Die verrückten 70er

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Die verrückten 70er
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Kerstin Müller

Die verrückten 70er

Leben im Arbeiter- Bauernstaat von 1970 bis 1980

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Impressum neobooks

Kapitel 1

Karl-Marx-Stadt, Elisenstraße, 70er Jahre.

Meine Eltern und ich bewohnten eine kleine Zweiraumwohnung in der Elisenstraße.

Das Haus wirkte schon mit seiner maroden Außenfassade auf Mieter und Besucher bedrückend.

An fasst allen Mauerstellen nagte der Zerfall. Ständig lösten sich kleine Putzpartikel, die unaufhörlich auf dem Bürgersteig rieselten. So wurde dann allmählich immer mehr Ziegelwand sichtbar. Das große massive hölzerne Eingangstor schien der Einzige feste Halt dieser grauen Tristesse zu sein.

Im Hausflur wurde man erst einmal von einem ekelerregenden Gestank begrüßt, der von den zwei kleinen Holzbottichen für Essensabfälle herrührte. Auch die darauf befindlichen Deckel konnten den Geruch der Fäulnis nicht aufhalten. In den Sommermonaten war es ganz besonders schlimm,

weil dann ganze Scharen von Fliegen und Mücken um die Bottiche schwirrten.

Hatte man diese Hürde überwunden, befand man sich im Treppenhaus. Auch hier, nicht anders als draußen, bemerkte man wieder sofort den fortschreitenden Zerfall. Seit Anfang der 60er Jahre ist hier nicht viel gemacht worden. Man konnte aber noch eine gewisse Farbgestaltung alter Zeiten erahnen.

Solche heruntergekommenen Mietskasernen waren in der DDR keine Seltenheit. In den Stadtkernen wurde sich noch etwas Mühe gegeben denn schließlich wollte man die Touristen aus dem westlichen Ausland nicht abschrecken. Sie brachten harte Währung ins Land und waren wichtig für die Wirtschaft. Auch wenn das keiner zugeben wollte, schon gar nicht die Regierenden.

Die Vorzeigeobjekte wurden instand gehalten und das verursachte schon ungeheure Kosten. Da war es einfach nicht mehr möglich, an die vielen maroden Altbauten außerhalb der Stadtkerne zu denken. Dafür fehlte den Staat schlicht und ergreifend das Geld.

Außerdem mangelte es an allem Rohstoffe mussten mit harten Devisen eingekauft werden und dem zufolge,schlitterte das Land in eine katastrophale Misswirtschaft, die die Menschen immer unzufriedener werden ließ.

Unser Haus wurde von elf Mietparteien bewohnt, die ihre Toiletten jeweils eine Etage tiefer besuchen mussten, um ganz normalen menschlichen Bedürfnissen nachzugehen. Eine mittig gesetzte Wand aus Holzlatten trennte zwei Kabinen mit jeweils zwei winzig kleinen Fenstern ab. Die Mittelwand reichte nicht ganz bis zur Decke. Sie war nur ungefähr zwei Meter hoch. Wenn dann gleichzeitig zwei Nachbarn gerade die Toiletten benutzten, konnte es peinlich werden. Wer möchte schon gern die Furz-Geräusche eines Fremden neben sich hören.

Die einzelnen Wohnungen waren mit Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche und Flur ausgelegt. Kinderzimmer und Badezimmer gab es nicht. Entweder die Kinder schliefen zusammen mit ihren Eltern oder die Eltern stellten allabendlich ihre Bettstellen im Wohnzimmer auf.

Zum Baden wurden alte Zinkbadewannen vom Dachboden geholt und quer in die Küche gestellt. Dann postierte man mehrere riesige Töpfe mit randvoll Wasser auf dem Herd. Es konnte lange dauern, bis die Töpfe mit dem Wasser heiß waren. Der Herd war alt und gusseisern. Wenn Papa ihn anheizte, erzeugte das eine wunderbare, warme behagliche Atmosphäre.

Das Baden fand bei dem meisten Familien freitags abends statt. Als die Zinkbadewanne endlich mit heißen Wasser aufgefüllt war, stieg zuerst das Kind der Familie in die Wanne. Dann kam die Mutter an die Reihe und zuletzt der Vater. Natürlich alle im gleichem Wasser. Es wäre viel zu aufwendig gewesen, bei jedem Badegang neues heißes Wasser einzugießen. Außerdem hätte es zu lange gedauert, das alte Badewasser zu entsorgen. Dazu brauchte man nämlich einen kleineren Topf zum Abschöpfen. Das hieße wiederum Endloses in die Wanne bücken, schöpfen, sich zum Waschbecken drehen und das verbrauchte Wasser darin entsorgen. Man hätte ja Tage damit verbracht. Mit Hygiene hatte diese wöchentliche Reinigungsprozedur nichts zu tun aber wenigstens das erste Kind brauchte sich nicht vor dem verbrauchten bläulichen Seifenrestwasser zu ekeln.

