X-World

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J Ö R G A R N D T

X - WORLD

Roman


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-86506-873-6

© 2016 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers

Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers

Titelfoto: fotolia lassedesignen, fotolia Alexander Potapov

Satz: Brendow Web & Print, Moers

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016

www.brendow-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Wie alles begann

1. Bit and Bytes

2. Jontes Wünsche

3. Frankfurt am Main

4. Schöpfung, die Zweite

5. Es passiert …

6. Die Prometheus Software AG

7. X-World geht eigene Wege

8. Singer-City

9. Die Entscheidung

10. Schlusssequenz

11. Neubeginn

12. Keramik und ihre Folgen

13. Ausflug nach Ägypten

14. Die Sache wird kompliziert …

15. In Pharaos Gewalt

16. Befreiung aus Ägypten

17. Wiederaufbau

18. Jonte kommt ins Spiel

19. Die Vorkommnisse in Norddorf

20. Ron im Fernsehen

21. Die Armee des Lichtes

22. Lutz gewinnt

Epilog

C.S.Lewis-Preis

Weitere Bücher

WIE ALLES BEGANN

„DER CYBERSTAR WIRD IHR LEBEN VERÄNDERN.“ So versprachen die großen roten Buchstaben auf dem Messeprospekt. Darunter glänzte schwarz und geheimnisvoll das Bild eines Cyberhelms. Ron lehnte den Prospekt gegen einen der Papierstapel auf seinem Schreibtisch und kramte nach dem Collegeblock. Er hoffte, dass diese Verheißung auch für sein Leben galt, denn er sollte für dieses Gerät eine Welt erschaffen. Wenn es gut lief, käme er vielleicht endlich aus den roten Zahlen heraus.

Solch eine Aufgabe war nichts Ungewöhnliches für ihn. Er hatte schon viele Computerwelten entworfen und sogar Preise damit gewonnen. Doch diesmal fiel es ihm schwer, den Anfang zu finden. Er verzierte die Löcher am Rand des Blocks mit symmetrischen Mustern, während seine Gedanken umherschwirrten wie ein Mückenschwarm im Sonnenlicht.

Beim letzten Mal hatte er einen fatalen Fehler in seiner Schöpfung übersehen. Es war sein Assistent gewesen, der ihn gefunden hatte. Doch noch bevor Ron dazu gekommen war, den Programmcode upzudaten, hatten sich schon Scharen von Hackern auf die Schwachstelle gestürzt und die Wirtschaft des Spiels ruiniert, was seine Firma eine Menge Geld und ihn seinen Job gekostet hatte. Darauf waren endlose Nächte voller Selbstzweifel und Schmerz gefolgt. Auf keinen Fall wollte er so etwas noch einmal erleben.

Die Zukunft ist wichtiger als die Vergangenheit, ermahnte sich Ron, lehnte sich zurück und versuchte, den Moment bewusst zu genießen. Das hier war etwas Neues. Er war vollkommen frei. Er war der Schöpfer. Er konnte alle Weichen so stellen, wie es ihm beliebte, konnte über Schicksale entscheiden und dabei selbst unsterblich werden. Ihn durchflutete ein Glücksgefühl. Am besten wäre es wohl, seiner neuen Welt zunächst einen Namen zu geben. Nomen est omen. Namen sind wichtig. Sie tragen ihre eigene Magie in sich.

Ihm fiel kein Name ein.

Seufzend legte er den Collegeblock beiseite, stand auf und begann aufzuräumen. Manchmal half ihm das, über kreative Blockaden hinwegzukommen. Er sammelte eine Handvoll leerer Kaffeebecher zusammen und brachte sie nach nebenan in die Küche. Dort entdeckte er die Gießkanne, die schon seit Tagen neben der Spüle stand, nahm sie in sein Arbeitszimmer mit und machte sich daran, seine Blumen zu versorgen.

„Na gut, warum nicht“, sagte er unvermittelt zu dem halb vertrockneten Benjamini. „Als Arbeitstitel ist das ganz brauchbar.“ Er stellte die Plastikkanne auf den Stapel antiker Computerzeitungen, der unter der Fensterbank emporwuchs, nahm seinen Kugelschreiber und malte in großen Lettern „X-World“ auf die Außenseite des Collegeblocks. Das Projekt hatte begonnen.

