sie bestimmen diese aber nicht (vgl. Kühl 2011, S. 101).

Innerhalb der neueren Systemtheorie werden Organisationsstrukturen daher auch als »Entscheidungsprämissen« bezeichnet. Solche Entscheidungsprämissen legen zukünftige Entscheidungen nicht fest, aber

»sie fokussieren die Kommunikation auf die in den Prämissen festgelegten Unterscheidungen, und das macht es wahrscheinlich, dass man künftige Entscheidungen mit Bezug auf die vorgegebenen Prämissen unter dem Gesichtspunkt der Beachtung oder Nichtbeachtung und der Konformität oder Abweichung beobachten wird, statt die volle Komplexität der Situationen jeweils neu aufzurollen« (Luhmann 2006, S. 224).

Man könnte Entscheidungsprämissen auch als »Metaentscheidungen« (Boos u. Mitterer 2014, S. 52) bezeichnen, da sie über anderen Entscheidungen liegen und diese beeinflussen. Sie legen somit »nur« den Spielraum fest, innerhalb dessen frei entschieden werden kann.

In Bezug auf das Konzept der Entscheidungsprämissen lassen sich verschiedene Arten von Entscheidungsprämissen unterscheiden. Als die drei wichtigsten können betrachtet werden (vgl. Luhmann 2006, S. 225 ff.):

Programme

Kommunikationswege

Personal

Programme

Was hier als Programme bezeichnet wird, kann alltagssprachlich als Menge von Regeln innerhalb einer Organisation verstanden werden. Programme legen also fest, was man in einer Organisation zu tun und besser zu lassen hat. Betrachtet man die Programme, die in Organisationen wirksam werden, so lassen sich diese in zwei verschiedene Programmtypen unterscheiden: eher inputorientierte Konditionalprogramme auf der einen Seite und eher outputorientierte Zweckprogramme auf der anderen Seite (vgl. ebd., S. 261).

Konditionalprogramme legen grundsätzlich fest, was innerhalb einer Organisation unternommen werden muss, wenn ein bestimmter Impuls wahrgenommen wird. Wenn ein Hilfe suchender Bürger beim ansässigen Jobcenter einen Antrag auf Arbeitslosengeld II stellt (»Impuls«), greift ein engmaschiges Regelwerk, das vom zuständigen Mitarbeiter abgearbeitet werden muss, um zu entscheiden, ob – und, wenn ja, in welcher Höhe – ein Anspruch auf Arbeitslosengeld II besteht. Konditionalprogramme folgen hierbei einer Wenn-dann-Logik, bei der die jeweilige Vorgehensweise in der Regel weitestgehend festgelegt ist: »Das Programm bestimmt, was zu tun ist – und was nicht ausdrücklich erlaubt ist, ist bei Konditionalprogrammen verboten.« (Kühl 2011, S. 105.)

Im Gegensatz dazu legen Zweckprogramme ausschließlich fest, welche Ziele bzw. Zwecke erreicht werden sollen. Ein freier Träger der Kinder- und Jugendhilfe, der in seinem Konzept für die offene Kinder- und Jugendarbeit schreibt, »Wir schaffen und fördern Möglichkeiten zur Entfaltung der eigenen Persönlichkeit«, wird kaum über klare Wenn-dann-Regeln verfügen, wie dieser Zweck erreicht werden soll. Vielmehr sind hier die Organisationsmitglieder gefordert, die jeweiligen Handlungsabläufe nach Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten auszuhandeln und festzulegen. Im Gegensatz zu Konditionalprogrammen verfügen Zweckprogramme daher über ein deutlich höheres Maß an »Elastizität« (Luhmann 2006, S. 266), was dem stark individualisierten Aufgabencharakter von sozialen Dienstleistungen gerecht wird.

In Bezug auf die pädagogische Arbeit von Sozialarbeitern dominieren folglich Zweckprogramme. Demgegenüber stehen Konditionalprogramme insbesondere dann im Vordergrund, wenn es um die Umsetzung von administrativen Aufgaben geht.

