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Papilio

1  Titel Seite

Jürgen Augst
Papilio
Frank Richter gewidmet ✝

Impressum:

Texte: © Copyright by Jürgen Augst 2020

Verlag: Jürgen Augst

Umschlag: © Copyright by Jürgen Augst 2020

Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Und wenn Freiheit und Gerechtigkeit in Ewigkeit nichts als eine schöne Morgenröte wäre, so will ich lieber mit der Morgenröte sterben, als den glühenden, ehernen Himmel der blinden Despotie über meinem Schädel brennen lassen.

Seume (1, 436), Apokryphen

Ich bin wie eine Fahne von Fernen umgeben.

Ich ahne die Winde, die kommen, und muss sie leben, während die Dinge unten sich noch nicht rühren:

die Türen schließen noch sanft, und in den Kaminen ist Stille;

die Fenster zittern noch nicht, und der Staub ist noch schwer.

Da weiß ich die Stürme schon und bin erregt wie das Meer. Und breite mich aus und falle in mich hinein und werfe mich ab und bin ganz allein in dem großen Sturm.

Rainer Maria Rilke

Ein authentischer und fesselnder Roman eines Zeitzeugen, der eindrucksvoll schildert, welche Dinge unsinniges Machtstreben Menschen tun lässt. Dieses Buch ist Aufklärung und Mahnung zugleich. Ein Schmetterling steht für die Hoffnung, dass sich in den Köpfen und Herzen der Menschen eines Tages eine Wandlung vollziehen kann.

Philomena Franz

Überlebende der KZ´s Auschwitz und Ravensbrück

Bundesverdienstkreuzträgerin

Frau Europas 2001

Vorwort des Autors

Unsere Zeit ist geprägt von Machtstreben, religiösem Wahn, Hunger, Korruption, der Ausbeutung natürlicher Ressourcen und Krankheiten, wie Ebola oder andere Seuchen. Menschen fliehen vor dem Krieg oder verlassen ihre Heimat für die winzige Hoffnung auf ein besseres Leben. Meistens geschieht das fern unserer Zivilisation. Doch ist dem wirklich so? Wir fühlen uns sicher, sind behütet durch Sozialsysteme, in einem Land, in dem seit 60 Jahren Frieden und Demokratie unser Leben bestimmen. Welch ein Glück wir doch haben. Glück aber will täglich neu erarbeitet werden. Glück bedarf auch der Erinnerung. Der Erinnerung, dass wir auch einmal auf der anderen Seite standen.

Sorglos aufwachsen und selbst bestimmen können, was aus uns wird. Im wahrsten Sinne des Wortes "seines Glückes Schmied" sein zu dürfen, war für viele Menschen im geteilten Deutschland ein Herzenswunsch, der sich nicht erfüllen ließ. Das andere Deutschland wurde von einer Diktatur beherrscht, und dort hatte der freie Wille keinen Platz. Für viele kaum vorstellbar. In dieser Zeit wuchs ich auf, ein Kind und jugendlicher Teen relativ unbeschwert .

Mit zunehmendem Alter habe ich mich gefragt, warum geschieht "Dieses" und "Jenes"? Je mehr Fragen sich auftürmten, desto weniger befriedigend waren die Antworten, die ich fand.

Immer häufiger hatte ich mit Widersprüchen zu kämpfen, zwischen dem, was offizielle Meinung war und der erlebten Realität. Daraus folgte letztendlich der Entschluss etwas für mich zu ändern. Die einzige Möglichkeit, die ich damals sah, war die der Flucht. Die Flucht vor der Diktatur der DDR. Ich hatte keine Ahnung, auf was ich mich da einließ. Vielleicht war das gut so, denn hätte ich es gewusst...

In diesem Roman werden sie Kapitel vorfinden, die nichts für schwache Nerven sind. Erlebnisse, die, ins Gedächtnis gerufen, meiner Vergangenheitsbewältigung dienten.

Jürgen Augst

Prolog

Von der Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 bis in den Juni 1990 verließen über 3,8 Millionen Menschen den Staat, davon viele illegal und unter großer Gefahr. Die Freizügigkeit war für Bürger der DDR stark eingeschränkt.

Für viele Ausreisewillige blieb angesichts der fast undurchdringlichen Sperranlagen nur die Möglichkeit, die Flucht über ein Drittland zu wagen. Die Chancen waren aber kaum besser. Wer Pech hatte, der geriet vom Regen in die Traufe. Besonders hart traf es Flüchtlinge, die ihr Glück über Rumänien versuchten. Die dort mit besonderer Brutalität wütende Securitate galt als die schärfste Geheimpolizei nach der Gestapo. Bekannt wurden ihre Gräueltaten erst nach dem Sturz des Diktators Ceausescu.