Plötzlich war es, als hätte jemand eine Tür geöffnet. Seine Gedanken überstürzten sich. Er kam mit dem Aufschreiben kaum hinterher. Tag und Nacht sollte es geben in X-World. Die Tageslänge legte er auf 22 Stunden fest. Dadurch würden User, die sich stets zur selben Zeit einloggten, im Spiel unterschiedliche Tageszeiten vorfinden. Und er wollte diesen Firlefanz mit Zauberern und magischen Wesen nicht mehr. Sein Werk würde diesmal vom Realismus leben. Das passte auch zu der Hardware, für die er es entwickelte.

Rons Stift flog über das Papier. Seine Kreativität war entfesselt. Der Helm bot gewaltige Möglichkeiten, und er gedachte, sie zu nutzen. Endlich konnten die Lichteffekte zum Einsatz kommen, die ihm schon so lange vorschwebten. 3-D war das eine, aber diese Option wirklich auszureizen, das andere. Es ging ihm nicht um billige Effekte. Was er wollte, war ein Spiel, das die Menschen in seinen Bann zog.

Allerdings schwankte er noch zwischen zwei Wegen, um dieses Ziel zu erreichen. Sollte er Flora und Fauna der Erde kopieren oder doch lieber eine völlig neue Welt entwerfen? Das hätte etwas Verlockendes, auch wenn sehr viel Planung nötig wäre. Er könnte seinen eigenen Planeten entwickeln, vielleicht mit verminderter Schwerkraft und daraus resultierendem Riesenwuchs. Pflanzen und Tiere, die niemand je zuvor gesehen hat, ein aufregendes Universum voller Überraschungen.

Aber würden sich Menschen dort auch heimisch fühlen? Würde es sie immer wieder in diese ungewöhnliche Umgebung zurückziehen, nachdem ihre anfängliche Neugier gestillt war?

Womöglich wäre es doch besser, ein idealisiertes Abbild der Erde umzusetzen, in dem die Spieler einander begegnen könnten, vielleicht eine Szene aus der Karibik, mit Sandstrand und Palmen, allerdings ohne lästige Insekten und Spinnen. Eine Art virtuellen Hochglanzprospekt. Das hätte zudem den Vorteil, dass er auf Daten aus älteren Projekten zurückgreifen könnte und nicht alles neu zu entwickeln bräuchte. Schließlich hatte er einen Abgabetermin einzuhalten.

Andererseits …

Das Telefon klingelte und riss ihn aus seinen Überlegungen. Er brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Ärgerlich drückte er auf die grüne Taste.

„Ja?“, sagte er, noch halb in seinen Planungen versunken.

„Wo bleibst du?“ Die Frauenstimme am anderen Ende der Leitung holte ihn umgehend zurück in die Gegenwart. „Es ist Freitag, und der Kleine ist dieses Wochenende bei dir!“

Ron zuckte zusammen. Das hatte er völlig vergessen.

„Hör mal, Lisa“, sagte er matt, „ich kann Jonte jetzt wirklich nicht nehmen. Ich habe einen Auftrag. Das ist die Chance meines Lebens!“

„Dein Problem“, antwortete die junge Frau ungerührt. „Ich gehe heute Abend ins Kino. Und anschließend …“

„Bitte, es tut mir furchtbar leid, aber ich muss eine Demo fertig machen. Es geht um diese neuen Cyberhelme, die sie auf der IFA vorgestellt haben …“

„Ron, arbeitest du wieder an einer dieser Spiel-Welten?“

„Diesmal wird alles anders, und wenn ich Erfolg habe, bekommen du und der Kleine auch etwas von dem Gewinn ab – bitte! Auf solch eine Gelegenheit habe ich lange gewartet! Können wir das Treffen nicht auf nächste Woche verschieben?“

 

Lisa schwieg. Ron konnte seine Ex-Frau atmen hören. Er wusste, dass er sie jetzt nicht weiter bedrängen durfte. Nervös wühlte er in seinen Haaren.

