Heidis Lehr- und Wanderjahre

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Heidis Lehr- und Wanderjahre
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Johanna Spyri

Heidis Lehr- und Wanderjahre

Jeder kennt sie: den Alm-Öhi, den Geissen-Peter, Fräulein Rottenmeier, die Ziegen, die Berge ... und natürlich Heidi

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Impressum neobooks

Kapitel 1

Zum Alm-Öhi hinauf

Vom freundlichen Dorfe Maienfeld führt ein Fußweg durch

grüne, baumreiche Fluren bis zum Fuße der Höhen, die von

dieser Seite groß und ernst auf das Tal herniederschauen. Wo

der Fußweg anfängt, beginnt bald Heideland mit dem kurzen

Gras und den kräftigen Bergkräutern dem Kommenden

entgegenzuduften, denn der Fußweg geht steil und direkt zu den

Alpen hinauf.

Auf diesem schmalen Bergpfade stieg am hellen, sonnigen

Junimorgen ein großes, kräftig aussehendes Mädchen dieses

Berglandes hinan, ein Kind an der Hand führend, dessen

Wangen so glühend waren, daß sie selbst die sonnverbrannte,

völlig braune Haut des Kindes flammendrot durchleuchteten. Es

war auch kein Wunder: das Kind war trotz der heißen Junisonne

so verpackt, als hätte es sich eines bitteren Frostes zu erwehren.

Das kleine Mädchen mochte kaum fünf Jahre zählen; was aber

seine natürliche Gestalt war, konnte man nicht ersehen, denn es

hatte sichtlich zwei, wenn nicht drei Kleider übereinander

angezogen und drüberhin ein großes, rotes Baumwollentuch um

angezogen und drüberhin ein großes, rotes Baumwollentuch um

und um gebunden, so daß die kleine Person eine völlig formlose

Figur darstellte, die, in zwei schwere, mit Nägeln beschlagene

Bergschuhe gesteckt, sich heiß und mühsam den Berg

hinaufarbeitete. Eine Stunde vom Tal aufwärts mochten die

beiden gestiegen sein, als sie zu dem Weiler kamen, der auf

halber Höhe der Alm liegt und »im Dörfli« heißt. Hier wurden die

Wandernden fast von jedem Hause aus angerufen, einmal vom

Fenster, einmal von einer Haustür und einmal vom Wege her,

denn das Mädchen war in seinem Heimatsort angelangt. Es

machte aber nirgends Halt, sondern erwiderte alle zugerufenen

Grüße und Fragen im Vorbeigehen, ohne stillzustehen, bis es am

Ende des Weilers bei dem letzten der zerstreuten Häuschen

angelangt war. Hier rief es aus einer Tür: »Wart einen

Augenblick, Dete, ich komme mit, wenn du weiter hinaufgehst.«

Die Angeredete stand still; sofort machte sich das Kind von

ihrer Hand los und setzte sich auf den Boden.

»Bist du müde, Heidi?« fragte die Begleiterin.

»Nein, es ist mir heiß«, entgegnete das Kind.

»Wir sind jetzt gleich oben, du mußt dich nur noch ein

wenig anstrengen und große Schritte nehmen, dann sind wir in

einer Stunde oben«, ermunterte die Gefährtin.

Jetzt trat eine breite, gutmütig aussehende Frau aus der Tür

und gesellte sich zu den beiden. Das Kind war aufgestanden und

wanderte nun hinter den zwei alten Bekannten her, die sofort in

ein lebhaftes Gespräch gerieten über allerlei Bewohner des

»Dörfli« und vieler umherliegender Behausungen.

»Aber wohin willst du eigentlich mit dem Kinde, Dete?«

»Aber wohin willst du eigentlich mit dem Kinde, Dete?«

fragte jetzt die neu Hinzugekommene. »Es wird wohl deiner

Schwester Kind sein, das hinterlassene.«

»Das ist es«, erwiderte Dete, »ich will mit ihm hinauf zum

Öhi, es muß dort bleiben.«

»Was, beim Alm-Öhi soll das Kind bleiben? Du bist, denk'

ich, nicht recht bei Verstand, Dete! Wie kannst du so etwas tun!