Die Aufarbeitung der Machenschaften und Verbrechen der Securitate erfolgte in Rumänien bisher recht unbefriedigend für die Opfer, wenngleich intensivere Bemühungen in den letzten Jahren nicht zu verkennen sind. Dies wirkt sich auch auf die Lage und die Handlungsmöglichkeiten der in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Opfer der politischen Polizei Rumäniens aus. Ihnen sind ihre Akten, wenn überhaupt, erst in den letzten Jahren zugänglich gemacht geworden Vor diesem Hintergrund wird der Leser in eine Zeit versetzt, in der 30 Jahre nach Ende der Nazi–Diktatur immer noch Menschen verachtende Mechanismen funktionieren.

Das Verhör

Ich habe Angst. Gottverdammte Angst, hier zu verrecken. Es stinkt fürchterlich. Fremder und mein eigener Dreck klebt im und über dem Loch in der Ecke. Ich habe das Gefühl, ständig kotzen zu müssen. Mir ist kalt und ich spüre jeden Knochen in mir. Schlafen, ich will endlich schlafen, aber das Durcheinander in meinem Kopf lässt mich nicht.

Immer wieder frage ich mich, wie es weitergehen soll und finde keine Antwort. Ich habe Durst. Am Boden neben der Liege steht eine Plastiktasse. Ich hebe sie an und muss feststellen, dass sie leer ist. Kurz bevor das Licht ausgegangen ist, habe ich alles ausgetrunken und jetzt ärgere ich mich darüber. Nun muss ich wieder warten, bis sie mit ihrem entsetzlichen Geschrei das Tagesmahl bringen: einen dunklen und dickflüssigen Brei mit rotbraunen Bohnen, ein faustgroßes Stück Maisbrot und die Plastiktasse mit Tee. Wie oft ich das Zeug schon heruntergewürgt habe, weiß ich nicht mehr.

Sind es Tage oder Wochen, die ich bereits hier bin? Zu lange. Warten, immer nur warten. Das ist ihre Taktik. Was haben die mit mir vor? Die Ungewissheit zerreißt mich. Wann werden die mich endlich holen, damit ich es hinter mir habe?

Gespannt lausche ich auf jedes Geräusch außerhalb meiner Zelle. Die Schreie und das ständige Stöhnen der armen Schweine von Mitgefangenen halte ich kaum noch aus. Immer wieder und in unregelmäßigen Abständen höre ich sie und sie machen mir Angst, denn ich ahne den Grund.

Dann wieder diese lähmende Stille, die mich fast in den Wahnsinn treibt. Ein unheimlicher Wechsel. Ich drehe mich zur Seite und ziehe die Decke über den Kopf. Nichts hören und nichts denken. Ich bin müde, möchte nur noch schlafen, träume wirres Zeug und wache wieder auf.

Schwere Schritte hallen durch den Gang, kommen näher. Ich halte den Atem an und lausche auf die Stimmen, die sie begleiten und jetzt ganz dicht vor meiner Tür sind. Die Stimmen verstummen. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Schlüssel rasseln und ein Riegel wird zurückgeschoben. Ich erschrecke und springe von meiner Liege auf. Jetzt wird es ernst, denke ich. Licht flammt auf. Es blendet und ich kneife meine Augen zusammen. An der Tür erkenne ich schemenhaft zwei Gestalten. Eine winkt mir zu.

„Los, mitkommen. Los, schnell, schnell!“

Ich soll ihrem Befehl folgen, aber meine Beine haben etwas dagegen. Als würden Tonnen von Blei daran hängen, ziehen und zerren sie an mir und halten mich zurück. Ich stehe immer noch auf der gleichen Stelle, ängstige mich. Will da nicht raus.

„Was ist? Hast du mich nicht gehört?“

Ich schweige. Der, der mich gerade aufgefordert hat, kommt auf mich zu und zerrt an meinem Hemd. Ich taumle. Kurz darauf stehe ich ihnen gegenüber. Erst jetzt kann ich sie genau erkennen. Es ist verdammt hell auf dem Flur. Ein dürrer großer Typ mit auffallend auseinander stehenden, dunklen Augen und fleischiger Nase lehnt an der Wand, während der andere Kerl, klein und dick, sich breitbeinig vor mir postiert. Grinsend betrachten mich beide von oben bis unten und unterhalten sich wahrscheinlich über mich. Ich verstehe ihre Sprache nicht. Urplötzlich schreit er mich wieder an:

„Was guckst du?“

Wo soll ich denn sonst hinsehen, du Arsch? Am liebsten würde ich ihm in seine von Pickeln übersäte Fresse spucken. Irgendwie scheint der Dicke meine Gedanken zu erraten. Er tritt einen Schritt zurück und greift nach dem Schlagstock an seinem Gürtel. „Was ist? Hast du Schiss?“ Der Dürre bricht nach dieser Frage in höhnisches Gelächter aus, in das der Dicke mit einstimmt. Gleichzeitig schlägt er mit dem Stock gegen seinen Oberschenkel. Diese perversen Schweine. Fühlen sich stark. Sie reden wieder in diesem Kauderwelsch und der Dürre nickt und grinst mich an. Ich kann es nicht ertragen. Im nächsten Augenblick zwängt sich der Dürre an dem Dicken vorbei, fasst mich am Oberarm und reißt mich herum. „Vorwärts!“, schnauft er. Ich muss den Atem anhalten, denn er stinkt penetrant nach Schweiß. Aus seinem Mund trifft mich ein Schwall aus Knoblauch und faulen Zähnen. Er stößt mich vor sich her. Vor mir liegt ein schier endlos langer Gang, nur einige Schritte breit. Rechts befinden sich die Zellen. Mein Blick fällt auf ein hüfthohes Geländer gegenüber. Dahinter geht es tief abwärts. Mindestens drei oder vier Etagen, schätze ich. Den Boden kann ich von meinem Standort aus nicht erkennen. Man könnte mich hier hinunterstoßen, und kein Hahn würde nach mir krähen. Die werden doch nicht etwa - nein, das bringen die nicht fertig. Ich muss an die zu Hause denken. Sie tun mir leid. Mutter läuft bestimmt Amok. Das tut sie immer, wenn etwas nicht so läuft, wie sie es sich vorstellt.. Vor allen, wenn sie erfährt, dass ich hier gefangen bin. Das war nicht immer so. Aber seit Vaters Tod ist sie anders, kein bisschen mehr die ruhige und ausgeglichene Frau, die sie einmal war. Nach seinem Tod vollzog sie eine Wende um nahezu hundertachtzig Grad. Mich wundert’s nicht. Das Leben hat ihr übel mitgespielt. Warum musste er auch, so mir nichts dir nichts, von der Bühne abtreten? Sie mit allem überfordern? Sie war es nicht gewohnt selbst zu entscheiden. Zuerst kam er, immer er. Danach Schwesterlein, die Göre mit ihren Segelohren, verhätschelt bis zum geht nicht mehr. Sie durfte alles. Sie hat nie eine hinter die „Binde“ bekommen, wenn sie nicht so funktionierte, wie er sich das vorstellte. Nur einmal bekam sie seine Hand zu spüren. Mit ihrem nagelneuen, weißen Rock wollte sie über einen Graben springen. Das ging gehörig daneben, und plumps lag sie im Dreck. Da war nichts mehr zuerkennen vom blütenweißen Stück Stoff. Die Tracht Prügel danach vergesse ich bis heute nicht. Irgendwie tat sie mir aber dann doch leid. Er konnte fest zuschlagen. Ich muss nur dran denken, dann zwirbelt es wieder.

 

Immer am Wochenende gab es bei uns abwechselnd Butterbrötchen mit Kakao oder Eintopf. An so einem Samstag saßen wir wieder einmal zu dritt vor unserer flüssigen Nahrung. Er musste Arbeiten und sollte erst abends nach Hause kommen. Eine lästige Fliege wollte mir das Mahl einfach nicht gönnen. Ständig schwirrte sie um mich herum. An meinen Ausdünstungen konnte es nicht liegen, denn ich hatte mich zuvor gründlich gewaschen. Ohne groß nachzudenken griff ich nach dem Ledergürtel, der über dem freien Stuhl hing. So bewaffnet wollte ich das Viech beseitigen. Sie hatte sich inzwischen auf die neu gekaufte Küchenlampe gesetzt. Eine ideale Position um ihr den Garaus zu machen. Das Dumme daran – die Lampe war aus Glas. In meinem Jagdfieber vergaß ich das und schlug heftig zu. Es krachte. Die Fliege flog weg und die Lampe hinterher. Der erste Gedanke danach galt dem Teppichklopfer.

Ich war nicht der Mutigste unter der Sonne, und die Angst vor der drohenden Strafe führte dazu, dass ich aus dem Küchenfenster sprang. Im Erdgeschoss war das allerdings auch nicht besonders gefährlich. Als wäre der Teufel hinter mir her, rannte ich so schnell mich meine Beine trugen. Ich wollte nur weg. Zwei Tage lang versteckte ich mich im Wald. Dem Teppichklopfer entkam ich trotzdem nicht.