„Na schön“, sagte sie schließlich. „Aber du erklärst deinem Sohn selbst, warum du schon wieder keine Zeit für ihn hast!“

„Ja, natürlich, das mache ich, danke, du …“

„Hallo Papa!“, krähte eine fröhliche Kinderstimme ins Telefon. „Wann kommst du mich abholen?“

„Hallo, mein Großer! Es tut mir leid, aber wir müssen unser Date leider verschieben.“

„Ooooooch …“

„Papa ist dabei, eine neue Welt zu erschaffen!“

„Auf dem Computer?“

„Ja!“

„Und wann darf ich die sehen?“

„Wenn sie fertig ist.“

„Dauert das noch lange?“

„Ich hoffe nicht. Im Moment überlege ich gerade, wie sie genau aussehen soll …“

„Mit vielen Tieren. Wie die im Zoo. Und ich will einen Tiger!“

„Okay!“ Ron traf eine Entscheidung. „Du bekommst deinen Tiger. Weißt du was, Jonte, ich mache diese Welt nämlich extra für dich! Aber du musst schön bei Mama bleiben, bis ich so weit bin. Hast du noch mehr Wünsche?“

„Ja, der Tiger soll ganz lieb sein. Man muss ihn streicheln können. Den im Zoo durfte man nicht anfassen, dabei sah er so kuschelig aus!“

Ron lächelte. „Du bekommst deinen Tiger“, wiederholte er.

Im Geist war er schon bei der Umsetzung. Ein zahmer Tiger war leichter zu realisieren als ein aggressiver. Bei einem kompletten Spiel wären natürlich die Auswirkungen auf das Gesamtsystem zu bedenken, aber für die Demo brachte das gute Effekte.

„So, und nun muss ich wieder an die Arbeit, damit du schnell zu deinem Spiel kommst. Tschüss Jonte!“, rief er, doch der Kleine plapperte unbeirrt weiter.

„Und einen richtigen Freund will ich haben, einen, mit dem ich Abenteuer erleben kann!“

Ron durchfuhr es wie ein Blitz. Natürlich, das war überhaupt die Idee. Bots!

Viele große Spielwelten, die er kannte, hatten den Nachteil, dass man darin mutterseelenallein war, wenn man sich außerhalb der üblichen Zeiten bewegte. Künstliche Intelligenzen, die menschliche User simulierten, wären die Lösung. Selbstverständlich müssten sie gut gemacht sein, aber er hatte bereits entsprechende Pläne in der Schublade. Hier zahlte sich aus, dass er nicht nur Informatik, sondern auch einige Semester Psychologie studiert hatte. Eine abgefahrene Kombination, die ihm jedoch in der Entwicklung von Spielen immer wieder gute Dienste geleistet hatte.

Kleiner, du bist genial!, dachte er. Er räusperte sich.

„Okay, Jonte, ich sehe mal, was ich für dich tun kann. Nächsten Freitag darfst du dir deine neue Welt anschauen. Und zwar als Erster. Du wirst dir vorkommen wie Kolumbus, als er Amerika entdeckt hat.“

„Wirklich?!“, jubelte der Kleine, „eine ganze Welt nur für mich?“

„Warte es nur ab! Hab ein schönes Wochenende mit Mama!“ Noch ehe Ron das Telefon aus der Hand gelegt hatte, war er schon wieder in sein Projekt vertieft. Die Anregungen seines Sohnes waren Gold wert.

Endlich hatte er das Ziel klar vor Augen. Für die Demo empfahl sich ein abgegrenzter Bezirk. Am besten eine Insel. Tropisches Klima. Eine üppige Pflanzenwelt. Viele Tiere. Das würde die Grafikleistung des Cyberhelms gut zur Geltung bringen. Zu schade, dass er noch keine genauen Hardwaredaten hatte. Aber okay. Er hatte den Helm auf der Messe ja schon in Aktion erlebt und glaubte, einigermaßen einschätzen zu können, was damit möglich war.

Ron rief sein Building-Tool auf. Der Monitor wurde schwarz. Lediglich ein aufgeregt blinkender Unterstrich zeigte an, dass der Computer auf Eingaben wartete.

„Es werde Licht“, murmelte der Programmierer, während seine Finger über die Tastatur flogen.

Zuerst erschien eine endlose Wasserfläche. Ein weiterer Befehl ließ darin eine Insel aufsteigen. Ron legte die Parameter fest. Ein Quadratkilometer sollte für den Anfang genügen. An der Küste ein tropischer Traumstrand, im Landesinneren ein paradiesischer Garten …

Ron klickte und tippte und ging in seinem Werk völlig auf. Die Uhrzeit und der Rhythmus der Umwelt hatten jegliche Bedeutung verloren. Gelegentlich aß und trank er, ohne darauf zu achten, was er zu sich nahm. Er liebte diese rauschhaften, schöpferischen Phasen und wollte sie so lange wie möglich auskosten. Doch irgendwann konnte er die Augen nicht mehr offenhalten. Sie brannten vom kalten Licht des Monitors.