Der Alte wird dich aber schon heimschicken mit deinem

Vorhaben!«

»Das kann er nicht, er ist der Großvater, er muß etwas tun,

ich habe das Kind bis jetzt gehabt, und das kann ich dir schon

sagen, Barbel, daß ich einen Platz, wie ich ihn jetzt haben kann,

nicht dahinten lasse um des Kindes willen; jetzt soll der

Großvater das Seinige tun.«

»Ja, wenn der wäre wie andere Leute, dann schon«,

bestätigte die kleine Barbel eifrig; »aber du kennst ja den. Was

wird der mit einem Kinde anfangen und dann noch einem so

kleinen! Das hält's nicht aus bei ihm! Aber wo willst du denn

hin?«

»Nach Frankfurt«, erklärte Dete, »da bekomm' ich einen

extraguten Dienst. Die Herrschaft war schon im vorigen Sommer

unten im Bad, ich habe ihre Zimmer auf meinem Gang gehabt

und sie besorgt, und schon damals wollten sie mich mitnehmen,

aber ich konnte nicht fortkommen, und jetzt sind sie wieder da

und wollen mich mitnehmen, und ich will auch gehen, da kannst

du sicher sein.«

»Ich möchte nicht das Kind sein!« rief die Barbel mit

»Ich möchte nicht das Kind sein!« rief die Barbel mit

abwehrender Gebärde aus. »Es weiß ja kein Mensch, was mit

dem Alten da oben ist! Mit keinem Menschen will er etwas zu

tun haben, jahraus, jahrein setzt er keinen Fuß in eine Kirche,

und wenn er mit seinem dicken Stock im Jahr einmal

herunterkommt, so weicht ihm alles aus und muß sich vor ihm

fürchten. Mit seinen dicken grauen Augenbrauen und dem

furchtbaren Bart sieht er auch aus wie ein alter Heide und

Indianer, daß man froh ist, wenn man ihm nicht allein begegnet.«

»Und wenn auch«, sagte Dete trotzig, »er ist der Großvater

und muß für das Kind sorgen, er wird ihm wohl nichts tun, sonst

hat er's zu verantworten, nicht ich.«

»Ich möchte nur wissen«, sagte die Barbel forschend, »was

der Alte auf dem Gewissen hat, daß er solche Augen macht und

so mutterseelenallein da droben auf der Alm bleibt und sich fast

nie blicken läßt. Man sagt allerhand von ihm; du weißt doch

gewiß auch etwas davon, von deiner Schwester, nicht, Dete?«

»Freilich, aber ich rede nicht; wenn er's hörte, so käme ich

schön an!«

Aber die Barbel hätte schon lange gern gewußt, wie es sich

mit dem Alm-Öhi verhalte, daß er so menschenfeindlich aussehe

und da oben ganz allein wohne und die Leute immer so mit

halben Worten von ihm redeten, als fürchteten sie sich, gegen ihn

zu sein, und wollten doch nicht für ihn sein. Auch wußte die

Barbel gar nicht, warum der Alte von allen Leuten im Dörfli der

Alm-Öhi genannt wurde, er konnte doch nicht der wirkliche

Oheim von den sämtlichen Bewohnern sein; da aber alle ihn so

nannten, tat sie es auch und nannte den Alten nie anders als Öhi,

nannten, tat sie es auch und nannte den Alten nie anders als Öhi,

was die Aussprache der Gegend für Oheim ist. Die Barbel hatte

sich erst vor kurzer Zeit nach dem Dörfli hinauf verheiratet,

vorher hatte sie unten im Prättigau gewohnt, und so war sie noch

nicht so ganz bekannt mit allen Erlebnissen und besonderen

Persönlichkeiten aller Zeiten vom Dörfli und der Umgegend. Die

Dete, ihre gute Bekannte, war dagegen vom Dörfli gebürtig und

hatte da gelebt mit ihrer Mutter bis vor einem Jahr; da war diese

gestorben, und die Dete war nach dem Bade Ragaz

hinübergezogen, wo sie im großen Hotel als Zimmermädchen

einen guten Verdienst fand. Sie war auch an diesem Morgen mit

dem Kinde von Ragaz hergekommen; bis Maienfeld hatte sie auf

einem Heuwagen fahren können, auf dem ein Bekannter von ihr

heimfuhr und sie und das Kind mitnahm. – Die Barbel wollte also

diesmal die gute Gelegenheit, etwas zu vernehmen, nicht

unbenutzt vorbeigehen lassen; sie faßte vertraulich die Dete am

Arm und sagte: »Von dir kann man doch vernehmen, was wahr

ist und was die Leute darüber hinaus sagen; du weißt, denk' ich,

die ganze Geschichte. Sag mir jetzt ein wenig, was mit dem Alten

ist und ob der immer so gefürchtet und ein solcher

Menschenhasser war.«

»Ob er immer so war, kann ich, denk' ich, nicht präzis

wissen, ich bin jetzt sechsundzwanzig und er sicher siebzig Jahr'