Was würde er wohl jetzt sagen? Dieser Fluchtversuch ist ein ganz anderer.

Sein „Großer“ – so nannte mich mein Vater immer, wenn er gut gelaunt war – sein Großer hat sich nun endlich einmal etwas zugetraut. Wann hatte ich auch sonst je die Chance dazu? Seit ich denken kann, hat er mir alles abgenommen. Mit immer der gleichen Bemerkung:

„Komm lass, ich mache das schon.“

Egal, was ich tat, ihm war nichts recht. Vor vier Jahren sagte er das zum letzten Mal.

Ein Stoß in den Rücken unterbricht meine Gedanken. Nur noch wenige Meter. Der Gang mündet in eine Gabelung. Ich weiß nicht, wohin ich laufen soll und zögere. Was tun? Einfach abwarten? Verdammt, warum geht keiner von denen vor?

Ich habe Angst, dass ich was falsch mache und entscheide mich, stehen zu bleiben. Das war ein Fehler.

Aus meinen Augenwinkeln bemerke ich einen Schatten auf mich niedersausen. Ein stechender Schmerz in der Nierengegend folgt. Mir wird übel und ich falle zu Boden. Rühre mich nicht, bleibe einfach liegen. Nur nicht noch mehr provozieren.

Nach einer Weile traue ich mich wieder, die Augen zu öffnen. Ich erkenne die Beine der Wärter. Sie unterhalten sich leise. Eine Tür springt auf. Das Murmeln verstummt. Totenstille. Endlos lang.

Dann ein kurzer und lauter Befehl. Die Wärter nehmen Haltung an. Kräftige Arme packen meine Schulter und schleifen mich weg. Hin zu der Tür, die einen Blick in den Raum freigibt. Das Zimmer ist quadratisch. Geradeaus erkenne ich einen schweren Holztisch und vor ihm einen Stuhl. Hinter dem Tisch sitzt ein Mann in Zivil. Die Fenster sind mit dunklem Stoff verhangen. Eine Art Leselampe, ist die einzige Lichtquelle. Ihr Schein fällt auf den Stuhl. Sie zerren mich dorthin. Der Dicke stellt sich hinter mich, während der andere verschwindet und kurze Zeit später mit einem vollen Wassereimer wiederkommt. Mein Kopf brummt und die linke Seite tut mir weh. Hinter einer Nebelwand registriere ich, wie sich der Dürre mit dem Eimer vor mir aufbaut. Danach trifft ein eiskalter Schlag mein Gesicht.

Ich ringe nach Luft. Mein Hemd klebt unangenehm am Körper. Ich fühle wie mein Puls steigt.

„Wie ist Ihr Name?“, spricht mich der Mann in Zivil hinter dem Tisch an. Ich nehme mir vor, auf alle Fragen rasch zu antworten.

„Augst, Jürgen Augst".

Der Mann erhebt sich, verweilt einen Augenblick, und kommt dann auf mich zu. Sein Gesicht missfällt mir. Es ist kalt und blass, mit stark hervorstehenden Wangenknochen, und die Augen versteckt er hinter einer schwarzen Brille. Er steht jetzt dicht vor mir und beugt sich leicht vornüber. Uns trennen nur wenige Zentimeter. Ich kann seinen Atem spüren.

„So, so, Sie sind also der Augst ..."

Betretenes Schweigen folgt. Seine schmalen Lippen wirken jetzt noch dünner. Ein einziger Strich. Er schnauft und fragt mich kaum hörbar:

„Kennen Sie einen Frank Richter?“

Was soll das Ganze, denke ich. Klar, das weiß er doch.

„Ja, er ist mein Freund. Was ist mit ihm?“

Meine Antwort kommt fest und deutlich. Er zeigt keine Reaktion. Der will mich verunsichern, denke ich.

„Sind Sie sicher, Augst, dass der Richter ein guter Freund ist?"

Auf seinem Gesicht formt sich ein überlegenes Grinsen.

„Wieso?“

Frage ich, um Zeit zu gewinnen. Ich brauche sie zum Nachdenken. Wer weiß, was er als Nächstes von mir wissen will. Der Mann richtet sich auf und geht wieder zum Tisch. Ich bin erleichtert. Seine Nähe behagt mir keinesfalls.

„Wieso?“, äfft er mich nach und hebt seine Stimme deutlich an.

Ich beschließe zu schweigen. Dafür antwortet er für mich mit einer unverschämten Behauptung, die mir das Blut in den Adern gefrieren lässt.

