Das Gold der Felder

Tekst
Autor:
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Das Gold der Felder
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

K.P. Hand



Das Gold der Felder



Teil 2 - Brix





Dieses ebook wurde erstellt bei






Inhaltsverzeichnis





Titel







Tagebuch







Dämmerung







Tagebuch







Morgenrot







Tagebuch







Wiedergeburt







Tagebuch







Wer Wind sät …







Tagebuch







Abendruh







Danksagung







Impressum neobooks







Tagebuch




Ich traf einen Jungen. Nicht

 irgendeinen

 Jungen, sondern einen

besonderen

 Jungen.


Gérard.



Ich erinnere mich daran, wie er mir das erste Mal sprachlos mit seinen großen Augen entgegen blinzelte, als wäre es erst gestern gewesen. Bis heute spüre ich das leicht erhöhte Klopfen meines Herzens, wenn ich auch nur an seinen verschlafenen Blick denke.



Ein Blick, mit dem er mich heimlich aus jeder noch so großen Entfernung beobachtete.



Das Kitzeln auf meiner Haut, wenn seine Augen mich streiften, fühlte sich genauso stark an wie damals mit meinem Jugendfreund, der sich verbotene Küsse von mir stahl.



Ich fühlte mich umgehend auf eine Art zu diesem fremden Burschen hingezogen, wie ich es nicht verspüren sollte. Er weckte wieder diese zärtlichen Gefühle in mir, die ich tief vergraben hatte, seit ich damals die Nachricht erhielt, dass mein heimlicher Liebster in die Stadt ziehen würde, während ich in die Armee eintrat, um meinen Vater stolz zu machen. Ich weiß bis heute nicht, was aus meiner ersten Liebe geworden ist, es interessierte mich irgendwann auch nicht mehr. Er war nur noch eine blasse Erinnerung im Strudel der Zeit, als gehörte sie zu einem anderen Leben.



Ich hatte geglaubt, ich wäre durch die Armee ein anderer Mann geworden.



Allerdings reichten meine Gefühle gegenüber jenem besonderen Jungen – über den ich hier schreiben möchte – von Anfang an deutlich tiefer, was mich zusätzlich beschämen sollte.



Aber dieser junge Bursche, Gérard … ich konnte ihm und seinen verträumten Augen nicht entkommen. Ich musste ihn haben.



Ich war verliebt.



Mit einem Lächeln denke ich daran zurück, dass ich ihn für seltsam hielt, weil er mich unentwegt ansah, als wäre ich der Sohn Gottes. Erst als ich begriff, dass er mich nur deshalb auf diese anhimmelnde Art anstarrte, weil er sich ebenso zu mir hingezogen fühlte, wie ich mich zu ihm, wurde mir gewahr, welche verbotenen Gefühle sich zwischen uns auftaten. Wenn ich von nun an in seine Augen sah, erkannte ich mich selbst darin; erkannte mein eigenes Verlangen.



Ich erinnere mich an das tiefe Blau seiner Augen und das Funkeln darin, als würde sich der Sternenhimmel auf der Oberfläche einer glatten See spiegeln. Ich sehe noch seine dunkelbraunen Löckchen, die keck in seiner glatten Stirn hingen, und wie ich die Hand ausstrecke, um sie zur Seite zu streichen, damit er mich ansieht.



Ich begehrte ihn.



Ich erinnere mich, wie ich ihn das erste Mal berührte, wie sich seine blasse Haut unter meinen Fingern anfühlte, samten und warm. Und ich erinnere mich noch deutlich daran, wie ich ihn das erste Mal küsste, nachdem er mich fragte, ob ich ein schlechtes Empfinden dabei hätte, auf welche Weise wir einander ansahen.



Seine Lippen … Ich habe nie wieder etwas Köstlicheres gekostet als diese. Ihre weiche Beschaffenheit und die Süße seiner Jugend, die auf ihnen haftete, ließen mich erkennen, wo mein persönliches Glück entsprang. Noch heute fühle ich seinen Kuss auf meinem Mund, und ich bin wie berauscht.



Ich kann noch immer seine Berührungen auf meinem Körper fühlen.



Das Prickeln unter meiner Haut ist mit meinen starken Erinnerungen verbunden.