Ron schickte den Computer in den Energiesparmodus und legte sich auf den Teppich in seinem Arbeitszimmer, um einen Augenblick zu entspannen. Bloß keine Zeit verschwenden. Man musste am Ball bleiben, wenn der Kreativitätsstrom floss.

Nach wenigen Stunden traumlosen Schlafes wachte er auf. Wie in Trance putzte er sich den unangenehmen Geschmack von den Zähnen, ließ den Kaffeeautomaten eine extra starke Portion aufbrühen und setzte sich zurück an den Schreibtisch.

Als er den Computer aufweckte, blieb der Bildschirm dunkel. Erst vermutete Ron eine Systemstörung, aber dann wurde ihm klar, dass in der jungen Welt Nacht herrschte. Er machte sich an die Arbeit, und bald erstrahlte ein wunderschöner Sternenhimmel über der tropischen Insel. Ein untergehender Mond spendete gerade so viel Licht, dass man sich problemlos orientieren konnte.

Ron war begeistert. Seine Schöpfung gefiel ihm. Aber noch wirkte sie trotz der Palmen, die sich sanft im Wind bewegten, kalt und unbelebt.

Das lässt sich ändern, dachte er. Fangen wir mal mit dem Meer an. Das ist die größte Fläche.

Als er fertig war, durchschnitt eine Gruppe Delphine die Wellen und umrundete mit ihren Sprüngen die Insel. Sie jagten glänzende kleine Fische, die den Ozean bevölkerten.

Zufrieden wandte Ron sich dem Land zu. Auch hier konnte er einige Dateien aus früheren Projekten verwenden, und so dauerte es nicht lange, bis die virtuelle Karibikinsel von fröhlichem Vogelgezwitscher erfüllt war.

Wirklich nicht schlecht, lobte er sich und ließ den Computer die Telefonnummer des Pizzadienstes wählen. Er hatte keine Ahnung, wie spät es mittlerweile war, aber das spielte keine Rolle, schließlich boten sie einen 24-Stunden-Service an.

Mit einem Stück Pizza im Mund machte er sich daran, die Landlebewesen zu programmieren. Wieder griff er auf vorhandene Vorlagen zurück, die er mit wenigen Befehlen in das aktuelle Projekt übernahm. Für den Tiger aber nahm er sich Zeit. Er sollte das Glanzlicht seiner Schöpfung werden. „Schärfer als die Realität“, meldete sich ein Werbespot aus Kindertagen in seinem Hinterkopf zu Wort. Das beschrieb sein Ziel ziemlich gut.

Es dauerte lange, bis die Texturen und Bewegungen seinen Ansprüchen genügten. Aber endlich beobachtete er mit Stolz, wie die Raubkatze geschmeidig durch den Dschungel schlich. Ihr Fell glänzte in der Sonne, und ihr Brüllen schreckte Schwärme von Vögeln auf. Ron fand, dass er noch niemals ein besseres Ergebnis abgeliefert hatte. Er war schon jetzt sehr zufrieden mit dem Projekt. Wenn das seine Auftraggeber nicht begeisterte, war ihnen nicht zu helfen. Nun war es an der Zeit, ins Bett zu gehen.

Diesmal schlief er sehr unruhig. Er träumte, dass er unterwegs zum Termin war, um die Demo vorzustellen. Den Laptop fest an die Brust gepresst, irrte er durch eine fremde Stadt auf der Suche nach der richtigen Adresse. Die Straßen waren endlos lang, trostlose Schluchten zwischen himmelhohen Bürogebäuden aus Glas und Beton, an denen es weder Hausnummern noch Eingänge gab. Allmählich wurde es dunkel, doch Ron fand niemanden, der ihm den Weg zeigen konnte. Er lief und lief, bis er schließlich aufgab und sich erschöpft auf eine Bank sinken ließ. Verzweiflung übermannte ihn – diese Präsentation war die Chance seines Lebens, aber er hatte versagt. Mal wieder.

