Heiteres Wetter zur Hochzeit

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Heiteres Wetter zur Hochzeit
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Julia Strachey

Heiteres Wetter zur Hochzeit

Roman

Aus dem Englischen von Nicole Seifert

Mit einem Nachwort von Frances Partridge

DÖRLEMANN

Die englische Originalausgabe »Cheerful Weather for the Wedding« erschien 1932 bei The Hogarth Press, London.

Der Text folgt der Ausgabe von Persephone Books Ltd 2002.


Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

© The Estate of Julia Strachey

Nachwort © Frances Partridge 2002

© 2021 Dörlemann Verlag AG, Zürich

Umschlaggestaltung: Mike Bierwolf unter Verwendung des Gemäldes Finishing Touches, 1939 (oil on canvas) von Laura Knight, © Christie’s Images / Bridgeman Images

Gemälde auf Seite 5: Dora Carrington, Portrait of Julia Strachey, 1925 (oil on canvas)

Satz und eBook-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN: 978-3-908778-83-7

www.doerlemann.com

Inhalt

  Cover

  Titelei und Impressum

  Porträt

  I

  II

  III

  IV

  V

  VI

  VII

  Nachwort

  Zur Autorin und zu ihrer Übersetzerin

  Zum Buch


Julia Strachey

I

Am fünften März verheiratete Mrs Thatcham, eine bürgerliche Witwe, ihre älteste Tochter Dolly, die dreiundzwanzig Jahre alt war, mit dem Ehrenwerten Owen Bigham. Er war acht Jahre älter als sie und im diplomatischen Dienst.

Die Verlobungszeit war kurz gewesen, so wie es sein sollte – nur einen Monat, aber Owen wurde Ende März in Südamerika erwartet, um dort für mehrere Jahre einen Posten anzutreten, und Dolly hatte eingewilligt, zu heiraten und mit ihm zu kommen.

Owen und Dolly heirateten auf dem Land im Haus der Thatchams. (Owens Eltern hatten in diesem Teil der Welt ebenfalls ein Haus – auf der anderen Seite der Bucht von Malton.)

Am Morgen der Hochzeit war es grau und kalt.

Es traf sich, dass Dolly um fünf Minuten nach neun auf dem Weg zum Frühstück im Salon mit Millman zusammenstieß, dem Zimmermädchen mittleren Alters.

»Tut mir leid, Millman.«

»Macht gar nichts, Miss. Schauen Sie mal, das hier hat Lily gefunden, es klemmte hinter einer Schublade Ihrer Kommode, die im alten Kinderzimmer stand.«

Millman hielt Dolly eine quadratische blaue Ledertasche hin, etwas streifig und vergilbt und mit herabhängendem Lederriemen.

»Sie muss seit letztem Sommer dort gesteckt haben, Miss, als Sie Ihre ganzen Sachen ausgeräumt haben, wissen Sie noch? Die Kommode wurde auf den Dachboden geräumt.«

»Du meine Güte, Millman. Bestimmt sind da alle möglichen Schätze drin. Hunderte verlorener Schecks, meine Brosche, vielleicht sogar der blöde goldene Fingerhut von der Köchin, den ich verloren habe.«

»Dann schauen Sie mal nach, Miss. Ich hoffe jedenfalls, dass Sie das ganze Zeug dort finden!«

Millman lachte fröhlich und verließ den Salon.

Dolly setzte sich an den kleinen Schreibtisch, neben dem sie gestanden hatte, und öffnete die Tasche. Sie war so gut wie leer. Außer einem Bodensatz aus grauen Flusen und so etwas wie Kekskrümeln war da nur ein rosa Busfahrschein und ein zusammengefalteter alter Briefumschlag mit der Handschrift ihrer Mutter darauf. Sie öffnete den Umschlag und nahm den Brief ihrer Mutter heraus. Er war auf den letzten Juli datiert, und die Adresse auf dem Briefkopf war die ihres Cousins Bob in Hadley Hill. (Bobs Titel lautete Kanonikus Dakin. Da Dollys Vater tot war und sie keinen Onkel hatte, würde er sie heute Nachmittag zum Altar führen.)

Dolly betrachtete den Brief. Er sah genauso aus wie alle anderen Briefe ihrer Mutter.