Kommunikationswege

Neben Programmen können über Entscheidungsprämissen auch »Kommunikationswege innerhalb einer Organisation vorgeschrieben werden, die eingehalten werden müssen, wenn die Entscheidung als eine solche der Organisation Anerkennung finden soll« (Luhmann 2006, S. 225). Solche Kommunikationswege werden im organisationalen Alltag in der Regel als Dienstwege bezeichnet, die ihrerseits über die Hierarchie festgelegt werden. Dienstwege haben für Organisationen eine massiv entlastende Funktion, da über sie ausgeschlossen wird, dass jeder bei allem mitredet. Sie geben an, »wie die mit Entscheidungen verbundenen Informationen in der Organisation zirkulieren müssen beziehungsweise dürfen« (Martens u. Ortmann 2006, S. 442). Die Entscheidung des ASD, innerhalb einer Familie eine Sozialpädagogische Familienhilfe (SPFH) zu installieren, muss daher nicht zuvor noch mit den Kollegen aus dem Jobcenter, dem Ausländeramt oder dem Pflegekinderdienst besprochen werden, sondern lediglich innerhalb der kollegialen Fallberatung mit den Kollegen thematisiert werden. Zugleich reicht es nicht aus, dass die Kollegen im Team diese Entscheidung richtig finden. Damit diese Entscheidung organisationale Relevanz hat und somit eine Handlung auslöst, muss der Vorgesetzte (z. B. die Teamleitung) der Entscheidung zustimmen.

Personal

Innerhalb der klassischen Betriebswirtschaftslehre wird das Personal einer Organisation in der Regel lediglich als Mittel zum Zweck, nicht aber als Struktur einer Organisation betrachtet (Kapitel 1.2). Hierbei wird übersehen, dass in Organisationen nicht nur über Personal entschieden wird, sondern dass Personalentscheidungen auch wichtige Prämissen für weitere Entscheidungen innerhalb der Organisation darstellen (vgl. Kühl 2011, S. 107). So macht es beispielsweise einen bedeutsamen Unterschied (für zukünftige Entscheidungen), ob die neu zu besetzende Stelle des Jugendamtsleiters durch einen Juristen oder einen Sozialarbeiter besetzt wird. Ebenso macht es einen Unterschied, ob die Stelle des Assistenten der Geschäftsführung einem »Greenhorn« Anfang zwanzig übertragen wird oder einer berufs- und lebenserfahrenen Mittfünfzigerin. Neben der Einstellung von Personal kann innerhalb einer Organisation auch über den Austritt von Personal indirekt Einfluss auf zukünftige Entscheidungen genommen werden. Besonders deutlich zeigt sich dies bei der Entlassung von Personen. Wenn der Vorstand einer Erziehungsberatungsstelle deren Leiter vor die Tür setzt, weiß jeder innerhalb der Organisation, welche Art von (Leitungs-)Entscheidungen unerwünscht ist und demnach zukünftig wahrscheinlich nicht mehr so getroffen werden sollte. Auch Formen der internen Versetzung – sei es in Form einer Beförderung oder Ruhigstellung – können als Entscheidungen mit weitreichenden Auswirkungen für nachfolgende Entscheidungen betrachtet werden (vgl. Luhmann 2006, S. 287).

Programme, Kommunikationswege und Personal lassen sich als Sinnbild für die Formalstruktur einer Organisation interpretieren. Über diese Entscheidungsprämissen können Leitungskräfte in Einrichtungen der Sozialen Arbeit entscheiden und hierdurch – im Sinne von Steuerung – Einfluss auf zukünftige Entscheidungen nehmen. Programme, Kommunikationswege und Personal werden daher auch als entscheidbare Entscheidungsprämissen bezeichnet.

Ähnlich wie innerhalb der klassischen Betriebswirtschaftslehre zwischen formaler und informaler Organisation unterschieden wird, kann auch aus einer systemtheoretischen Perspektive zwischen entscheidbaren und unentscheidbaren Entscheidungsprämissen differenziert werden (vgl. ebd., S. 240). Unentscheidbare Entscheidungsprämissen zeichnen sich dadurch aus, dass Sie – ähnlich wie Programme, Kommunikationswege und Personal – im Sinne einer Prämisse wirksam werden, also zukünftige Entscheidungen beeinflussen. Im Gegensatz zu entscheidbaren Entscheidungsprämissen entziehen sich unentscheidbare Entscheidungsprämissen einer direkten Beeinflussung (beispielsweise durch Leitungskräfte). Als bedeutsamste unentscheidbare Entscheidungsprämisse gilt die Kultur einer Organisation. In ihr bündeln sich die Normen und Werte einer Organisation, die – abseits der Formalstruktur – maßgeblich Einfluss darauf nehmen, wie innerhalb einer Organisation entschieden wird (Kapitel 5).

Zusammenfassend können sowohl die entscheidbaren als auch die unentscheidbaren Entscheidungsprämissen als Leitplanken für den Fluss der Entscheidungen innerhalb einer Organisation interpretiert werden (Abb. 2). Wenngleich diese Leitplanken die einzelne Entscheidung nicht zu determinieren vermögen, kann über die Gestaltung von (entscheidbaren) Entscheidungsprämissen dennoch Einfluss auf zukünftige Entscheidungen genommen werden.

Abb. 2: Entscheidungsprämissen als Leitplanken für Entscheidungen (verändert nach Boos u. Mitterer 2014, S. 53)