Jede Nacht wälze ich mich umher und denke an uns, an ihn und an sein albernes, strahlendes Lächeln, seine funkelnden Augen. Ich denke an das letzte Mal, als er mich berührte, und an das letzte Mal, als ich ihn küsste; und dann, wirklich nur dann, kann ich einschlafen. Wenn ich mir einrede, er läge neben mir, und das Kissen, in das ich meine Nase vergrabe, wäre sein weiches Haar, das stets nach einem taufrischen Wald geduftet hatte.



Wenn er doch nur wüsste, dass ich mein Versprechen brach, weil ich ihn beschützen wollte! Und wäre es mir doch nur möglich, zu erfahren, wo er gerade ist und ob er in Sicherheit war! Ich könnte mit der Schuld, ihn verlassen zu haben, erträglicher leben, wüsste ich, dass es nicht umsonst gewesen war, ihm das Herz zu brechen.



Ich schreibe diese Zeilen zwei Jahre nachdem ich ihn das letzte Mal gesehen habe … es kommt mir vor, als hätte ich ihm erst gestern zum Abschied gewunken. Und doch fühlte sich jeder bisher erlebte Tag wie eine halbe Ewigkeit an. Eine Ewigkeit der Qual.



Ich wollte mich entschuldigen, doch ich war zu feige. Tausend angefangene und wieder verbrannte Briefe fielen dem Feuer zum Opfer, keinen habe ich je abgeschickt. Ich wüsste auch gar nicht, wohin ich die Botschaft hätte schicken sollen, da ich nicht weiß, wo er jetzt ist.



Aber ich muss ihn finden, denn mich ereilte heute eine unheilvolldrohende Nachricht …





Dämmerung




Nach der Schlacht bei St. Aubin, am 27. Juli 1488 – als der bretonische Angriff endete, der in den Rücken der französischen Truppen geführt wurde – kämpfte Brix zusammen mit seiner Kompanie im Fürstentum Flandern, bei Gent.



Genau dort traf er eines schicksalhaften Tages kurz vor dem Frühjahr ein ihm bekanntes Gesicht unter vielen Fremden.



Es war Jean, den er entdeckte, und sein Herz setzte einen Moment aus. Jean und Gérard dienten in derselben Truppe. Jean trug nun die Rüstung eines Capitaine und ritt auf einem edlen Ross, als er seine Kompanie in das Lager führte. Aber Gérard war nirgends zu sehen.



Als Brix Jean bemerkte, kletterte er auf einen Karren und suchte fieberhaft die Männer ab, die ihm folgten. Sie sahen nicht gut aus. Grimmige Gesichter, in denen Schmutz klebte. Sie schienen kampferprobt, aber ebenso erschöpft und abgestumpft, als kämen sie gerade aus einem Scharmützel. Panik breitete sich in ihm aus, während er nach seinem jungen Burschen Ausschau hielt. Genau diese trüben Augen, wie Jean und seine Truppe sie herumtrugen, hatte Brix nicht bei Gérard sehen wollen. Aber wie es schien, hatte der Krieg auch diese Kompanie eingeholt.



Wo hatten sie wohl gekämpft? Und ging es Gérard gut?



Wo war er? Brix konnte ihn nicht sehen, allerdings konnte er ohnehin nicht allen Soldaten ins Gesicht blicken, einige wurden von ihren Kameraden verdeckt. Bei dem ein oder anderen schlanken Rücken machte sein schlagendes Organ in der Brust erneut einen Satz, aber er war sich nie sicher, ob einer davon wirklich Gérard war.



»Wo ist er!« Es war das erste, was er zu Jean sagte, als er diesen bei den Pferdegattern allein antraf. Er blaffte ihn von der Seite an.



Jean riss wütend den Kopf herum und begegnete dem drängenden Blick mit kalten, wütenden Augen. Der junge Mann hatte sich verändert, jeglicher kindliche Hauch war aus ihm gewichen, sein Gesicht war hart, und eine Narbe spaltete seine rechte Wange, ihm fehlte ein Stück seines Ohrs.



Es schien einen Moment zu dauern, doch dann erkannte er Brix, und ein freudiges Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Der Capitaine!«, lachte er und packte Brix` Arme.



Brix nickte ungeduldig und zwang sich zu einem Lächeln. »Wie ich sehe, gilt der Titel für uns beide. Ich freue mich für dich.«



Jean grinste nickend. »Danke! Nachdem du abgezogen wurdest, übergaben sie mir deine Aufgaben.«



Brix blickte über Jeans Schulter, ein paar Männer sattelten ihre Pferde in ihrer Nähe ab. Bevor er seine Frage wiederholte, zog er Jean in eine dunkle Nische. »Wo ist der Sergent?«



Jeans Lächeln verlor sich, und Brix` Herz blieb stehen.