alt; so hab' ich ihn nicht gesehen, wie er jung war, das wirst du

nicht erwarten. Wenn ich aber wüßte, daß es nachher nicht im

ganzen Prättigau herumkäme, so könnte ich dir schon allerhand

erzählen von ihm; meine Mutter war aus dem Domleschg und er

auch.«

auch.«

»A bah, Dete, was meinst denn?« gab die Barbel ein wenig

beleidigt zurück; »es geht nicht so streng mit dem Schwatzen im

Prättigau, und dann kann ich schon etwas für mich behalten,

wenn es sein muß. Erzähl mir's jetzt, es muß dich nicht gereuen.«

»Ja nu, so will ich, aber halt Wort!« mahnte die Dete. Erst

sah sie sich aber um, ob das Kind nicht zu nah sei und alles

anhöre, was sie sagen wollte; aber das Kind war gar nicht zu

sehen, es mußte schon seit einiger Zeit den beiden Begleiterinnen

nicht mehr gefolgt sein, diese hatten es aber im Eifer der

 

Unterhaltung nicht bemerkt. Dete stand still und schaute sich

überall um. Der Fußweg machte einige Krümmungen, doch

konnte man ihn fast bis zum Dörfli hinunter übersehen, es war

aber niemand darauf sichtbar.

»Jetzt seh' ich's«, erklärte die Barbel; »siehst du dort?« und

sie wies mit dem Zeigefinger weit ab vom Bergpfad. »Es klettert

die Abhänge hinauf mit dem Geißenpeter und seinen Geißen.

Warum der heut' so spät hinauffährt mit seinen Tieren? Es ist

aber gerad' recht, er kann nun zu dem Kinde sehen, und du

kannst mir um so besser erzählen.«

»Mit dem Nach-ihm-sehen muß sich der Peter nicht

anstrengen«, bemerkte die Dete; »es ist nicht dumm für seine fünf

Jahre, es tut seine Augen auf und sieht, was vorgeht, das hab' ich

schon bemerkt an ihm, und es wird ihm einmal zugut' kommen,

denn der Alte hat gar nichts mehr als seine zwei Geißen und die

Almhütte.«

»Hat er denn einmal mehr gehabt?« fragte die Barbel.

»Hat er denn einmal mehr gehabt?« fragte die Barbel.

»Der? Ja, das denk' ich, daß er einmal mehr gehabt hat«,

entgegnete eifrig die Dete; »eins der schönsten Bauerngüter im

Domleschg hat er gehabt. Er war der ältere Sohn und hatte nur

noch einen Bruder, der war still und ordentlich. Aber der Ältere

wollte nichts tun, als den Herrn spielen und im Lande

herumfahren und mit bösem Volk zu tun haben, das niemand

kannte. Den ganzen Hof hat er verspielt und verzecht, und wie es

herauskam, da sind sein Vater und seine Mutter hintereinander

gestorben vor lauter Gram, und der Bruder, der nun auch am

Bettelstab war, ist vor Verdruß in die Welt hinaus, es weiß kein

Mensch wohin, und der Öhi selber, als er nichts mehr hatte als

einen bösen Namen, ist auch verschwunden. Erst wußte niemand

wohin, dann vernahm man, er sei unter das Militär gegangen

nach Neapel, und dann hörte man nichts mehr von ihm zwölf

oder fünfzehn Jahre lang. Dann auf einmal erschien er wieder im

Domleschg mit einem halberwachsenen Buben und wollte diesen

in der Verwandtschaft unterzubringen suchen. Aber es schlossen

sich alle Türen vor ihm, und keiner wollte mehr etwas von ihm

wissen. Das erbitterte ihn sehr; er sagte: ins Domleschg setze er

keinen Fuß mehr, und dann kam er hierher ins Dörfli und lebte

da mit dem Buben. Die Frau muß eine Bündnerin gewesen sein,

die er dort unten getroffen und dann bald wieder verloren hatte.

Er mußte noch etwas Geld haben, denn er ließ den Buben, den

Tobias, ein Handwerk erlernen, Zimmermann, und der war ein

ordentlicher Mensch und wohlgelitten bei allen Leuten im Dörfli.

Aber dem Alten traute keiner, man sagte auch, er sei von Neapel

desertiert, es wäre ihm sonst schlimm gegangen, denn er habe

desertiert, es wäre ihm sonst schlimm gegangen, denn er habe

einen erschlagen, natürlich nicht im Krieg, verstehst du, sondern

beim Raufhandel. Wir anerkannten aber die Verwandtschaft, da

meiner Mutter Großmutter mit seiner Großmutter

Geschwisterkind gewesen war. So nannten wir ihn Öhi, und da

wir fast mit allen Leuten im Dörfli wieder verwandt sind vom

Vater her, so nannten ihn diese alle auch Öhi, und seit er dann

auf die Alm hinaufgezogen war, hieß er eben nur noch der ›AlmÖhi‹.