Sie lächelte und begann den Brief zu lesen: »Deine Tante B. hatte bei uns ein grässlich nasses Wo-ende, aber K. und Ch. und Mr F. und P. haben ihr alle beim Formulieren ihrer Karten für das M.W.O.S. nächsten Sa. geholfen und wir waren eine fröhliche fleißige kleine Runde. Würdest Du den beigelegten P.C. ausfüllen, ihn L. schicken und sie wissen lassen, ob Du die Adresse, die Du haben wolltest und die sie Dir geschickt hat, inzwischen bekommen hast? Ich war heute mit ihr Mittag essen und sie macht sich furchtbare Sorgen, dass sie nie bei Dir angekommen ist, weil Du ihr nicht geschrieben und Dich bedankt hast. Heute sind wir runter zu Bob gefahren, um ihn in seinem neuen Haus in Hadley zu besuchen – So ein heiteres kleines Haus ganz oben auf dem H. Hill; vielleicht etwas zugig, aber für gutes Wetter ein ganz fröhlicher, behaglicher kleiner Ort! Die vielen Blumen sehen so vergnügt aus, und man hat so einen hübschen Blick auf die kleine alte angelsächsische Kirche. Wir sind hier 5 Meilen von Dinsbury entfernt, 7 ½ von Churton« [»Jetzt geht es los«, dachte Dolly], »nur 10 von Great Broddington (8 von Little Broddington) und 15 von Bell-Hill. C. und M. sind aus L. gekommen, P. und W. McGr auch, und wir haben eine schöne Ausfahrt mit dem M. gemacht. Wenn man von hier aus die Dinsbury Road nimmt, sich bei Tiggicombe links hält, die Straße nach London und Hadley überquert und sich immer rechts hält, kommt man nach Wogsbottom, das nur 2 ½ Meilen von Crockdalton entfernt liegt (und nicht mehr als 3 von Pegworth) …« Dolly übersprang eine halbe Seite und las unten weiter: »Für Bob ist es eine solche Plage, dass ›K‹ so viel trinkt – ich höre so fürchterliche Geschichten über ihn. Natürlich erscheint mir all das vor allem bedauerlich! Wie seltsam von ihm! Bei so aufopferungsvollen Eltern …« Dolly sah von dem Brief auf. Sie schien in eine Art Trance zu fallen – vielleicht, weil sie an ihren trunksüchtigen Cousin gedacht hatte, ›K‹, wie ihre Mutter ihn nannte, der oft zu Besuch gewesen war, als sie noch Kinder waren; aber vielleicht auch, weil sie an die Straße nach London und Hadley gedacht hatte.

Über dem Schreibtisch, an dem Dolly saß, hing ein alter Spiegel.

Dieser Spiegel war mit Hunderten rostiger kleiner Flecken übersät, und das Quecksilber dahinter war im Laufe der Zeit schwarz geworden, und reflektiert in diesem leichenhaften Gesicht schien der Salon stets in einem unheimlichen, tot wirkenden, metallischen Zwielicht zu schwimmen, wie man es in der tatsächlichen Welt draußen nie erlebte. Dies hatte eine seltsame Wirkung:

Es war, als erschiene der Salon in diesem Spiegel wie ein vertrautes Zimmer im Traum, geisterhaft, aufgeladen mit Bedeutung und frei von allen Anzeichen alltäglichen, trivialen Lebens. Zwei schmale Bücher, quer übereinanderliegend, die runde Oberfläche eines Tisches, der geschnitzte Kopf einer Eidechse auf einer Uhr, die Sitzfläche des Sofas und die Lehnen beschienen vom grauen Licht des Himmels; alles andere lag im Schatten. Die transparenten Farne, die dicht an dicht im Fenster standen, leuchteten hell und sahen furchterregend aus. Sie schienen gewissermaßen zum Leben erweckt worden zu sein. Sie wirkten, als hätten sie just in jenem Moment ihre langen Rücken gestreckt, ihre gezackten und schartigen Körper drohend gekrümmt, sich fest miteinander verschlungen und verknotet und züngelten nun mit gespaltenen Zungen; und all das, als stünden sie unter irgendeinem schrecklichen Zwang … es erinnerte an Reisebeschreibungen aus dem kongolesischen Dschungel … an den stillen Kampf und das Strangulieren, aus dem das vegetative Leben dort offenbar bestand.