»Gérard?« Jean wurde traurig und senkte den Blick. »Ich … weiß nicht, wo er jetzt ist.«



Alle möglichen schrecklichen Dinge gingen Brix durch den Kopf. Gefangennahme, im Kampf verschollen, desertiert. »Was ist passiert?«, fragte er drängend, und seine Finger bohrten sich in Jeans Arme, er musste sich davon abhalten, den anderen wütend zu rütteln.



Jean rieb sich die Stirn. »Als der Aufstand begann, kamen wir nach Flandern, das ist nicht so lange her ...«



»Ihr wart hier?« Brix rüttelte ihn nun doch, aber Jean schien davon kaum etwas mitzubekommen.



Gérard war die ganze Zeit in Flandern gewesen? Vermutlich irgendwo direkt neben ihm, und er hatte es nicht einmal bemerkt. Sein Herz flatterte, als er daran dachte, dass Gérard immer nur einen Katzensprung entfernt gewesen war. Und Furcht breitete sich wie ein dunkler Teppich in ihm aus, weil er es nicht geschafft hatte, Gérard vom Schlachtfeld fernzuhalten.

 



»Ja, wir waren hier«, bestätigte Jean erschöpft und sah Brix in die Augen, »und wir haben gekämpft. Gérard und ich. Seite an Seite. Er … war mein Schild.« Ein leichtes Lächeln trat auf Jeans Lippen, das sofort von Bedauern fortgespült wurde. Brix blieb das Herz erneut stehen. »Er war gut, besser als jeder andere von uns. Aber dann … wurden wir getrennt. Ich weiß nicht, was passierte. Als das Handgemenge zu Ende ging und wir die Leichen vom Schlachtfeld zogen, fand ich ihn. Er war schwer verwundet, eine Hüftwunde. Sie brachten ihn fort, um ihn zu heilen.« Er schüttelte entschuldigend und ratlos seinen Kopf, sodass der offene Verschluss seines Helmes klimperte. »Ich habe seitdem nichts mehr von ihm gehört. Ich weiß nicht, wohin sie ihn gebracht haben.

S’excuser.

« -

Entschuldige.



Brix wurde kreidebleich. Doch er klammerte sich an seinen letzten Hoffnungsschimmer: »Aber er lebte noch, als sie ihn fortbrachten?«



Jean nickte. »Vielleicht…«, versuchte er, Brix Mut zuzusprechen, »…haben sie ihn nach Hause geschickt. So lange ist es nicht her, er erholt sich bestimmt noch,

si Dieu veut.

«

…wenn Gott will.



Brix ließ Jean langsam los, seine Fingerknöchel knackten dabei, weil er ihn derart fest gedrückt hatte. Er fühlte sich wie betäubt, zu schockiert, um es zu begreifen.



Gérard könnte ebenso gut wie viele andere an seinen Wunden gestorben sein. Niemand seiner Kameraden würde davon erfahren, wenn überhaupt jemand sein Gesicht unter all den Leichen in den Krankenhäusern erkennen würde. Allerhöchstens bestand die Chance, dass seine Mutter benachrichtigt wurde.



»Es tut mir leid«, flüsterte Jean betroffen, »ich weiß, dass er dir viel bedeutete.«



Brix starrte an ihm vorbei in die Leere. »Er war mir wie ein Neffe«, log er. Was hätte er sonst sagen sollen?



Jean versuchte zu lächeln und in seinen Augen lag ein allzu wissender Ausdruck. Er neigte nur noch den Kopf zum Abschied und ließ Brix allein in der Nische zurück.



Ausatmend lehnte er sich gegen die Wand des Unterstands und rieb sich das aschfahle Gesicht. Seine Hände zitterten heftig dabei. Er hatte so sehr gehofft, Gérard würde all dem fernbleiben, aber nun hatte er nicht nur das Grauen der Schlacht erlebt, er war vielleicht sogar tot.