«

»Aber wie ist es dann mit dem Tobias gegangen?« fragte

gespannt die Barbel.

»Wart nur, das kommt schon, ich kann nicht alles auf

einmal sagen«, erklärte Dete. »Also der Tobias war in der Lehre

draußen in Mels, und sowie er fertig war, kam er heim ins Dörfli

und nahm meine Schwester zur Frau, die Adelheid, denn sie

hatten sich schon immer gern gehabt, und auch wie sie nun

verheiratet waren, konnten sie's sehr gut zusammen. Aber es ging

nicht lange. Schon zwei Jahre nachher, wie er an einem Hausbau

mithalf, fiel ein Balken auf ihn herunter und schlug ihn tot. Und

wie man den Mann so entstellt nachhause brachte, da fiel die

Adelheid vor Schrecken und Leid in ein heftiges Fieber und

konnte sich nicht mehr erholen, sie war sonst nicht sehr kräftig

und hatte manchmal so eigene Zustände gehabt, daß man nicht

recht wußte, schlief sie, oder war sie wach. Nur ein paar

Wochen, nachdem der Tobias tot war, begrub man auch die

Adelheid. Da sprachen alle Leute weit und breit von dem

traurigen Schicksal der beiden, und leise und laut sagten sie, das

sei die Strafe, die der Öhi verdient habe für sein gottloses Leben,

sei die Strafe, die der Öhi verdient habe für sein gottloses Leben,

und ihm selbst wurde es gesagt und auch der Herr Pfarrer redete

ihm ins Gewissen, er sollte doch jetzt Buße tun, aber er wurde

nur immer grimmiger und verstockter und redete mit niemandem

mehr, es ging ihm auch jeder aus dem Wege. Auf einmal hieß es,

der Öhi sei auf die Alm hinaufgezogen und komme gar nicht

mehr herunter, und seither ist er dort und lebt mit Gott und

Menschen im Unfrieden. Das kleine Kind der Adelheid nahmen

wir zu uns, die Mutter und ich; es war ein Jahr alt. Wie nun im

letzten Sommer die Mutter starb und ich im Bad drunten etwas

verdienen wollte, nahm ich es mit und gab es der alten Ursel

oben im Pfäfferserdorf an die Kost. Ich konnte auch im Winter

im Bad bleiben, es gab allerhand Arbeit, weil ich zu nähen und

flicken verstehe, und früh im Frühling kam die Herrschaft aus

Frankfurt wieder, die ich voriges Jahr bedient hatte und die mich

mitnehmen will; übermorgen reisen wir ab, und der Dienst ist gut,

das kann ich dir sagen.«

»Und dem Alten da droben willst du nun das Kind

übergeben? Es nimmt mich nur wunder, was du denkst, Dete«,

sagte die Barbel vorwurfsvoll.

»Was meinst du denn?« gab Dete zurück. »Ich habe das

Meinige an dem Kinde getan, und was sollte ich denn mit ihm

machen? Ich denke, ich kann eines, das erst fünf Jahre alt wird,

nicht mit nach Frankfurt nehmen. Aber wohin gehst du eigentlich,

Barbel, wir sind ja schon halbwegs auf der Alm?«

»Ich bin auch gleich da, wo ich hin muß«, entgegnete die

Barbel; »ich habe mit der Geißenpeterin zu reden, sie spinnt mir

im Winter. So leb wohl, Dete; mit Glück!«

Dete reichte der Begleiterin die Hand und blieb stehen,

während diese der kleinen, dunkelbraunen Almhütte zuging, die

einige Schritte seitwärts vom Pfad in einer Mulde stand, wo sie

vor dem Bergwind ziemlich geschützt war. Die Hütte stand auf

der halben Höhe der Alm, vom Dörfli aus gerechnet, und daß sie

in einer kleinen Vertiefung des Berges stand, war gut, denn sie

sah so baufällig und verfallen aus, daß es auch so noch ein

gefährliches Darinwohnen sein mußte, wenn der Föhnwind so

mächtig über die Berge strich, daß alles an der Hütte klapperte,

Türen und Fenster, und alle die morschen Balken zitterten und

krachten. Hätte die Hütte an solchen Tagen oben auf der Alm

gestanden, sie wäre unverzüglich ins Tal hinabgeweht worden.