Wir lebten in der ersten Etage rechts. Unsere Tür zierte der Namenszug Mehlhorn. Meine Mutter Irmgard, mein Vater Herbert und ich, Katrin, waren die Familie Mehlhorn. Unsere Nachbarin, die in der Mittelwohnung lebte, hieß Kurze. Als ich drei Jahre alt war, das war 1965, starb ihr Mann ganz plötzlich. Opa Kurze spielte sehr oft mit mir Verstecken. Am Tag seines Todes dachte ich auch das er wohl mit mir Verstecken spielt. Es war ganz eigenartig. Frau Kurze klingelte an der Tür und noch bevor ich als 3-jähriges kleines Mädchen ihren Gemütszustand realisieren konnte, sah ich Herrn Kurze hinter ihr im Treppenhaus auf dem Bauch liegen. Ich quietschte vor kindlicher Freude und war gerade im Begriff mich auf seinem Rücken zu setzen. Das Pferdchen-Spiel mit ihm hatte doch immer so viel Spaß gemacht. Als ich breitbeinig über seinem Hinterkopf stand um zum Sprung anzusetzen riss mich meine Mutter zurück. Später erklärte sie mir das er zu dem Zeitpunkt schon Tod gewesen sei. Ihm wurde plötzlich schlecht und er wollte hinunter zur Toilette. Dabei erlitt er einen tödlichen Herzinfarkt. Das war also meine erste Begegnung mit dem Tod, die mir im Nachgang überhaupt nicht dramatisch erschien. Meine Mutter hatte die Befürchtung, dass ich ein Trauma von diesem Erlebnis davon tragen könnte. Ich bekam dadurch eher das Bild vermittelt: Der Tod ist ein Spielgefährte, vor dem man keine Angst haben muss.

Seit dem Tod ihres Mannes heftete sich Frau Kurze penetrant an die Fersen meiner Eltern. Aus Mitleid lud meine Mutter sie zu jedem unserer Familienfeste ein. Jedoch konnte Tante Käthe, die Schwester meiner Mutter, Frau Kurze nicht leiden und zu einem meiner Geburtstage kam es dann zum Eklat.

Tante Käthe hatte in allem einen ungewöhnlich hässlichen Geschmack. Dazu gehörte auch ihre Vorliebe für Giftgrün. Sie liebte es, Mäntel und Hüte mit dieser Farbe zu tragen.

Meine Mutter sammelte schon seit vielen Jahren sogenannte Sammeltassen. Jede dieser Kostbarkeiten hatten alle verschiedene Farben und Designs. Eine Tasse war darunter die den ungewöhnlichen Geschmacksvorlieben von Tante Käthe entsprach. Tasse und Untertasse hatten die Farbe Giftgrün. Meine Mutter hielten einzig und allein nur die wunderschönen weißen Blätter darauf ab, das ungeliebte Geschirr in die Mülltonne zu befördern.

Mutter deckte den Tisch und stellte jedem Gast eine hübsche Sammeltasse vor die Nase. Ausgerechnet Frau Kurze bekam die Giftgrüne. Tante Käthe fühlte sich sofort persönlich angegriffen. Das fühlte sie sich eigentlich immer aber diesmal war es schlimmer denn schließlich sollte meine Mutter ihre Schwester kennen und genau wissen, das sie bei jedem ihrer Besuche diese giftgrüne Tasse bekam. Warum also diesmal nicht? Sofort bezog sie diese Handlung auf die Rangordnung einer Beliebtheitsskala zurück. Da nun Frau Kurze diese, von meiner Tante äußerst begehrte Tasse erhielt, fühlte sie sich ihr gegenüber minderwertiger. So als würde meine Mutter diese fremde Frau ihrer eigenen Schwester vorziehen. Was im Prinzip nicht verwunderlich gewesen wäre denn Käthe konnte nerven, vor allem meinen Vater und mich. Wir hielten uns dem lieben Frieden halber zurück aber das klappte auch nicht immer.