Das Schlimmste, was hätte passieren können, war eingetroffen …



Nein! Sein Herz wehrte sich dagegen, diesen Gedanken auch nur zu formen. Gérard war verwundet worden, aber nicht tot. Wäre er dem Tode geweiht gewesen, hätten sie ihn zum Sterben einfach liegen lassen, statt ihn zurück in die Stadt zu bringen. Er musste irgendwo sein, und er war am Leben, das sagte ihm sein Bauchgefühl.



Du lebst

, dachte Brix entschlossen,

und ich werde erst wieder ruhen, wenn ich dich gefunden habe.




***




Die Kutsche fuhr über ein Schlagloch, und Brix erwachte aus seinem traumlosen Schlaf, als sein Kopf gegen die Wand donnerte.



Es kam ihm vor wie gestern, als er vor den General getreten war, um etwas zu erbitten, von dem er nie geglaubt hatte, dass er es wollen würde.



»Ihr wollt uns verlassen?« Sein Vorgesetzter war ebenso überrascht gewesen wie er selbst, als er diesen in seinem Quartier aufgesucht und vor dessen Tisch getreten war.



»Ich habe jahrelang ununterbrochen gedient. Selbst als ich verwundet war, machte ich mich nützlich, so gut ich konnte«, hatte Brix vorgebracht, seine Worte Stunden zuvor wohlbedacht zurechtgelegt, »und ich habe lange und geduldig darauf gewartet, dass man mich wieder in die Schlacht schickt, darauf bin ich stolz und ich bin dankbar. Es ist nicht so, dass ich nicht hier sein will, General, aber es gibt jüngere Männer …«



»Wir brauchen erfahrene Soldaten, Capitaine«, unterbrach er Brix. Doch er wirkte lediglich verwundert, nicht wütend. Allerhöchstens bedauernd.



Brix hatte sich geschämt, so sehr, dass er den Kopf senken musste. »Ich weiß«, seufzte er leise, »dennoch möchte ich darum bitten, die Front verlassen zu dürfen. Ich werde der Armee natürlich weiterhin dienen, doch jetzt … gibt es dringende Angelegenheiten, um die ich mich kümmern muss.«



Brix hatte sich, seit er denken konnte, nichts mehr ersehnt als ein Leben an der Front. Nicht etwa, weil er einen Drang zur Gefahr verspürt hätte, sondern da es für ihn die einzige Möglichkeit gewesen war, seinem adeligen Leben zu entfliehen. Doch dieses Mal musste er von seiner

guten


Abstammung

 profitieren, um nach demjenigen zu suchen, dem sein Herz gehörte.



Beschämt hatte er aufgeblickt. Und irgendetwas in seinem Gesicht musste den General erweicht haben, denn er seufzte und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Lange betrachtete er Brix wie ein Vater den jungen Sohn, der um Unabhängigkeit bat.



»Ich bin der letzte Mann in meiner Familie, abgesehen von meinem Jungen. Er ist jedoch erst fünfzehn, wenn ich mich recht entsinne.« Brix lächelte schief und freudlos. »Ich habe zwei Jahre lang gekämpft, General, freiwillig. Es gibt Männer aus geringeren Häusern, deren Dienstzeit nicht einmal die Hälfte von dem beträgt, was ich geleistet habe.«



»Die meisten davon sind tot.«



»Und ich würde ungern dazugehören und meine Familie ohne Oberhaupt zurücklassen.«



Der General kratzte sich an seinem dichten, grauen Bart. Eine lange Narbe, die bereits verblasste, zog sich über seine Lippen und verzerrte seinen rechten Mundwinkel zu einem stetig grimmigen Lächeln. Nachdem er Brix noch einmal deutlich von oben bis unten gemustert hatte, seufzte er schwer und beugte sich über seinen Tisch. Er zog ein leeres Pergament heran, nahm die Schreibfeder in die Hand und tunkte ihre Spitze in ein Tintenfässchen. »Das wird Euren Männern nicht gefallen.«



»Mir gefällt es auch nicht, General«, hatte Brix ernüchtert zurückgegeben. Er fühlte sich wie ein Verräter, als er die Freistellung verlangte und schließlich entgegennahm. Aber er hätte sich nur selbst umgebracht, wäre er geblieben, weil er ununterbrochen an Gérard denken musste und welches Schicksal den jungen Burschen ereilt haben könnte. Derart zerstreut konnte er nicht kämpfen. Brix musste gehen, denn er musste Gérard finden. Dafür nahm er es in Kauf, allem den Rücken zu kehren, was er kannte und liebte.