Um das Bild zu vervollständigen, schimmerte Dollys weißes Gesicht mit seinen vollen, stark geschwungenen Lippen über dem schwarz gesprenkelten Wollkleid vor den Farnen blass wie eine phosphoreszierende Orchidee, die einsam im halbdunklen Sumpf blüht.

Fünf oder sechs Minuten lang verharrte die blasse und leuchtende Orchidee reglos im Zentrum der dunklen Oberfläche des Spiegels. Das Seltsame war die Art, wie der Blick rastlos schweifte, den ganzen Raum absuchte, immer und immer wieder im Kreis … Es sah eigenartig aus – das Gesicht so passiv und scheinbar weit weg, und die Augen so rastlos.

Vielleicht erwischte das Licht die gespiegelten Augen in einem seltsamen Winkel, wodurch sie so unangenehm glänzten, beinahe wild – verantwortungslos –, wie die glänzenden Augen einer Kranken, die erschöpft ist und fiebert.

»Ich weiß nicht, was die Mädchen sich heute Morgen denken – Viertel nach neun und das Frühstück ist noch nicht fertig! So verzögern sich doch auch alle anderen Mahlzeiten – wie seltsam von ihnen!«, rief Mrs Thatcham, die hinter Dollys Rücken den Raum betreten hatte und nun von einem Sessel zum anderen lief, um den Kissen einen Schlag zu versetzen und sie dann aufzuschütteln. Ihr Tonfall war der kalten Staunens, ihre weit aufgerissenen Augen funkelten wie Gletscher.

 

»Lauf lieber schnell zur Köchin, damit du wenigstens Frühstück bekommst, liebes Kind. Sonst schaffen wir es nie, dass du rechtzeitig fertig bist … Nun lauf schon, liebes Kind.«

Dolly warf Brief, Busfahrschein und Ledertasche in den Papierkorb und machte sich auf den Weg ins Frühstückszimmer.

Mrs Thatcham blieb noch ein paar Minuten, eilte auf ihren kleinen Füßen durch das Zimmer, brach tote Narzissen aus den Vasen, zog Vorhänge weiter auf, andere weiter zu, kratzte mit der Spitze ihres kleinen Schuhs am Teppich, wo sich ein Fleck zeigte. All das wie üblich mit einem scharfen, besorgten Ausdruck auf dem langen Gesicht – als hätte sie versehentlich eine Schachtel lebendiger Hummeln verschluckt und spüre nun langsam, wie sie sich in ihrem Inneren rührten. Sie blieb stehen und sah auf die Uhr.

»Ich begreife es einfach nicht!«, stieß sie hervor.

Schnell verließ sie den Salon und trabte in Richtung Küche.

II

Der lange Saal auf der Rückseite des Hauses der Thatchams, in dem die Familie für gewöhnlich saß, war um zwölf Uhr in strahlendes Sonnenlicht getaucht. Gleichzeitig war ein heulender Sturm aufgezogen, wie üblich, denn das Haus stand oben auf den Klippen. Die Hochzeit sollte um zwei Uhr stattfinden (die Kirche befand sich gleich hinter der Gartenmauer, was praktisch war).

Sonnenlicht fiel in blendenden Rechtecken durch die Fenster auf die verblichenen Glyzinien der Cretonne-Sofas und -Sessel und ließ das auf Böcken stehende indische Messingtablett aufleuchten, auf dem sich Zeitschriften und Bibliotheksbücher stapelten. Den gelben Glanz reflektierten silberne Fotorahmen und maurische Brieföffner und die neben dem Klavier hängende weiß-braune serbische Stickerei. Das Licht des Kaminfeuers verblasste dagegen – die Flammen waren in all diesem Glanz kaum zu sehen.

Mrs Thatcham hatte in diesem Raum immer eine große Zahl Topfpflanzen stehen, Narzissen, Fuchsien, Hortensien, Alpenveilchen. Heute stand auf einem Tisch in der Nähe des Feuers zusätzlich ein geballtes Gebirge aus Hyazinthen aller Art in Rosa, Rot und einem verwaschenen Mauve; durch das Fenster fiel stahlblaues Frühlingslicht, das jedes der schmalen wächsernen Blütenblätter schillern ließ.