„Ich werde Ihnen sagen, wieso. Er hat uns verraten, dass Sie ihn angestiftet haben, das Land zu verlassen.“

Ach, daher weht der Wind. Dachte ich mir doch. Der falsche Hund, will mich in eine Falle locken. Ich glaube ihm einfach nicht. Nicht Frank! Nein!

Dennoch werde ich unsicher. Ich beschließe, Unwissenheit vorzugaukeln.

„Ich weiß gar nicht, wovon Sie sprechen. Welches Land meinen Sie?“

„Sie wissen das sehr gut, Augst. Und das Land ist die DDR. Stimmt doch?“

Mir wird heiß, und mein Kopf droht zu zerspringen. Zum Glück beachtet er mich in diesem Moment nicht, sonst hätte er meine Unsicherheit bemerkt. Er flüstert dem Offizier etwas ins Ohr. Der beginnt nun in das Verhör einzugreifen:

„Was wollten Sie in Jimbolia?“

Das überrascht mich. So schnell hatte ich die Frage nicht erwartet.

„Wir haben uns verlaufen."

Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Schweiß vermischt sich mit dem Wasser und rinnt mir den Rücken herunter.

„Wofür brauchen Sie diese Sachen hier?“

Er holt einen Rucksack hinter dem Tisch hervor, und ich erkenne ihn. Den Inhalt kippt er einfach aus.

„Drei Brote, Konservendosen, Schokolade.“

Laut zählt er unsere Ration auf. Nachdem er jede einzelne Dose begutachtet und sorgfältig vor sich aufgestapelt hat, schüttelt er ungläubig seinen Kopf.

„Fünfzehn Dosen, fünfzehn Dosen“, wiederholt er.

Der Mann in Zivil nimmt eine Siegespose ein.

„Ich glaube nicht, Augst, dass sie mir hierfür eine vernünftige Erklärung liefern können. Geben Sie endlich zu, dass Sie abhauen wollten.“

So ganz Unrecht hat er nicht, denke ich. Eine plausible Ausrede zu finden fällt mir schwer. Mir fällt die einstudierte Antwort ein:

„Unsere Wanderung hätte mehrere Tage gedauert. Um Kosten zu sparen, haben wir ausreichend vorsorgen müssen.“

Ich finde mich überzeugend.

„Wohin wollten Sie denn wandern?", fragte er mit anspielendem Unterton.

„Nach Lenauheim."

„Lenauheim? Kenne ich nicht.“

Der Offizier breitet unsere Landkarte aus und zeigt ihm nach kurzer Suche den erwähnten Ort.

„Lenauheim liegt aber in einer ganz anderen Richtung. Weit entfernt von der Stelle, an der wir Sie aufgegriffen haben. Schon merkwürdig, Augst, sehr merkwürdig.“

Er grinst selbstzufrieden.

„Ja, das stimmt. Wir haben zu spät gemerkt, dass wir verkehrt sind.“

Ich bin angespannt. Wie wird er darauf reagieren? Zunächst geschieht nichts. Nach einer kurzen Pause murmelt er etwas zu dem Offizier. Mein Puls rast vor Aufregung.

Sie unterbrechen ihr Gespräch. Der Mann sieht mich an. Mustert mich und durchbohrt mich mit seinem Blick. Ich versuche, ihm standzuhalten. Es gelingt mir nur in Ansätzen und ich senke den Kopf.

„Sehen sie mich an, Augst", fordert er mich drohend auf.

Mist, er hat die Geschichte nicht gefressen. Das ist schlecht. Sein Gesicht nimmt groteske Züge an und zum ersten Mal erkenne ich Leben darin, unangenehmes Leben.

„Zu spät“, wiederholt er meine Aussage. Seinen Brustkorb hebt er dabei stark an und die Atmung scheint dabei auszusetzen. Dafür trommelt er umso lebhafter mit den Fingern auf der Landkarte und sieht abwechselnd auf den Plan und zu mir.

Sein Hämmern wird ungestümer. Er holt tief Luft. Sein Brustkorb wächst ins Unermessliche und mit zusammengepressten Lippen droht er jeden Augenblick zu explodieren.

Ein mächtiger Faustschlag auf den Tisch, und das Gewitter bricht los:

„Wollen Sie mich verarschen?“, schreit er mich an.

Ein Blitz schießt tief durch mich hindurch.

„Jetzt ist Schluss mit der Märchenstunde! Ich möchte die Wahrheit, und zwar die ganze. Und wenn Sie mir die nicht gleich erzählen, dann lass ich die aus Ihnen herausprügeln!“.

Seine Worte stechen wie Messer in meine Brust. Mir wird klar, dass das kein Spiel ist.