Hier wohnte der Geißenpeter, der elfjährige Bube, der

jeden Morgen unten im Dörfli die Geißen holte, um sie hoch auf

die Alm hinaufzutreiben, um sie da die kurzen kräftigen Kräuter

fressen zu lassen bis zum Abend; dann sprang der Peter mit den

leichtfüßigen Tierchen wieder herunter, tat, im Dörfli

angekommen, einen schrillen Pfiff durch die Finger, und jeder

Besitzer holte seine Geiß auf dem Platz. Meistens kamen kleine

Buben und Mädchen, denn die friedlichen Geißen waren nicht zu

fürchten, und das war denn den ganzen Sommer durch die

einzige Zeit am Tage, da der Peter mit seinesgleichen verkehrte;

sonst lebte er nur mit den Geißen. Er hatte zwar daheim seine

Mutter und die blinde Großmutter; aber da er immer am Morgen

sehr früh fort mußte und am Abend vom Dörfli spät heimkam,

weil er sich da noch so lange als möglich mit den Kindern

weil er sich da noch so lange als möglich mit den Kindern

unterhalten mußte, so verbrachte er daheim nur gerade so viel

Zeit, um am Morgen seine Milch und Brot und am Abend

ebendasselbe hinunterzuschlucken und dann sich aufs Ohr zu

legen und zu schlafen. Sein Vater, der auch schon der

Geißenpeter genannt worden war, weil er in früheren Jahren in

demselben Berufe gestanden hatte, war vor einigen Jahren beim

Holzfällen verunglückt. Seine Mutter, die zwar Brigitte hieß,

wurde von jedermann um des Zusammenhangs willen die

Geißenpeterin genannt, und die blinde Großmutter kannten weit

und breit alt und jung nur unter dem Namen Großmutter.

Die Dete hatte wohl zehn Minuten gewartet und sich nach

allen Seiten umgesehen, ob die Kinder mit den Geißen noch

nirgends zu sehen seien; als dies aber nicht der Fall war, so stieg

sie noch ein wenig höher, wo sie besser die ganze Alm bis

hinunter übersehen konnte, und guckte nun von hier aus bald

dahin, bald dorthin mit Zeichen großer Ungeduld auf dem

Gesicht und in den Bewegungen. Unterdessen rückten die

Kinder auf einem großen Umwege heran, denn der Peter wußte

viele Stellen, wo allerhand Gutes an Sträuchern und Gebüschen

für seine Geißen zu nagen war; darum machte er mit seiner

Herde vielerlei Wendungen auf dem Wege. Erst war das Kind

mühsam nachgeklettert, in seiner schweren Rüstung vor Hitze

und Unbequemlichkeit keuchend und alle Kräfte anstrengend. Es

sagte kein Wort, blickte aber unverwandt bald auf den Peter,

der mit seinen nackten Füßen und leichten Höschen ohne alle

Mühe hin- und hersprang, bald auf die Geißen, die mit den

dünnen, schlanken Beinchen noch leichter über Busch und Stein

dünnen, schlanken Beinchen noch leichter über Busch und Stein

und steile Abhänge hinaufkletterten. Auf einmal setzte das Kind

sich auf den Boden nieder, zog mit großer Schnelligkeit Schuhe

und Strümpfe aus, stand wieder auf, zog sein rotes, dickes

Halstuch weg, machte sein Röckchen auf, zog es schnell aus und

hatte gleich noch eins auszuhäkeln, denn die Base Dete hatte ihm

das Sonntagskleidchen über das Alltagszeug angezogen, um der

Kürze willen, damit niemand es tragen müsse. Blitzschnell war

auch das Alltagsröcklein weg, und nun stand das Kind im

leichten Unterröckchen, die bloßen Arme aus den kurzen

Hemdärmelchen vergnüglich in die Luft hinausstreckend. Dann

legte es schön alles auf ein Häufchen, und nun sprang und

kletterte es hinter den Geißen und neben dem Peter her, so leicht

als nur eines aus der ganzen Gesellschaft. Der Peter hatte nicht

achtgegeben, was das Kind mache, als es zurückgeblieben war.

Wie es nun in der neuen Bekleidung nachgesprungen kam, zog er

lustig grinsend das ganze Gesicht auseinander und schaute

zurück, und wie er unten das Häuflein Kleider liegen sah, ging

sein Gesicht noch ein wenig mehr auseinander, und sein Mund

kam fast von einem Ohr bis zum anderen; er sagte aber nichts.