Hätte er dazu doch nur vor zwei Jahren den Mut besessen, dann wäre Gérard nie verwundet worden! Brix konnte sich an allem nur selbst die Schuld geben.





Deswegen muss ich ihn auch jetzt finden.





Müde zwang er nun in der Kutsche die Augen auf und bemerkte, dass bereits die Abendsonne durch die Vorhänge fiel. Er strich den Stoff beiseite, während er sich den Kopf rieb, und blickte nach draußen. Der alles überlagernde Geruch von Unrat und Fäulnis schlug ihm ins Gesicht, während die Kutsche durch das Tor der Stadt fuhr. Wobei er den Duft nur deshalb so stark wahrnahm, weil er es einfach nicht gewohnt war, in eine so große Ansammlung von Menschen einzutauchen. Er mochte das Stadtleben nicht unbedingt, bevorzugte die Abgeschiedenheit seines Familienanwesens, wenn er nicht gerade mit einem Armeelager unterwegs war. Aber nirgends stank es so sehr wie in den Städten, wo viele Menschen, viel verschmutzten.



Brix hatte seit seiner Freistellung vom Dienst jedes Krankenlager von Gent bis nach Paris durchsucht, hatte voller Angst Leichenhaufen durchwühlt, und sich hoffnungsvoll bei jedem Helfer nach einem jungen Sergent mit dunkelbraunen Locken und blauen Augen erkundigt, doch Gérard blieb verschwunden, niemand erinnerte sich an ihn. Es hatte einfach zu viele Verletzte gegeben.



Schließlich war Brix nach Paris gereist, weil Gérard ihm erzählt hatte, dass er in den Straßen der Stadt groß geworden war, nachdem sein Vater im Krieg verschwunden war. Wenn Gérard noch lebte, hatten sie ihn höchstwahrscheinlich nach Hause gebracht. Und wenn nicht, würde seine Mutter vielleicht wissen, was mit ihm geschehen war. Wie er starb.



Brix verbrachte den Abend und die halbe Nacht damit, Ärzte und Hospitäler abzuklappern, wie ein Kaufmann Markstände. Er fragte herum, nötigte die Ärzte und freiwilligen Helfer zu Antworten, die sie ihm nicht geben konnten, sodass er mit jedem verstreichenden Augenblick und jedem erneuten ratlosen Kopfschütteln verzweifelter wurde.





Gérard, wo bist du?





Als er sich spät in der Nacht in einer noblen Stube eines prunkvollen Gasthauses auf dem Bett niederließ, packte ihn die Erschöpfung mit scharfen Klauen, und seine zunehmende Frustration wandelte sich in blanke Furcht.





Was, wenn ich ihn nicht finde?





Stöhnend rieb er sich die Augen mit den Handballen. Er konnte nicht einmal den Gedanken zulassen, dass er vermutlich niemals erfuhr, was mit Gérard geschehen war. Wie lange er noch gelebt hatte, und wo und unter welchen Umständen er letztlich seiner Verletzung erlag, sollte er bereits tot sein.



Brix seufzte und strich sich das kastanienbraune Haar aus der Stirn, krallte sich daran fest und versuchte, Hoffnung zu bewahren. Er war aus einem bestimmten Grund nach Paris gekommen. Wenn Gérard überlebt hatte, dann war er hier. Doch Brix zögerte, nach Gérards Mutter zu suchen, denn wenn er ihn dort nicht fand, würde er ihn niemals finden …




***




Am nächsten Tag war Brix sehr früh morgens auf dem Markt, um nach einer Fischhändlerin zu suchen. Er schimpfte sich umgehend einen Narren, weil er an jeder Ecke eine Händlerin erspähen konnte, die Fisch anbot.



Außerdem war der Platz derart überfüllt, dass er sich unendlich klein und verloren vorkam. Er wurde verschluckt von der Besuchermenge. Die Woge zog ihn einfach mit sich, er wurde angerempelt und zur Seite gestoßen, und die Menschen warfen ihm missbilligende und ungeduldige Blicke zu, weil er ihnen nur im Wege stand. Unzählige Geräusche und Gerüche drangen auf ihn ein, Händler brüllten durch die Standgassen. Ziegen, Lämmer, Schweine und Gänse blökten, quickten und gackerten in ihren Gattern. Es stank nach fauligem Obst, altem Fisch, vergammeltem Fleisch und Unrat. Er musste sich zusammenreißen, sich nicht sofort zu übergeben.