„Geben Sie zu, dass Sie abhauen wollten", faucht er mich an. Kaum hörbar fährt er fort:

„Oder soll ich die da“, er nickt mit dem Kopf zu den zwei Wärtern, „ein paar Minuten mit Ihnen allein lassen?"

Das hat gesessen! Diese Drohung lässt mich erstarren und mein Magen zieht sich zusammen. Soll ich vielleicht doch alles zugeben? Nein. Frank würde das auch nicht tun. Ich werde denen nichts sagen. Ich schweige. Aber in meinem Inneren schreie ich. Lasst mich! Eine beklemmende Stille füllt den Raum. Als würde jemand einen Film anhalten. Der Mann in Zivil blickt in meine Richtung. Ich stiere wie gebannt auf seine Brille. Der Offizier verharrt regungslos und die Wärter stehen stramm. Die Luft ist zum Zerschneiden. Nach schier endloser Zeit unterbricht der Zivilist das Stillleben. Er zündet sich eine Zigarette an und bläst den Qualm genüsslich in meine Richtung.

„Habe ich mir doch gedacht. Er will den Helden spielen. Das kann er haben.“

Er gibt dem Dicken ein Zeichen. Dessen Gesichtszüge formen sich zu einem lüsternen Grinsen. Mit einer Handbewegung fordert er mich auf, vor ihm niederzuknien. Meine Beine werden butterweich, und das Herz rast. Nur keine Schwäche zeigen, mache ich mir Mut. Es hilft nicht. Ich knie neben dem Stuhl und zittere am ganzen Körper. Der Dicke schleicht mehrmals um mich herum und bleibt irgendwann wieder hinter mir stehen. Krachend fliegt der Stuhl zur Seite. Ich zucke zusammen, schließe die Augen und warte auf die Schläge. Doch sie bleiben aus. Als ich mich schließlich traue die Augen wieder zu öffnen, baumelt das Ende eines Seiles vor meinem Gesicht. Kurz darauf legt sich die Schlinge um meinen Hals und das Ende des Seiles wird unter meinem Körper hindurch gezogen.

Erneut kneife ich die Augen zusammen. Will einfach nicht wahrhaben, was nicht sein darf. Ein vergeblicher Wunsch. Ich spüre, wie sich die Schlinge langsam enger zuzieht und mir die Kehle abdrückt. Ich ringe nach Luft. Gleichzeitig wird mein Kopf von dem Seil auf den Fußboden gezogen. Der raue Beton drückt gegen meine Stirn. Jemand bemächtigt sich meiner Hose. Zieht sie herunter. Jeden Augenblick wird etwas passieren. Die Ungewissheit quält mich.

Ein stechender Schmerz zerreißt mir den Unterleib.

Auf dem Marktplatz

Es ist Sonntag. Ein heißer Sommertag, wie so viele in diesem Jahr und ich schwitze. Ich mag es nicht, wenn mir der Schweiß den Rücken herunter läuft und alles klebt. Ich lehne genervt am Geländer, das die kleine Verkehrsinsel am Rande des Marktplatzes eingrenzt und warte auf Backe. Mit bürgerlichem Namen heißt er Frank Richter. Wie er zu dem Spitznamen gekommen ist weiß ich nicht. Er spricht nie darüber. Wenn ich ihn danach frage, weicht er mir aus und seine Laune ändert sich schlagartig. Ich belasse es seither dabei und mache mir meinen eigenen Reim darauf. Unsere halbe Freizeit verbringen wir hier auf dem Marktplatz. Hören Klänge, die, ginge es nach Vater Staat, nicht für unsere Ohren bestimmt sind.

 

Am Boden steht mein Kofferradio. Ein lautes "Hey Joe" krächzt gerade aus den überlasteten Boxen.