Übergangslos befand er sich mitten in seinem Spiel. Er sah Jonte, der auf dem Tiger ritt und fröhlich lachte. „Deine Welt ist prima geworden, Papa!“, jauchzte er. Plötzlich tauchten Soldaten mit Schnellfeuergewehren auf. Sie wirkten, als wären sie aus einem Ego-Shooter entsprungen. Wortlos hoben sie ihre Waffen und eröffneten das Feuer auf Jonte und den Tiger. Ron schrie auf. Er wollte losrennen, um sie daran zu hindern, doch er kam nicht von der Stelle.

Schweißgebadet fuhr er hoch.

Die Zeiger seiner Taschenuhr – ein Erbstück seines Großvaters – standen auf Viertel nach vier. Er konnte beim besten Willen nicht sagen, ob es Nacht oder Nachmittag war. Die Rollos hielten das Außenlicht komplett zurück. Ron stand benommen auf, versuchte, die letzten Traumfetzen abzuschütteln, ging hinüber in das Arbeitszimmer und startete den Rechner.

Die Systemuhr zeigte 04 : 17 – demnach war es früher Morgen. Der vierte Tag seiner Schöpfung begann.

Gute Leistung, dachte er zufrieden. Eine ganze Welt in weniger als einer Woche zu erschaffen, das sollte ihm erst einmal jemand nachmachen. Die Beklemmung des Albtraums fiel endgültig von ihm ab. Er suchte das Bad auf, holte sich einen Kaffee und ging wieder an die Arbeit. Bisher hatte er auf Erfahrungen mit früheren Spielwelten zurückgreifen können. Nun kam etwas Neues für ihn. Sein Sohn hatte sich einen Spielkameraden gewünscht. Es würde also Menschen auf dieser Insel geben – für den Anfang zwar nur einen, aber immerhin. Das war nicht so einfach.

Die Bots, die Ron plante, sollten täuschend echt wirken. Dazu musste er Denkprozesse simulieren, vielleicht sogar eine Art Unterbewusstsein erschaffen, damit die Handlungen und Äußerungen der Figuren nicht allzu vorhersehbar und hölzern erschienen.

Diese Aufgabe faszinierte ihn schon seit seinem Psychologiestudium. Es gab einen dicken Aktenordner mit Entwürfen zu diesem Thema. Bislang hatte er allerdings noch keine Gelegenheit gefunden, sie zu verwirklichen – unter anderem, weil die Rechnerkapazitäten zu seinen Studienzeiten dafür nicht ausgereicht hatten. Mittlerweile aber war das kein Problem mehr. Der durchschnittliche Anwender verfügte heute über Prozessorleistungen, von denen man zehn Jahre zuvor selbst an den Universitäten nicht einmal hatte träumen können.

Er vertiefte sich in seine Arbeit. Der virtuelle Freund, den er für seinen Sohn programmieren wollte, sollte das geistige Niveau eines Schulanfängers bekommen. Das vereinfachte die Sache. Wie in Trance hämmerte Ron Befehle in das System. Das jahrelange Nachdenken kondensierte zu Programmcode. Es floss aus seinen Fingerspitzen in die Tastatur, als hätte alles in ihm nur darauf gewartet, diese Pläne endlich umzusetzen.

Die Türklingel war unangenehm laut.

Ron brauchte einen Augenblick, um das Geräusch einzuordnen, und vergaß es sogleich wieder. Sein Prototyp befand sich bereits im Alphastadium und war fast fertig. Er musste nur noch …

Es klingelte erneut.

Missmutig stand der Programmierer auf und stakste zur Tür. Das stundenlange Sitzen hatte seine Gelenke steif werden lassen. Als er öffnete, sah er einen Mann in brauner Uniform vor sich, der ein großes Paket trug. Ron zuckte unwillkürlich zusammen. Alles wirkte so real.

„Herr Schäfer?“, fragte der Uniformierte. Ron nickte.

„Ich habe eine Lieferung für Sie.“

Der Paketbote scannte den Barcode ein und hielt ihm das Gerät zur Unterschrift entgegen. Ron versuchte den Absender zu erkennen – er konnte sich nicht erinnern, in der letzten Zeit etwas bestellt zu haben. Egal. Name und Anschrift stimmten, es würde wohl alles seine Richtigkeit haben. Er stieß die Tür mit dem Fuß zu, stellte das Paket in den Flur und war mit seinen Gedanken schon wieder bei seinem Projekt.

Der Bot ist gelungen, befand er, als er wieder an seinem Schreibtisch saß. Ein etwa sechs Jahre alter Junge bewegte sich auf dem Monitor und machte sich gerade daran, auf einen der Bäume zu klettern.