Er hasste den Markt, er hasste große Menschenansammlungen, er verabscheute den Lärm und den Gestank. Trotzdem würde er nicht eher gehen, bis er Gérard gefunden hatte. Oder zumindest einen Hinweis auf seinen Verbleib.



Eine Weile lief er von Stand zu Stand und fragte nach einem jungen, verwundeten Soldaten.



»Habt Ihr einen Sohn, Madame?«, fragte er jede Frau, die auch nur den geringsten Teil Waren aus dem Wasser anbot. Die meisten musterten ihn abfällig und schickten ihn grob wieder weg, nachdem er ihre Frage verneinte, ob er etwas kaufen wolle.



»Ich suche einen jungen Mann«, befragte er einen Fischer, der Waren zu einem Stand trug, »er war Soldat und wurde verwundet. Er ist hier aufgewachsen.«



»Einen jungen Mann, sagt Ihr?«, hakte der Fischer nach und schien sich an etwas zu erinnern, »ein verwundeter Soldat?«



Brix nickte und sah ihn hoffnungsvoll an, während er neben ihm herlief. Sein Herz machte einen Satz, und er stand kurz davor, in Tränen auszubrechen. »Ja!«, rief er erleichtert aus, »habt Ihr ihn gesehen?«



»Ja. Etwa einhundert von dieser Sorte«, gab der gealterte Mann gereizt zurück.



Brix verließ aller Mut. Er hatte gerade geglaubt, Gérard näher gekommen zu sein, aber dieser Fremde hatte nur mit ihm gespielt und sich einen zynischen Scherz erlaubt.



»Er stammt von hier«, erklärte Brix weiter, obwohl er bereits ernüchtert war und nur noch leer vor sich hinstarrte, »seine Mutter verkauft Fisch hier auf dem Markt, sein Name ist Gérard.«



Seufzend blieb der Mann stehen und sah über seine Kisten mit herausragenden Fischschwänzen hinweg Brix ins Gesicht. »Das schränkt die Suche auf fünfzig Burschen ein. Hört mal, Monsieur, es sind unzählige Straßenratten zur Armee gegangen, und unzählige kamen verstümmelt, gebrochen oder verwundet zurück. Ihr sucht die Nadel im Heuhaufen, gebt es auf.« Er richtete seine Kisten und ging weiter, nachdem er entschuldigend die Lippen hochgezogen hatte.



Brix ließ die Schultern hängen und sah ihm nach, er ignorierte das Gefluche und das Gedrängel, weil er stehen geblieben war. Bittere Enttäuschung erfasste ihn und schmetterte ihn nieder wie eine Flutwelle, die einen Strand verschluckte.



Er atmete tief durch, die Sonne ging bereits unter, und er hatte nichts erreicht. Es war ihm nicht einmal gelungen, den geringsten Hinweis auf Gérards Verbleib zu finden. Sein Liebster blieb spurlos verschwunden, und er fühlte sich auf der Welt plötzlich ganz allein, umringt von hunderten von Menschen.

 



Er trottete an den Rand des Marktes und setzte sich auf eine niedrige Mauer. Seufzend ließ er Schultern und Kopf hängen.

Was soll ich denn jetzt nur tun?



Er hatte natürlich nach Gérards Familiennamen gesucht, um eine Adresse herauszufinden. Doch jene, die er gefunden hatte, war eine veraltete gewesen. Das Haus gehörte schon seit Jahren einer anderen Familie. Gérards Mutter war mit großer Wahrscheinlichkeit im Armenviertel untergekommen, vielleicht sogar in einem Haus mit mehreren Bewohnern, die sich eine Stube teilten. Sie dort zu finden war noch unwahrscheinlicher, als sie auf dem Markt anzutreffen.



Sei es drum, er würde morgen wieder hingehen und sich wieder schräg ansehen und wegschicken lassen, weil er gar keine andere Wahl hatte.



Ohne ihn gehe ich hier nicht fort.

 Und wenn er sein Leben damit verbrachte, nach Gérard zu suchen, war es ihm gleich.




***




Am dritten Tag, als er über den Markt schlenderte, hatte er immer noch nichts herausgefunden. Weder kannte irgendjemand Gérard, noch seine Mutter. Doch er gab nicht auf und fragte verbissen weiter herum, ganz gleich, wie unhöflich er behandelt wurde. Je mehr Leute er ansprach, je deutlicher wurde ihm bewusst, dass diese Menschen Fragen nicht mochten.