So, wie Jimmy Hendrix spielen können. Nur einmal. Das wäre was. Geile Vorstellung. Ich komme mir sehr erbärmlich vor, wenn ich meine Künste mit Jimmys vergleiche. Mein Spiel auf der Konzertgitarre bei Gitarrenlehrer Hempel machte anfangs noch Spaß. Er war zwar nicht mehr der Jüngste aber der einzige Lehrer für dieses Fach weit und breit. Meine Eltern hatten mich ohne mein Wissen angemeldet. Zu Weihnachten offenbarten sie mir dann die Neuigkeit mit großem Stolz. Er war nicht billig und den Lohn für Hempel mussten sie sich zusammen sparen. Also tat ich ihnen den Gefallen und übte fleißig. Das ging solange gut, bis dann die ewigen Etüden verlangt wurden. Ich gab es auf und konzentrierte mich mehr auf die Musik der Beatles und der von Jimmy. Dabei bin ich nicht einmal untalentiert. Zumindest sagt das Hempel. Aber was weiß Hempel schon von Jimmy. Für ihn ist Jimmys Musik nur unkontrolliertes Gejohle und hat so gar nichts mit Kunst zu tun. Ich flog jedenfalls schon sehr bald aus dem Unterricht. Er ist in der Hinsicht genau wie meine Alten. Deren ständige Meckerei über die Lautstärke nervt mich. Sie gehört ganz einfach dazu. Ob die das je begreifen werden? Ich glaube es nicht, obwohl Mutter seit Vaters Tod ein wenig anders darüber denkt. Vielleicht tut sie aber auch nur mir zuliebe. Hempel jedenfalls bleibt unbelehrbar. Jimmy ist schließlich berühmt, wenn auch seit vier Jahren nicht mehr unter den Lebenden. Hempel dagegen klimpert immer noch auf seiner Klampfe und quält jetzt dafür andere. Soll er doch. Ich brauche das zum Glück nicht mehr über mich ergehen zu lassen, Dank Hugo und Dietmar.

Wir hatten wieder einmal einen Disput mit Gerd, unserem Sänger. Wenn einer gar kein Talent zum Singen hatte, dann war das Gerd Heinrich. Dass er noch in der Band war, lag nur am Geld. Die Anlage verschlang so einiges und davon hatte Gerd genügend. Eigentlich war es mehr das Geld seiner Mutter, die sich doch tatsächlich einbildete, dass aus ihrem Sohn ein Star werden könnte. Wir akzeptierten ihn mehr als ein notwendiges Übel, als dass wir ihn respektierten. Das war zwar gemein, aber was sollten wir machen? Musik kostete nun mal Knete. Jochen passte das genauso wenig wie mir. Und ich wollte es schließlich nicht mehr ertragen, vom Publikum belächelt zu werden, nur, weil da irgendwer mit uns auf der Bühne stand, der sich fälschlicherweise einbildete, Singen zu können. All unsere Mühen waren umsonst. Wir spielten uns jedes Mal die Seele aus dem Leib und ernteten Dank ihm oft nur Hohn und Spott. Er klang wie eine besoffene Schnapsdrossel, hielt nie den Takt und verpasste ständig seinen Einsatz. Mit seinem rechten Bein hin und her zu wippen war das Einzige, was er beherrschte. So auch diesmal.

Wir probten an einem Song von Percy Sledge. Jochen schlug vor, dass ich den Titel singen sollte. Damit war Gerd nicht einverstanden. Er riss das Mikrophon an sich, begann wieder zu krächzen und sein Bein machte sich selbständig. In mir kochte es. Ich spürte, wie eine unbekannte Wut in mir hochstieg. Merkte der nicht, dass er das nie auf die Reihe kriegte? Ich rastete aus. Traute mich endlich, ihm die Wahrheit ins Gesicht zusagen. Alle schimpften sonst nur hinter vorgehaltener Hand. Gerd wurde stinksauer und Jochen lief mit rotem Kopf aufgeregt hin und her. Er ahnte wohl, welche Folgen für die Band dieser Streit haben würde.

Bernd klimperte verlegen auf der Gitarre, während Gerd und ich uns verbale Beschimpfungen um die Ohren hauten. Ihn schien das alles gar nichts anzugehen und das kotzte mich erst recht an. Um mich abzureagieren, setzte ich mich ans Schlagzeug. Legte, ohne es zu beabsichtigen, ein regelrechtes Jahrhundertsolo hin.

In diesem Augenblick platzten Hugo und Dietmar in unsere Probe. Nach ihrem Grinsen zu urteilen, hatten sie nicht nur mein Schlagzeugspiel gehört, sondern auch einiges von unserem Streit mitbekommen. Von da an sollte sich alles ändern. Ich kannte die beiden von Konzerten. Ihre Musik, vor allem ihre Art der Interpretation von Jimmy Hendrix Titeln, gefiel mir. Ich wusste auch, dass sie auf der Suche nach einem neuen Schlagzeuger waren. Dass sie ausgerechnet bei uns vorbeischauten, überraschte mich allerdings. Das war die Chance für mich, diesen Haufen hier zu verlassen und meine Musik, also die von Jimmy, zu spielen. Noch am gleichen Tag wurden wir uns einig. Endlich war mein Ziel zum Greifen nahe:. Ich würde über die Lande ziehen, aufregende Sachen erleben und Weiber aufreißen. Was für Aussichten!