Ron griff zur Maus und klickte ein Icon an. Auf der Karibikinsel erschien ein Erwachsener, der ihm selbst ziemlich ähnlich sah. Ron setzte sich ein Headset auf, rückte das Mikrofon zurecht und sprach hinein.

„Hallo Alf!“, sagte der Mann auf dem Bildschirm. Der kleine Junge drehte sich um.

„Wo kommst du denn her?“, fragte er. „Ich habe dich gar nicht kommen hören. Und woher weißt du, wie ich heiße?“

„Ich habe diese Welt erschaffen.“

„Wirklich? Mich auch?“

„Ja, dich auch“, lächelte der Mann.

„Das war aber nett von dir! Du bist ein lieber Gott!“

Ron räusperte sich verlegen und wechselte das Thema. „Gefällt dir die Insel?“, ließ er den Erwachsenen fragen.

 

„Ja, die ist super, aber ich habe noch nicht alles gesehen.“

„Dann schau dich ruhig weiter um. Ich komme später wieder vorbei.“

„Ist gut“, sagte der Junge. „Ich glaube, dahinten sind ein paar Papageien. Da wollte ich gerade hin. Vielleicht können sie ja sprechen!“ Er drehte sich um und lief leichtfüßig über den Sandstrand.

Ron tippte einen Befehl. Prompt öffnete sich ein Feld, in dem unablässig Zahlen- und Buchstabenkombinationen erschienen. Er studierte sie aufmerksam. Nach einiger Zeit nickte er zufrieden.

Es funktioniert. Der Bot lernt. Und das schon im Alpha-Stadium! Er war begeistert. Der erste Testlauf gestaltete sich vielversprechend.

Schlagartig wurde ihm seine Müdigkeit bewusst. Kaum zu glauben, dass schon wieder ein Tag verflogen war.

Er gähnte und betrachtete zufrieden den Bildschirm, auf dem sich allmählich ein Sonnenuntergang entwickelte. Das Panorama war idyllisch. Üppige grüne Pflanzen vor einem sich langsam verdunkelnden Horizont, das Geschrei von tropischen Vögeln und mittendrin ein kleiner Junge, der fröhlich die Insel erkundete. Ein letztes Mal kontrollierte Ron die Logdateien, dann ging er zu Bett.

Als er am nächsten Morgen erwachte, beschloss er, den Tag ganz entspannt anzugehen. Er duschte in Ruhe, zog ein frisches Hemd an und frühstückte ausgiebig. Plötzlich fiel ihm das Paket wieder ein, das am Vortag angekommen war. Neugierig holte er es aus dem Flur. Er stellte es vor sich auf den Tisch, nahm sein Frühstücksmesser und durchtrennte damit die Klebestreifen, die den Pappkarton zusammenhielten. Aus der Öffnung quoll Luftpolsterfolie, die er ungeduldig herauszog. Endlich kam eine mächtige weiße Schachtel zum Vorschein, fast würfelförmig, die Kante etwas länger als sein Unterarm.

Nun ahnte Ron, was er da vor sich hatte. Behutsam hob er die Schachtel aus dem Karton und öffnete sie. Ein mattschwarz glänzender Helm befand sich darin, der an die frühe Geschichte der Raumfahrt erinnerte. Ron spähte in das nun fast leere Paket, entfernte einen Zwischenboden und fand weitere, deutlich kleinere Schachteln. In einer lagen schwarze Handschuhe, die wie die Ausrüstung von Motorradfahrern aussahen, in der nächsten etwas, das er zuerst für ein Paar Stiefel hielt, was sich jedoch beim näheren Hinsehen als eine Art Gamaschen mit Klettverschlüssen herausstellte.

„Clever“, sagte er zu sich selbst, „so passen sie für alle Schuhgrößen!“

Er hatte zwar noch nie etwas von Cyberschuhen gehört, aber ihr Zweck leuchtete ihm sofort ein. Diese Gamaschen würden jede Muskelbewegung der Beine und Füße aufnehmen und in elektronische Impulse umsetzen. Er als Programmierer wiederum konnte sie nutzen, um das Spiel mit dem eigenen Körper zu steuern, anstatt auf die Vermittlung durch Tastatur und Maus angewiesen zu sein.