Auf dem Sofa lag der Länge nach ausgestreckt ein dreizehnjähriger Cousin der Braut – der schwarzhaarige Robert – und las in der Zeitschrift The Captain. Robert hatte Augen, die glänzten wie zwei ölig schwarze Backpflaumen, und die Gesichtsfarbe eines dunkelroten Pfirsichs.

Vor der Treppe ging Tom, sein älterer Bruder, auf und ab, sein Schritt hatte etwas Wichtigtuerisches und irgendwie Unheimliches an sich.

Tom war blond und hübsch anzusehen, aber nun quollen seine kobaltblauen Augen aus seinem Kopf wie die eines Ochsenfroschs.

Beiden Jungen waren die Haare so glatt wie Satin gebürstet worden, und beide hatten sich umgezogen und trugen für die Hochzeit makellose schwarze Jacketts.

»Robert.«

Es war, als wäre plötzlich eine große Blase vom Boden eines dunklen Wasserbehälters emporgestiegen und an der Oberfläche dumpf und hohl zerplatzt – nichts an Toms schleichender Gestalt wies darauf hin, dass er es war, der gesprochen hatte.

»Robert.« (Eine weitere Blase platzte dumpf und hohl.)

»Robert. Robert.« Die ganze Zeit schlich Tom weiter hin und her.

»Robert.« Jetzt kam das Wort leise von hinter der Sofalehne, wohin Tom, von seinem jüngeren Bruder unbemerkt, geschlichen war.

»Robert«, wiederholte Tom. »Robert. Ich sage, Robert. Robert. Robert.«

Tom beugte sich über die Sofalehne und sang leise, jedes Wort einzeln betonend, wie es Hypnotiseure tun:

»DEINE MUTTER WÜRDE ZWEIFELLOS WOLLEN, DASS DU DICH NACH OBEN BEGIBST, ROBERT, ZUM ZWECKE, DIESE UNMÖGLICHEN SOCKEN ZU WECHSELN.«

Der Patient zeigte kein Lebenszeichen.

»WECHSLE DEINE SOCKEN, ROBERT. NUTZE DIE ABWESENHEIT DEINER MUTTER NICHT AUS, UM HIER DEN SCHURKEN ZU MARKIEREN, ROBERT.«

Roberts schwarze Schuhe ragten über Kreuz über eine Armlehne des Sofas, und zwischen den Schuhen und der Hose enthüllte sich ein smaragdgrüner Schimmer.

»Robert. Robert. Robert.«

Robert warf The Captain auf den Boden, fuhr herum und schrie Tom an: »Halt endlich den Mund, blöder Idiot!« Seine Stimme war tränenerstickt. »Wer gibt dir das Recht, mich so zu quälen? Du bist ein teuflischer, verdammter Quälgeist! …« Er langte nach seiner Zeitschrift und las weiter.

Eine Minute lang herrschte Schweigen. Dann sagte Tom munter:

»Robert, deine Mutter würde wollen, dass du sofort nach oben gehst, um diese Kindersocken aus- und ordentliche anzuziehen, Robert. Gehst du jetzt, Robert?«

»Was zum Teufel meinst du? Ich habe gerade ordentliche Socken angezogen!«, schrie Robert, fuchtelte mit der Zeitschrift vor seinem Gesicht herum und fügte hinzu: »Hau ab und steck deinen Kopf in eine Tüte.«

Er schluckte und las weiter.

»DAS SIND BEI EINER HOCHZEIT KEINE ANGEMESSENEN SOCKEN FÜR EINEN GENTLEMAN«, sagte Tom und beugte sich über das Sofa.

»Hau ab und steck deinen Kopf in eine Tüte«, murmelte Robert.

Tom entfernte sich langsam über den federnden Teppich.

»Würdest du deine Mutter warten la–«

»Jetzt hau endlich ab und steck deinen Kopf in eine Tüte!«, sagte Robert.

In diesem Moment war von oberhalb der Treppe der schrille Schrei einer Frau zu hören.

»Lily! Lauf schnell, Lily, los! Lauf schon! Lauf!«

Jemand klapperte die Treppe herunter.

»Lauf sofort ins Nähzimmer und sag Rose, dass sie die Brosche für mich suchen muss, ich brauche sie in fünf Minuten!« Kitty, Dollys jüngere Schwester, stürmte in den Saal.