Wie nun das Kind sich so frei und leicht fühlte, fing es ein

Gespräch mit dem Peter an, und er fing auch an zu reden und

mußte auf vielerlei Fragen antworten, denn das Kind wollte

wissen, wie viele Geißen er habe und wohin er mit ihnen gehe

und was er dort tue, wo er hinkomme. So langten endlich die

Kinder samt den Geißen oben bei der Hütte an und kamen der

Base Dete zu Gesicht. Kaum aber hatte diese die

herankletternde Gesellschaft erblickt, als sie laut aufschrie:

herankletternde Gesellschaft erblickt, als sie laut aufschrie:

»Heidi, was machst du? Wie siehst du aus? Wo hast du deinen

Rock und den zweiten und das Halstuch? Und ganz neue Schuhe

habe ich dir gekauft auf den Berg und dir neue Strümpfe

gemacht, und alles fort! alles fort! Heidi, was machst du, wo hast

du alles?«

Das Kind zeigte ruhig den Berg hinunter und sagte: »Dort!«

Die Base folgte seinem Finger. Richtig, dort lag etwas und oben

auf war ein roter Punkt, das mußte das Halstuch sein.

»Du Unglückstropf!« rief die Base in großer Aufregung;

»was kommt dir denn in den Sinn, warum hast du alles

ausgezogen? Was soll das sein?«

»Ich brauch' es nicht«, sagte das Kind und sah gar nicht

reuevoll aus über seine Tat.

»Ach du unglückseliges, vernunftloses Heidi, hast du denn

 

auch noch gar keine Begriffe?« jammerte und schalt die Base

weiter; »wer sollte nun wieder da hinunter, es ist ja eine halbe

Stunde! Komm, Peter, lauf du mir schnell zurück und hol das

Zeug, komm schnell und steh nicht dort und glotze mich an, als

wärst du am Boden festgenagelt.«

»Ich bin schon zu spät«, sagte Peter langsam und blieb,

ohne sich zu rühren, auf demselben Fleck stehen, von dem aus

er, beide Hände in die Taschen gesteckt, dem

Schreckensausbruch der Base zugehört hatte.

»Du stehst ja doch nur und reißest deine Augen auf und

kommst, denk' ich, nicht weit auf die Art!« rief ihm die Base

Dete zu; »komm her, du mußt etwas Schönes haben, siehst du?«

Dete zu; »komm her, du mußt etwas Schönes haben, siehst du?«

Sie hielt ihm ein neues Fünferchen hin, das glänzte ihm in die

Augen. Plötzlich sprang er auf und davon auf dem geradesten

Weg die Alm hinunter und kam in ungeheuren Sätzen in kurzer

Zeit bei dem Häuflein Kleider an, packte sie auf und erschien

damit so schnell, daß ihn die Base rühmen mußte und ihm

sogleich sein Fünfrappenstück überreichte. Peter steckte es

schnell tief in seine Tasche, und sein Gesicht glänzte und lachte in

voller Breite, denn ein solcher Schatz wurde ihm nicht oft zuteil.

»Du kannst mir das Zeug noch tragen bis zum Öhi hinauf,

du gehst ja auch den Weg«, sagte die Base Dete jetzt, indem sie

sich anschickte, den steilen Abhang zu erklimmen, der gleich

hinter der Hütte des Geißenpeter emporragte. Willig übernahm

dieser den Auftrag und folgte der Voranschreitenden auf dem

Fuße nach, den linken Arm um sein Bündel geschlungen, in der

Rechten die Geißenrute schwingend. Das Heidi und die Geißen

hüpften und sprangen fröhlich neben ihm her. So gelangte der

Zug nach drei Viertelstunden auf die Almhöhe, wo frei auf dem

Vorsprung des Berges die Hütte des alten Öhi stand, allen

Winden ausgesetzt, aber auch jedem Sonnenblick zugänglich und

mit der vollen Aussicht weit ins Tal hinab. Hinter der Hütte

standen drei alte Tannen mit dichten, langen, unbeschnittenen

Ästen. Weiter hinten ging es nochmals bergan bis hoch hinauf in

die alten, grauen Felsen, erst noch über schöne, kräuterreiche

Höhen, dann in steiniges Gestrüpp und endlich zu den kahlen,

steilen Felsen hinan.

An die Hütte festgemacht, der Talseite zu, hatte sich der

Öhi eine Bank gezimmert. Hier saß er, eine Pfeife im Mund,

Öhi eine Bank gezimmert. Hier saß er, eine Pfeife im Mund,

beide Hände auf seine Knie gelegt und schaute ruhig zu, wie die

Kinder, die Geißen und die Base Dete herankletterten, denn die

letztere war nach und nach von den anderen überholt worden.