Anscheinend war diese Ausrüstung bereits eine Generation weiter als der Cyberhelm, den er auf der IFA gesehen hatte. Ihn überkam ein ehrfürchtiges Gefühl.

In der letzten Schachtel fand er eine DVD und ein kleines schwarzes Kästchen, zu dem ein USB-Kabel gehörte. Ron verband das Gerät mit seinem Computer und legte die DVD in die Laufwerksschublade. Mit einem schnarrenden Geräusch fuhr sie in das Computergehäuse zurück.

Er spürte die leichte Erschütterung, als die Silberscheibe im Inneren des Rechners zu rotieren begann, und verfolgte aufmerksam den Installationsprozess auf dem Bildschirm. Klaglos akzeptierte sein Linuxsystem die Treiber. An der schwarzen Box glomm eine blaue LED auf. Der Cyberhelm war betriebsbereit.

Ron legte Gamaschen und Handschuhe an, setzte den Helm auf und atmete geräuschvoll aus. Der Effekt war überwältigend. Er sah das Monitorbild vor sich, als gäbe es nichts anderes mehr auf dieser Welt, und er konnte den Hintergrund seines Desktops in einer Schärfe erkennen, die ihn irritierte. Er hatte gar nicht gewusst, dass es darauf so viele Details zu entdecken gab. Automatisch griff er zur Maus, um X-World aufzurufen. Der Rechner setzte die Handbewegung augenblicklich auf dem Bildschirm um. Ron brauchte keine Maus mehr. Er konnte einfach seine Hand zu dem Icon ausstrecken, das vor ihm in der Luft schwebte. Mit einer sanften Bewegung seines Zeigefingers tippte er es an. Sofort startete das gewünschte Programm.

Es war spektakulär. Ron stand nun inmitten seiner Schöpfung. Er hörte das Plätschern der Wellen, die Schreie der Vögel. Versuchsweise drehte er den Kopf. Die Landschaft bewegte sich synchron vor seinem Auge vorbei. Dann hob er den Fuß und ging einen Schritt vorwärts. Gehorsam wanderte die Ansicht der Insel mit ihm mit. Die Illusion, sich mit dem eigenen Körper durch die virtuelle Welt zu bewegen, war perfekt. Es dauerte einige Zeit, bis er in dem Spiel laufen konnte, ohne gleichzeitig über irgendwelche Gegenstände in seinem Arbeitszimmer zu stolpern. Schließlich fand er heraus, dass die nötigen Bewegungen am besten im Sitzen zu realisieren waren.

Interessiert erkundete er die Insel, die er vor kurzem selbst erschaffen hatte. Aus dieser Perspektive sah alles ganz anders aus. Ron fühlte sich wie ein Abenteurer, der ein unerforschtes Fleckchen Erde auskundschaftete. Er ging ein Stück am Strand entlang und betrachtete nachdenklich die Wellen, die in regelmäßigen Abständen ans Ufer plätscherten. Eine Weile lang blickte er versunken in die Ferne; die Erinnerungen an Urlaube aus längst vergangenen glücklichen Zeiten mischten sich mit dem Anblick, der sich seinem Auge bot. Plötzlich fiel ihm etwas auf. Die Wogen rollten mit der Gleichmäßigkeit eines Metronoms heran.

So geht das nicht!, schalt er sich. Die Wellenparameter brauchten dringend noch eine Zufallskomponente. Vergeblich suchte er in seinen Taschen nach Papier und Kugelschreiber, bis ihm einfiel, wo er sich befand. Daraufhin hob er die Hand und malte eine Doppelschleife in die Luft.

Der strahlend blaue Himmel bekam einen Riss. Eine Art Computerbildschirm erschien, auf dem ein paar Zahlenkolonnen und einige wenige Symbole zu sehen waren. Die Spielesteuerung befand sich noch im Aufbau. Ron griff nach dem Notepad-Icon. Eine Tastatur erschien und schwebte vor ihm in der Luft. Anfangs war es etwas ungewohnt, darauf zu schreiben, weil das Gefühl an den Fingerspitzen fehlte, aber es gelang ihm dennoch problemlos, eine Notiz zu verfassen.

„Wellen: Zufallskomponente einrichten“, schrieb er und speicherte die Notiz als „ToDoList.txt“ ab. Dieselbe Geste, die den Computerbildschirm hervorgebracht hatte, ließ ihn auch verschwinden. Der Himmel war wieder makellos. Ein paar Möwen zogen vorbei.