Sie war ein großes, kräftiges Mädchen von siebzehn Jahren; ihre Hände, die aus den zarten gelben Gaze-Ärmeln ihres Brautjungfernkleids hervorsahen, waren rot und geschwollen, vielleicht vor Kälte, und erinnerten an rohe Fleischstücke. Die kalte Haut von Kittys großem Gesicht war so dick mit Reispuder bedeckt und dann auch noch so stark mit Rouge, dass es beinahe aussah, als trüge sie eine Maske aus fliederfarbenem Löschpapier, mit roten Tintenflecken auf jeder Wange.

»Oh, Tom, oje, oje, ich weiß, du denkst, dass ich in meinem Kleid und mit dem Blumenkranz vollkommen und unsagbar dumm und absolut entsetzlich und fürchterlich aussehe«, rief sie aus und ging zum Spiegel.

»Überhaupt nicht. Im Gegenteil, ganz bezaubernd«, sagte Tom mit einer steifen Verbeugung.

»Denkst du wohl! Wohl! Ich weiß es doch. Warum würdest du dich sonst so komisch verbeugen? LILY!«, schrie sie plötzlich laut. »Bring mir jetzt sofort diese Brosche! Alle sind schon umgezogen und zum Essen fertig!«

Eine weit entfernte Stimme kam die Treppe heruntergesegelt: »Ich kann sie nicht finden, Miss …«

»Kannst du wohl!«, donnerte Kitty. »Ich sage doch, geh zu Rose; sei nicht so eine Eule!«

»Wirklich, Kitty, das ist ja nicht auszuhalten!«, sagte eine Stimme hinter der Tür zum Salon. »Kannst du nicht vielleicht hochgehen und dort mit ihnen reden?«

Im Türrahmen erschien lächelnd eine adrette junge Dame. Es war die kleine Evelyn Graham, eine Schulkameradin und Busenfreundin der Braut. Über ihrem gelben Brautjungfernkleid trug sie eine graue Jacke aus Eichhörnchenfell, und ihr Gesicht steckte bis zu den Ohren in einem flauschigen Wollschal. Ihre schmalen grünen Augen tanzten und glänzten, und alle Farben des Regenbogens schienen sich in ihnen zu spiegeln.

»B-r-r-r-r-r, ich bin mehr tot als lebendig!«, sagte sie mit Grausen in der Stimme und ging zum Kamin. Sie rieb ihre schmalen Hände schnell aneinander, kniete dann nieder und hielt sie über das Feuer.

»Du bist wie ein eleganter kleiner Schmetterling«, sagte Kitty, die sie mit leidenschaftlichem Blick beobachtete und dabei die Kurbel des Grammofons drehte. »Ich wünschte, ich wäre so schick und intellektuell wie du! Du denkst bestimmt, ich sehe in meinem Brautjungfernkleid aus wie ein unbeholfenes großes dummköpfiges Nashorn, ich weiß es genau! Oh, bitte sag nichts dazu, bitte! Ich flehe dich an!«

»Ach, so ein Unsinn, Liebes«, sagte Evelyn. »Wie es wohl erst wird, in dieser zugigen Kirche zu stehen! – Ohne Mantel! Mit einem triefend nassen Blumenstrauß in der Hand! Diese bizarren alten Bräuche sind letztlich kein Vergnügen.«

»Bizarre alte … also … wirklich … Evelyn!«, sagte Kitty schockiert. »Wenn du selbst heiratest, wirst du schon sehen! Dann redest du ganz anders … du wirst eine ganz wunderbare Mutter, das weiß ich. Dolly auch – egal, was ihr beiden jetzt sagt …«

»Ach, Liebes …«, sagte Evelyn. »Du meine Güte, was ist das denn?«

Aus dem Schlund des Grammofons kam plötzlich ein metallisches Pfeifen, das anhielt und schließlich die Gestalt einer tändelnden kleinen Melodie annnahm. Gleichzeitig schienen in dem Gerät übelgelaunte Tiger zu fauchen und eine Hyäne leise zu lachen.