Nicht die Hoffnung verlieren

, sagte er sich immer wieder vor und zog von Stand zu Stand. Die Ernüchterung und die Verzweiflung, die er am ersten Tag verspürt hatte, kratzte weiterhin an der Oberfläche, doch er unterdrückte jegliche Gefühle, die ihn daran hinderten, weiter zu suchen.



Es waren doch erst drei Tage, noch bestand Hoffnung. Auch wenn er sich selbst eingestehen musste, dass er wie ein Narr an dieses Vorhaben herangegangen war, da er angenommen hatte, es wäre nicht so schwer, einen Menschen zu finden.



Es besaß eine gewisse Melancholie, wenn er intensiver darüber nachdachte, dass ein ganzes Menschenleben einfach so spurlos verschwinden konnte. Im schlimmsten Fall würde Brix ihn niemals finden, was er jedoch nur herausfinden konnte, wenn er niemals aufhörte zu suchen.



Als der dritte Tag zu Ende ging, setzte er sich wieder auf die niedrige Mauer, band sein Haar im Nacken zum Zopf, und sah dabei zu, wie der Marktplatz sich nach und nach leerte.



Jeden Abend saß er im Schatten und betrachtete die Menge, die den Ort verließ, in der Hoffnung, Gérard unter ihnen zu erblicken.



Und wenn er schon tot ist?

 Diese Frage stellte er sich mehrfach täglich, doch er wollte sie sich nicht beantworten. Denn selbst dann würde er suchen. Selbst wenn er dann einem Leichnam aufspüren musste.



»Monsieur?«



Brix blickte verwundert auf, als der gealterte Fischer vor ihn trat, den er an seinem ersten Tag ausgefragt hatte. Immer mal wieder waren sie sich über den Weg gelaufen, aber stumm aneinander vorbei gegangen.



»Ja?« Brix runzelte abwartend seine Stirn.



Der Alte lächelte, was in seinem wettergegerbten Gesicht viele Falten schlug. Es wirkte verkniffen und wenig einladend, doch es schien ehrlich zu sein.



»Ihr sucht ja wirklich lange nach diesem Burschen«, stellte er freundlich fest. Er nickte Brix zu. »Was wollt Ihr denn von ihm?«



Brix starrte vor sich auf den Boden und schwieg für einen Moment lang betroffen. Dann sagte er wie zu sich selbst: »Mich entschuldigen.« Und ihn um Verzeihung bitten.



Darüber dachte der Fischer nach, bis Brix ihn fragend ansehen musste.



»Niemand wird Euch etwas erzählen«, erklärte der Alte dann entschuldigend, aber nicht bedauernd. Er zuckte mit den Achseln. »Ihr seid ein piekfeiner Herr, der ungemütliche Fragen stellt«, bemerkte er und deutete auf Brix` Kleidung, der daraufhin an sich hinabsah und sich dessen erst in jenem Augenblick so richtig bewusst wurde. »Und ihr fragt nach einem armen Burschen«, fuhr der Fischer fort, »das macht die Leute argwöhnisch. Hat er was angestellt? Und wenn ja, dann wird niemand ihn gesehen haben. Wisst Ihr, diese Menschen arbeiten hart für ihr Überleben, und sie sorgen für einander, da es sonst keiner tut.«



Brix hatte es von dieser Seite aus noch gar nicht betrachtet. Vielleicht sollte er mehr aussehen wie einer von ihnen. Aber er bezweifelte, ob er dann mehr Glück gehabt hätte, immerhin blieb er ein Fremder.



»Er hat nichts angestellt, sondern ich«, erklärte er und sah dem Fischer in die grasgrünen Augen, »und ich bin auf der Suche nach ihm, um ihm zu helfen! Ich hörte, er sei verwundet worden. Ich will nur … sichergehen, dass es ihm gut geht. «



Der Alte nagte auf der Innenseite seiner Wange herum, während er Brix nachdenklich betrachtete. Eine endlose Aneinanderreihung stiller Momente verstrich, ehe der Fischer schließlich nickte, als habe er für sich etwas entschieden.