Der Programmierer wandte sich um und ging auf den Dschungel zu, der kurz hinter dem Strand begann. Die Details der Pflanzen sind mir wirklich gut gelungen, dachte er zufrieden, als er in das grüne Dickicht unterschiedlicher Gewächse eintauchte. Es fehlt eigentlich nur noch ein Gefühlseindruck. Man spürt gar nichts, wenn man einen Zweig zur Seite schiebt. Aber der optische Impuls ist so stark, dass man fast meint, etwas zu spüren.

Ein tiefes Grollen riss ihn aus seinen Überlegungen. Eine Adrenalinwelle jagte durch seinen Körper. Alle Muskeln spannten sich an; uralte Überlebensprogramme, die die Menschen seinerzeit sicher durch die Steinzeit gebracht hatten, aktivierten sich in seinem Inneren. Ron konnte das Pochen seines Herzens bis zum Hals fühlen.

Instinktiv suchte er Deckung hinter einer stattlichen Palme. Vielleicht hatte ihn das Tier noch nicht gewittert. Der Tiger stand etwa 30 Meter von ihm entfernt und sah zu ihm herüber. Ron stockte der Atem. Die Raubkatze sah fantastisch aus. Natürlich wusste er, dass ihm keine Gefahr drohte, schließlich befanden sie sich nur in einem Computerspiel, das er zudem selbst programmiert hatte, und trotzdem. Die Bedrohung wirkte unglaublich real.

Überrascht registrierte Ron, dass sein Gehirn von sich aus fehlende Details beisteuerte. Er meinte, den Wind, der die virtuellen Blätter bewegte, auf der Haut zu spüren, und es schien ihm sogar, als könne er den animalischen Geruch des Tigers riechen. Es war perfekt. Fantasie und Unterbewusstsein arbeiteten Hand in Hand mit den Geräuschen und visuellen Eindrücken, die der Computer lieferte. Sein Kopf schuf daraus eine so überzeugende Illusion, dass er sich immer wieder bewusst machen musste, wo er sich eigentlich befand. Soviel war klar, dieses Spiel würde ein Renner werden.

Der Tiger kam näher und brachte den Programmierer in die virtuelle Wirklichkeit zurück. Wieder spannten sich seine Muskeln reflexartig an, sein Herz begann zu rasen.

„Du musst keine Angst haben, Joey ist ganz lieb!“, rief eine helle Stimme. Ron drehte sich um und sah in ein fröhliches Kindergesicht. Zerzauste blonde Haare, die in verschiedenen Farbtönen spielten, Sommersprossen, strahlend blaue Augen.

„Hast du dem Tiger diesen Namen gegeben?“, fragte er erstaunt. Der Junge nickte stolz.

Ron war mehr als überrascht. Das konnte eigentlich nicht sein. So zufrieden er auch mit sich und seinen Fortschritten im Bereich der künstlichen Intelligenz war – dass ein Bot einer anderen Kreatur selbstständig einen Namen gab, reichte weit über das hinaus, was er erwartet hatte. Das war eine enorme Leistung, die Vernunft, ja, Bewusstsein voraussetzte.

„Wie bist du auf diesen Namen gekommen?“

„Keine Ahnung“, antwortete der Junge treuherzig. „Ich wusste einfach, dass er so heißen sollte, und Joey hat sofort auf seinen Namen gehört. Du kannst ruhig dichter herangehen, er tut nichts!“

Ron ging ein paar zaghafte Schritte auf das Raubtier zu.

Dies war eine neue Erfahrung für ihn. Alles, was er bislang kannte, war die Perspektive des Zoobesuchers, dem dicke Metallgitter Sicherheit bieten. Aber hier gab es keine Barriere zwischen Mensch und Tier, und Ron wusste, dass er nicht den Hauch einer Chance hätte, wenn es dem Tiger einfallen sollte, ihn als Beute auszuwählen.

„Es ist alles nur virtuell!“, rief der Programmierer sich zur Ordnung. Er trat noch einen Schritt näher und hob die Hand, um das Fell des Tigers zu berühren. Plötzlich spürte er ein unangenehmes Vibrieren an seinem rechten Bein. Er zuckte zusammen. Ebenso unvermittelt, wie es gekommen war, verschwand das Vibrieren wieder, nur um Sekunden später erneut seine Beinmuskeln zum Pulsieren zu bringen.