Heidi war zuerst oben; es ging geradeaus auf den Alten zu,

streckte ihm die Hand entgegen und sagte: »Guten Abend,

Großvater!«

»So, so, wie ist das gemeint?« fragte der Alte barsch, gab

dem Kinde kurz die Hand und schaute es mit einem langen,

durchdringenden Blick an unter seinen buschigen Augenbrauen

hervor. Heidi gab den langen Blick ausdauernd zurück, ohne nur

einmal mit den Augen zu zwinkern, denn der Großvater mit dem

langen Bart und den dichten, grauen Augenbrauen, die in der

Mitte zusammengewachsen waren und aussahen wie eine Art

Gesträuch, war so verwunderlich anzusehen, daß Heidi ihn recht

betrachten mußte. Unterdessen war auch die Base

herangekommen samt dem Peter, der eine Weile stillestand und

zusah, was sich da ereigne.

»Ich wünsche Euch guten Tag, Öhi«, sagte die Dete,

hinzutretend, »und hier bring' ich Euch das Kind vom Tobias und

der Adelheid. Ihr werdet es wohl nicht mehr kennen, denn seit es

jährig war, habt Ihr es nie mehr gesehen.«

»So, was muß das Kind bei mir?« fragte der Alte kurz;

»und du dort«, rief er dem Peter zu, »du kannst gehen mit deinen

Geißen, du bist nicht zu früh; nimm meine mit!«

Der Peter gehorchte sofort und verschwand, denn der Öhi

hatte ihn angeschaut, daß er schon genug davon hatte.

»Es muß eben bei Euch bleiben, Öhi«, gab die Dete auf

»Es muß eben bei Euch bleiben, Öhi«, gab die Dete auf

seine Frage zurück. »Ich habe, denk' ich, das Meinige an ihm

getan die vier Jahre durch, es wird jetzt wohl an Euch sein, das

Eurige auch einmal zu tun.«

»So«, sagte der Alte und warf einen blitzenden Blick auf die

Dete. »Und wenn nun das Kind anfängt dir nachzuflennen und zu

winseln, wie kleine Unvernünftige tun, was muß ich dann mit ihm

anfangen?«

»Das ist dann Eure Sache«, warf die Dete zurück; »ich

meine fast, es habe mir auch kein Mensch gesagt, wie ich es mit

dem Kleinen anzufangen habe, als es mir auf den Händen lag, ein

einziges Jährchen alt, und ich schon für mich und die Mutter

genug zu tun hatte. Jetzt muß ich meinem Verdienst nach, und Ihr

seid der Nächste am Kind; wenn Ihr's nicht haben könnt, so

macht mit ihm, was Ihr wollt, dann habt Ihr's zu verantworten,

wenn's verdirbt, und Ihr werdet wohl nicht nötig haben, noch

etwas aufzuladen.«

Die Dete hatte kein recht gutes Gewissen bei der Sache,

darum war sie so hitzig geworden und hatte mehr gesagt, als sie

im Sinn gehabt hatte. Bei ihren letzten Worten war der Öhi

aufgestanden; er schaute sie so an, daß sie einige Schritte

zurückwich; dann streckte er den Arm aus und sagte

befehlend:»Mach, daß du hinunterkommst, wo du

heraufgekommen bist, und zeig dich nicht so bald wieder!« Das

ließ sich die Dete nicht zweimal sagen. »So lebt wohl, und du

auch, Heidi«, sagte sie schnell und lief den Berg hinunter in einem

Trab bis ins Dörfli hinab, denn die innere Aufregung trieb sie

Trab bis ins Dörfli hinab, denn die innere Aufregung trieb sie

vorwärts, wie eine wirksame Dampfkraft. Im Dörfli wurde sie

diesmal noch viel mehr angerufen, denn es wunderte die Leute,

wo das Kind sei; sie kannten ja alle die Dete genau und wußten,

wem das Kind gehörte, und alles, was mit ihm vorgegangen war.

Als es nun aus allen Türen und Fenstern tönte: »Wo ist das

Kind? Dete, wo hast du das Kind gelassen?« rief sie immer

unwilliger zurück: »Droben beim Alm-Öhi! Nun, beim Alm-Öhi,

Ihr hört's ja!«

Sie wurde aber so maßleidig, weil die Frauen von allen

Seiten ihr zuriefen: »Wie kannst du so etwas tun!« und: »Das

arme Tröpfli!« und: »So ein kleines Hilfloses da droben lassen!«

und dann wieder und wieder: »Das arme Tröpfli!« Die Dete lief,

so schnell sie konnte, weiter und war froh, als sie nichts mehr

hörte, denn es war ihr nicht wohl bei der Sache; ihre Mutter

hatte ihr beim Sterben das Kind noch übergeben. Aber sie sagte

sich zur Beruhigung, sie könne dann ja eher wieder etwas für das

Kind tun, wenn sie nun viel Geld verdiene, und so war sie sehr

froh, daß sie bald weit von allen Leuten, die ihr dreinredeten,

weg- und zu einem schönen Verdienst kommen konnte.