Kitty zog ihr gelbes Gaze-Cape eng um die Hüften und schoss mal hierhin, mal dorthin und im Handumdrehen wieder zurück und so in einer Art Tanz durch den ganzen Saal, die Schultern bis zu den Ohren hochgezogen. Der Tanz, den sie zum Besten gab, war offenbar eine Mischung aus einem schottischen Reel und einem verträumten Walzer, denn obwohl ihre Beine wie gespaltene Blitze über den Boden rasten, schien ihr sich gemächlich drehender Oberkörper beständig rundherum zu gleiten.

»Um Himmels willen, hör auf, Kitty!«, rief Robert vom Sofa aus und starrte seine Cousine mit seinen glänzend braunen Kuhaugen an. »Mir wird ganz schwindelig!«

»Lily!«, kreischte Kitty aus voller Kehle und stellte mit einem letzten Zucken das Grammofon ab. »Bring … mir … sofort … die … Brosche … runter!«

Die drei anderen schrien auf und hielten sich die Ohren zu.

Die Glastür zum Garten knarzte und flog auf. Ein gewaltiger Sturm raste durch den ganzen Raum. Vorhänge sprangen in die Höhe und beinahe von ihren Stangen. Unter der Türritze drang ein langer, anhaltender, durchdringender Klageton hindurch, der allen mit einem Gefühl dunkler Vorahnung das Herz in der Brust gefrieren ließ.

Der große Teppich hob das Haupt und wellte sich wie eine wütende Seeschlange einmal sacht über die gesamte Länge.

»Mille diables«, murmelte die kleine Evelyn, verzog ihren Mund zu einer dämonischen Grimasse und stellte den Kragen ihrer Jacke auf.

Mrs Thatcham kam herein und schloss hinter sich die Tür, einen groben roten Umhang über ihrer Festtagsrobe aus Satin. »Die Schildkröte hat sich wieder blicken lassen«, sagte sie und wischte ihre kleinen Füße eilig an der Fußmatte ab. »Vermutlich möchte sie sich von Dolly verabschieden. Sicher wird sie die Schildkröte genauso vermissen wie uns.« Irgendwo im Flur schlug eine Tür zu.

»Ganz bestimmt sogar«, sagte Evelyn.

Die Schildkröte war Dolly im Sommer zuvor von einem jungen Freund geschenkt worden – Joseph Patten (ein Student der Anthropologie an irgendeinem Londoner College).

Wie es der Zufall wollte, saß Joseph in genau diesem Moment allein im Nebenzimmer. Er war für diesen Tag aus London gekommen.

»Schon halb eins!«, sagte Mrs Thatcham. Sie sah sich mit ihren glasklaren, orangefarbenen Augen im Saal um. »Ist Dolly schon nach oben gegangen, um sich umzuziehen?«, fragte sie Kitty mit wildem Blick.

»Sie ist schon seit Ewigkeiten oben, Mum«, sagte Kitty und zupfte vor dem Spiegel geschäftig an ihrem Blumenkranz herum. »Mum, sehe ich in diesem Aufzug nicht wirklich zu dumm aus?«, fragte sie.

»Die Hälfte der Familie ist noch gar nicht hier, und um zwei ist die Hochzeit!«, sagte Mrs Thatcham. »Die, die da sind, gehen besser hoch und essen was. Ich habe Millman gesagt, sie soll im Kinderzimmer einen kalten Imbiss servieren, nur für die Familie.« Sie trippelte Richtung Fenster, öffnete die Chintzvorhänge und schüttelte die Kissen auf den Fensterbänken auf.

»Ach, so ein schöner Tag für Dollys Hochzeit! Alles sieht so hübsch und heiter aus, der Garten wirkt so fröhlich. Man kann bis Malton Downs sehen!« Eilig lief sie zur Tür, die hinter dem Sofa in die Bibliothek führte.

»Was ist denn das?«, rief sie bestürzt. Sie hatte die Tür geöffnet, hinter der auf einem langen Tisch Teller mit kleinen Schnitzeln in blasser Sülze standen, große Salatschüsseln, Weißweinflaschen, stapelweise Sandwiches und so weiter. »Ach! Dann hat Millman den Imbiss hier gedeckt!«, rief sie aus.

 

Es herrschte Stille. Mrs Thatcham starrte die Schnitzel und Sandwiches kühl an.