»Seine Mutter hat für mich gearbeitet«, verkündete er plötzlich, woraufhin Brix aufsprang, »sie verkaufte den Fisch für mich und bekam einen Anteil der Tageseinnahmen.«



Brix trat auf ihn zu, den starken Geruch nach salzigem Meerwasser und Fisch ignorierend. »Wisst Ihr, wo ich sie finden kann?«



Der Fischer nickte erneut und deutete mit dem Daumen über die Schulter. »Ich bringe Euch zu ihr, wenn …« Er hob die Augenbrauen und sah auffordernd an Brix herab.



Zunächst verstand Brix nicht, was der Alte wollte, und schüttelte ungeduldig seinen Kopf. Doch der drängende Blick des Fischers, ließ ihn darauf kommen, was dieser begehrte.



»Natürlich!« Er schimpfte sich einen Narren, als er nach seinem Beutel griff und den Mann bezahlen wollte. Er ließ die Münzen in der Faust klimpern und sagte zu dem Fischer: »Bringt mich hin, dann gehört der Inhalt meiner Hand Euch.«



Der Alte zögerte kurz, und er schien in Brix´ Gesicht zu starren, um herauszufinden, ob er wirklich darauf bestand, oder ob man mit ihm verhandeln konnte. Schließlich kam er zu dem Schluss, dass Brix eisern blieb und zuckte mit den Achseln. »Wie Ihr wünscht.«



Dann ging er voraus.



Hoffentlich führt er mich nicht in eine Gasse und raubt mich aus

, dachte Brix, ehe er mit einem mulmigen Gefühl im Magen folgte.



Nicht, dass er um seinen Geldbeutel getrauert hätte oder sich nicht hätte wehren können, er würde es nur nicht ertragen, wenn erneut mit seiner Hoffnung gespielt wurde, und sie letztlich wieder in tausend Stücke zerbrach.



Brix wurde in das Viertel der ärmeren Stadtbewohner geführt, wo Huren sich in dunklen Ecken mit geöffneten Miedern der Laufkundschaft anboten. Ganz wie er angenommen hatte, wohnte hier irgendwo Gérards Mutter.



Übelkeit stieg in seiner Kehle hoch, und das nicht nur wegen des beißenden Geruches von Dreck und Unrat, oder wegen der Ratten, die über seine Stiefelspitzen sprangen, als sie die Gassen überquerten, sondern, weil er sich Gérard vorstellte, der als kleiner Junge genau hier aufgewachsen war, zwischen Ratten, Unrat und Huren.



Der Fischer führte ihn in eine Sackgasse. Als Brix um die Ecke bog, spannte er sich unwillkürlich an, da er bereits mit einem Hinterhalt rechnete. Kampflos würde er sich nicht überfallen lassen.



Doch in dieser dunklen Straße stand nur eine alte Frau, die aus einem Flechtkorb alte Brotkrumen warf, um freilaufende Hühner zu füttern.



»Elenora!«, rief der Fischer und winkte, »hier sucht so ein feiner Schnösel nach deinem Jungen.«



Brix starrte die Frau einfach nur an, als sie sich aufrichtete und zunächst verwundert, und dann freundlich lächelnd zwischen ihnen hin und her sah.



Sie war eine mütterliche Frau, äußerlich wie charakterlich, die eine liebevolle Wärme aus jeder Pore auszustrahlen schien, dass er sich unverzüglich bei ihrem Anblick fühlte, als wäre er zu Hause, obwohl er in einer dreckigen, stinkenden Gasse stand.



Ihr Körper war klein und rund, aber ihre dunklen Haarwellen besaßen Gérards Farbe und seine zarten Locken. Ihr Lächeln war seines, ihre Augen waren seine, ihre Nase war seine. Die Ähnlichkeit war verblüffend und Sehnsucht erweckend.



»Ja bitte?«, fragte sie und sah Brix herzlich entgegen.



Brix blinzelte seine Verwunderung fort. »Verzeihung, Madame, ich …«



»Er sucht Gérard, Elenora«, fiel ihm der Fischer ungeduldig ins Wort und erlangte so die Aufmerksamkeit der Frau, »hab ich doch gesagt! Er hat mit ihm gedient, oder so. Will sich erkundigen, was mit ihm ist.«



Brix sah von ihm zu ihr und fügte noch kummervoll hinzu: »Ich hörte, er sei verwundet worden und nicht zurückgekommen.«



Die Frau – Elenora – sah Brix plötzlich mit Argwohn an.