Beim Großvater

Nachdem die Dete verschwunden war, hatte der Öhi sich wieder

auf die Bank hingesetzt und blies nun große Wolken aus seiner

Pfeife; dabei starrte er auf den Boden und sagte kein Wort.

Derweilen schaute das Heidi vergnüglich um sich, entdeckte den

Derweilen schaute das Heidi vergnüglich um sich, entdeckte den

Geißenstall, der an die Hütte angebaut war, und guckte hinein.

Es war nichts drin. Das Kind setzte seine Untersuchungen fort

und kam hinter die Hütte zu den alten Tannen. Da blies der Wind

durch die Äste so stark, daß es sauste und brauste oben in den

Wipfeln. Heidi blieb stehen und hörte zu. Als es ein wenig stiller

wurde, ging das Kind um die kommende Ecke der Hütte herum

und kam vorn wieder zum Großvater zurück. Als es diesen noch

in derselben Stellung erblickte, wie es ihn verlassen hatte, stellte

es sich vor ihn hin, legte die Hände auf den Rücken und

betrachtete ihn. Der Großvater schaute auf. »Was willst du jetzt

tun?« fragte er, als das Kind immer noch unbeweglich vor ihm

stand.

»Ich will sehen, was du drinnen hast, in der Hütte«, sagte

Heidi. »So komm!« und der Großvater stand auf und ging voran

in die Hütte hinein.

»Nimm dort dein Bündel Kleider noch mit«, befahl er im

Hereintreten.

»Das brauch' ich nicht mehr«, erklärte Heidi.

Der Alte kehrte sich um und schaute durchdringend auf das

Kind, dessen schwarze Augen glühten in Erwartung der Dinge,

die da drinnen sein konnten. »Es kann ihm nicht an Verstand

fehlen«, sagte er halblaut. »Warum brauchst du's nicht mehr?«

setzte er laut hinzu.

»Ich will am liebsten gehen wie die Geißen, die haben ganz

leichte Beinchen.«

»So, das kannst du, aber hol das Zeug«, befahl der

Großvater, »es kommt in den Kasten.« Heidi gehorchte. Jetzt

Großvater, »es kommt in den Kasten.« Heidi gehorchte. Jetzt

machte der Alte die Tür auf und Heidi trat hinter ihm her in einen

ziemlich großen Raum ein, es war der Umfang der ganzen Hütte.

Da stand ein Tisch und ein Stuhl daran; in einer Ecke war des

Großvaters Schlaflager, in einer anderen hing der große Kessel

über dem Herd; auf der anderen Seite war eine große Tür in der

Wand, die machte der Großvater auf, es war der Schrank. Da

hingen seine Kleider drin und auf einem Gestell lagen ein paar

Hemden, Strümpfe und Tücher und auf einem anderen einige

Teller und Tassen und Gläser und auf dem obersten ein rundes

Brot und geräuchertes Fleisch und Käse, denn in dem Kasten

war alles enthalten, was der Alm-Öhi besaß und zu seinem

Lebensunterhalt gebrauchte. Wie er nun den Schrank

aufgemacht hatte, kam das Heidi schnell heran und stieß sein

Zeug hinein, so weit hinter des Großvaters Kleider als möglich,

damit es nicht so leicht wiederzufinden sei. Nun sah es sich

aufmerksam um in dem Raum und sagte dann: »Wo muß ich

schlafen, Großvater?«

»Wo du willst«, gab dieser zur Antwort.

Das war dem Heidi eben recht. Nun fuhr es in alle Winkel

hinein und schaute jedes Plätzchen aus, wo am schönsten zu

schlafen wäre. In der Ecke vorüber des Großvaters Lagerstätte

war eine kleine Leiter aufgerichtet; Heidi kletterte hinauf und

langte auf dem Heuboden an. Da lag ein frischer, duftender

Heuhaufen oben, und durch eine runde Luke sah man weit ins

Tal hinab.

»Hier will ich schlafen«, rief Heidi hinunter, »hier ist's schön!

»Hier will ich schlafen«, rief Heidi hinunter, »hier ist's schön!

Komm und sieh einmal, wie schön es hier ist, Großvater!«

»Weiß schon«, tönte es von unten herauf.

»Ich mache jetzt das Bett!« rief das Kind wieder, indem es

oben geschäftig hin- und herfuhr; »aber du mußt heraufkommen

und mir ein Leintuch mitbringen, denn auf ein Bett kommt auch