»Was für eine Enttäuschung!«, sagte sie. »Millman ist wirklich ein seltsames Wesen. Wie kommt sie nur darauf! Wo ich doch extra gesagt habe, im Kinderzimmer … und dass die Bibliothek frei bleiben soll … wie äußerst seltsam von ihr!«

»Das ist ganz und gar nicht seltsam, Mum, wenn man bedenkt, dass ich genau gehört habe, wie du gestern zu ihr gesagt hast, sie soll das kalte Mittagessen auf jeden Fall in der Bibliothek servieren, damit im Kinderzimmer heute kein Feuer gemacht werden muss.«

»Oh nein, liebes Kind. Da irrst du dich, das versichere ich dir«, sagte ihre Mutter schnell. »Ich habe extra gesagt, im Kinderzimmer … Wie auch immer, wenn nun mal hier gedeckt ist … Robert, du liebe Güte! Diese Schuhe machen sich auf meinen schönen Sofabezügen nicht besonders gut. … Komm jetzt, lass uns was essen, Kind, du wirst noch krank da, kopfüber vor dem prasselnden Feuer. The Captain – ist das eine gute Zeitschrift? Ich dachte eigentlich, deiner Mutter ist es nicht so lieb, wenn du in den Ferien Zeitschriften liest …«

Robert kam aus der Schräglage und folgte Mrs Thatcham in die Bibliothek. Tom sah ihn verschwinden, machte drei Schritte und hielt ihn am Ellbogen fest, als er gerade durch den Türrahmen ging.

»Mein lieber Junge, dir bleibt nichts anderes übrig, du musst hochgehen und andere Socken anziehen! Stell dir doch nur mal vor, lieber Freund, zur Zeremonie käme noch jemand anders vom Rugby! Das kann durchaus passieren, weißt du!«

Robert versuchte sich von Tom zu befreien, aber der verstärkte seinen Griff nur.

»Und überleg mal, was dieser Jemand sagen würde, wenn wieder Schule ist, Robert! Es wird natürlich überall darüber geredet werden. Es ist furchtbar! Furchtbar!« Er schüttelte Roberts Ellbogen. »Jetzt geh um Himmels willen und zieh dich um, bevor es zu spät ist«, zischte er durch zusammengebissene Zähne.

»Diese Socken sind wunderbar, mein lieber Junge. Mir ist vollkommen schleierhaft, wovon du redest«, sagte Robert. »Geh und steck deinen Kopf in eine Tüte.«

Robert schüttelte ihn ab und steuerte den Mittagstisch an.

Im stillen Salon, der vom Flur abging, saß Joseph Patten weiterhin allein.

Das vom Wintergarten mit seinen Unmengen von Farnen in Drahtgestellen gefilterte Licht hatte sich hier in ein leuchtendes Grün verwandelt.

Joseph hätte eine Statue aus irgendeinem grünen Stein sein können, der man einen Tweedanzug angezogen und die man auf das Sofa gesetzt hatte – so bewegungslos und so grün waren sein helles Haar, Gesicht, Mund, Augen, Handgelenke und Hände.

Auf dem Weg ins Esszimmer, aus dem sie die Roggenkekse ihrer Mutter holen wollte, schwebte Kitty in den Salon.

Joseph bekam im Vorbeigehen ihr gelbes Gaze-Cape zu fassen. »Ist Dolly denn immer noch nicht so weit, dass sie runterkommen kann?«, fragte er zum sechsten Mal an diesem Vormittag.

»Ich weiß es nicht; bestimmt«, sagte Kitty und schwebte durch das trübe Licht davon.

Joseph ging in den großen Saal, blieb dicht vor der Glastür stehen, die auf die Terrasse und in den Garten führte, und sah hinaus.

Die kleine Evelyn Graham legte eine Zeitschrift, die sie sich angesehen hatte, auf den Messingtisch und ging zu ihm.

Der ganze Garten wurde von messingartigem, gelbem Licht überflutet. Die Zweige der Sträucher schwangen in einem wirklich wilden Wind gewaltig hin und her. Die federnbesetzten Halme eines Pampasgras-Busches direkt vor der Tür strebten in alle Richtungen. Flach wie ein Pfannkuchen wurde der Busch auf seltsame Weise auf die Kiesterrasse gedrückt, es sah unnatürlich aus, als säße ein schwerer, unsichtbarer Mensch darauf.

Olete lõpetanud tasuta lõigu lugemise. Kas soovite edasi lugeda?