Ich hielt mich kaum noch zu Hause auf und meine Lehre als Elektriker wurde zur Nebensache. Ich schwänzte die Schule und Dr. Gieske half mir dabei. Er stand kurz vor seiner Pensionierung. So zumindest kam er mir vor. Dem Doktor, der in Wahrheit gar nicht promoviert hatte, sondern lediglich ein besserer Krankenpfleger war, brauchte ich nur etwas vorzujammern und schon lag der Krankenschein ausgefüllt und für mindestens eine Woche auf dem Tisch. Ich bin mir nicht sicher, ob er mein Mogeln durchschaut hatte. Er grinste meistens beim Ausfüllen des Scheines und murmelte ständig „Papilio“ vor sich hin. Anfangs wusste ich nicht, was er damit meinte. Bis ich mich in einem Buch schließlich schlau machte. Ein Schmetterling – hm, das war ich also für ihn. So ganz Unrecht hatte er damit nicht, denn so frei und ungezwungen wie ein Schmetterling, wollte ich ja leben. Mutter nahm an, dass ich in der Berufsschule Schaltpläne zeichnete und Formeln paukte. Die arme Frau konnte nicht wissen, dass dem „Papilio“ anderes viel wichtiger war.

Leider ist das nun vorbei. Meine Lehre als Elektroinstallateur neigte sich dem Ende entgegen und ich musste die Band verlassen, da der Job immer mehr Zeit in Anspruch nimmt. Seither herrscht eine unerträgliche Öde. Und das nun schon mehrere Monate. Es ist mir ein Graus, wenn ich an Montag denke. Früh aufstehen. Von morgens bis spät abends Strippen ziehen. Tagein, tagaus immer das Gleiche. Ich hasse es. Das kann doch noch nicht alles sein? Vielleicht noch heiraten und einen Stall voller Kinder als Höhepunkt meiner Existenz? Mich schaudert bei der Vorstellung, mich einreihen zu müssen in die Masse der Angepassten. Alles, aber auch wirklich alles ist hier vorbestimmt. Man wird geboren und eh du dich versiehst landest du in den Fängen des Staates. Kindergrippe mit einem Jahr, danach Kindergarten, Vorschule, Junge Pioniere und die bescheuerte FDJ. Der Gipfel aber ist, dass sie jetzt noch eine Untergruppe der GST einführen wollen. Die Gesellschaft für Sport und Technik ist nur ein Aufhänger für die Schule des Soldaten von morgen. Dass ich nicht lache. Drill an der Waffe, die zwar momentan noch ein Luftgewehr ist, aber sicher bald durch eine wirksamere „Technik“ ausgetauscht wird. Glauben die Bonzen im Ernst, dass das Volk so blauäugig durch die Welt läuft und die Märchen darüber schluckt, wie toll doch der Sozialismus sei und wie schlecht die armen, verunsicherten und von Ängsten geplagten Menschen im Westen leben. Das kann und will ich nicht glauben. Ich habe anderes gehört und möchte hier nicht bis zur Rente versauern. Und dann dieser Kult um den ersten neuen Mann an der Spitze des Staates. Der Emporkömmling und Ziehsohn vom Spitzbart. Das hat es doch alles schon mal gegeben. Ein Volk, ein Reich, ein Führer. Das mache ich nicht mehr mit. Auf diese fremdbestimmte Zukunft kann ich gut verzichten. Doch jetzt habe ich erst einmal Bock auf eine Lunte. Ich taste nach der Schachtel Zigaretten in meiner viel zu engen Jeans und habe Mühe sie heraus zu bekommen. Nach einigen Versuchen halte ich die zerknüllte Packung in der Hand. Ärgerlich werfe ich die ersten Zwei weg, sie sind zerbrochen. Erst die Nächste ist brauchbar. Ich fahre mir mit einer Hand durch mein langes Haar, streiche es nach hinten. Wäre doch nur ein Spiegel in der Nähe. Mir ist es wichtig, dass meine Haare sitzen. Auf meine Haare achte ich besonders, da bin ich eitel. Ich ertrage es kaum, wenn sie nicht so liegen, wie ich mir das vorstelle. Vor allem aber mag ich nicht, dass man mich warten lässt. Ich ziehe ungeduldig an der Zigarette, die heute irgendwie seltsam fad schmeckt und werfe sie angewidert weg. Wo bleibt er nur? Ständig kommt er zu spät. Und dann immer diese billigen Ausreden. Ich bin gespannt, wer heute wieder Schuld hat. Jimmy hat längst aufgehört zu spielen. Stattdessen posaunt nun "Chicago" aus den die Vier-Watt Lautsprechern. Ich werde ungeduldig und ertappe mich dabei, wie ich nervös mit meinen Fingern das Geländer bearbeite. Mein Blick klebt an der nächsten Strassenmündung.

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