Unvermittelt begann Tante Käthe an der großen Kaffeetafel an herum zu keifen wie ein altes Marktweib. „Irmgard, was denkst du dir nur dabei? Willst du mich provozieren und mich vor deiner Nachbarin demütigen?“ Die schroffen Worte ließen meine Mutter aus allen Wolken fallen, zumal sie ihren vermeintlichen Fehler überhaupt nicht realisierte. Sie hatte alle Hände voll zu tun und wollte es den Gästen recht machen. Frau Kurze bot an die Tassen zu wechseln aber das lehnte Tante Käthe wiederum beleidigt ab. Daraufhin stand Frau Kurze auf, verabschiedete sich von allen Anwesenden und verließ gekränkt unsere Wohnung. Als sie dann verschwunden war, fand mein Vater ein paar gewichtige Worte: „Na Käthe hast du es wieder einmal geschafft? Musste das jetzt sein?“ „Na das war ja wiedermal klar Herbert, das du Partei für eine fremde Frau ergreifst!“ zischte Tante Käthe zu Tode gekränkt zurück, schnappte ihre giftgrüne Handtasche und verließ ebenfalls die Wohnung. Danach lehnte sich mein Vater bequem zurück und meinte zu den restlichen Gästen: „So meine Lieben, jetzt kommen wir zum gemütlichen Teil, die giftgrüne Giftspritze ist weg!“ Alle lachten und konnten nun die Feier ohne Zwischenfälle genießen.

 

Auf unserer Etage wohnte noch die Familie Peters. Simon Peters war ein fasst zwei Meter großes kräftiges Mannsbild. Ihn sah man nur selten, weil er in Schichtrhythmus im VEB-Webstuhlbau arbeitete. Eigentlich arbeiteten fasst alle aus unserem Mietshaus dort. Nur eben in verschiedenen Abteilungen, sodass sie sich nicht ständig über den Weg liefen. Das war auch besser denn so hätte man noch mehr Klatsch und Tratsch auf der Haustreppe weiter verbreiten können. Auch meine Mutter, Irmgard Mehlhorn, arbeitete dort halbtags in der Abteilung Urmik. Urmik..., bis heute weiß ich mit diesen ungewöhnlichen Begriff nichts anzufangen. Es war so eine Art Büro für manuelle Vervielfältigung. Computer und Kopierer gab es noch nicht. In den großen Sommerferien hab ich dort jedes Jahr zwei Wochen mein Feriengeld aufgebessert. Ich weiß nur das ich endlos Karteikarten mit irgendwelchen Nummern abstempeln musste.

Brigitte Peters war Russisch-Lehrerin. Sofort wurde sie unter Kategorie „Vorsicht Partei“ in die Mietergemeinschaft eingeordnet. So kam es das sich keiner großartig mit ihr abgab.

Sie war ebenfalls ziemlich groß, allerdings um das Dreifache dünner als ihr Mann. Sie war also extrem schlank und hatte sehr lange Beine die eine heftige X-Form aufwiesen. Als sie mit dem ersten Kind schwanger wurde, nahm diese auffällige Beinstellung immer mehr zu. Man gewann den Eindruck das der Oberkörper mit dem zunehmend dicken Bauch die Knie immer weiter in die Tiefe drückten. Auffällig war auch ihr außergewöhnlicher Gang. Es hatte etwas von einer Kreuzung zwischen Giraffe und Eierbecher. Wir wussten als Kinder, dass man schwangere Frauen nicht belächelt und ich fand, die werdenden Mütter sowieso immer wunderschön mit ihren dicken Kugelbäuchen, aber bei Frau Peters konnte sich wirklich niemand von uns zurückhalten. Es war einfach zu komisch.

Eine Wohnung unter uns, im Erdgeschoss wohnte Familie Mayer. Beide waren um die 50.

Herr Mayer war krankhaft eifersüchtig auf seine Frau. Ständig gab es Streitigkeiten wegen angeblicher Liebhaber, die sie empfing, während er seiner Arbeit nachging.

Also von Liebhabern hatten wir nie etwas mitbekommen. Uns verwunderte nur, dass sie oft und gern Fenster putzte. Vor allen Dingen dann, wenn wieder einmal die Straße vorm Haus, durch schicke Bauarbeiter geflickt wurde. Mit anmutigen Putzbewegungen, in einem extrem kurzen Mini, animierte sie so lange mit ihren Reizen, bis sie von einem der Sexpack-Jungs angesprochen wurde.

Wir Kinder beobachteten die ganze Szenerie, vom gegenüberliegenden Hauseingang aus, und wenn es soweit war, dass sich die Beiden angeregt unterhielten, setzten wir unsere Wetteinsätze.

West-Matchbox-Autos gegen glitzernde West-Stammbuch-Blümchen. Die Autos befürworteten die Tatsache, dass sie von ihrem Mann ertappt wird und die Stammbuch-Blümchen setzten dagegen. Sie hatte immer Glück und ich erhielt meine begehrten Glitzerbildchen.

Neben Familie Mayer lebte Frau Röder in einer Einraumwohnung. Sie hatte einen kleinen Pinscher. Der Hund zitterte bei jeder Begegnung mit Menschen wie Espenlaub. Er hatte vor allem und jedem Angst. Wenn Frau Röder ihre Wohnungstür öffnete und man sich zufällig in der Nähe befand, wehte einem ein widerlicher Moder-Gestank um die Nase. Da es aber gleich die erste Wohnung nach dem stinkendem Hauseingang war, konnte man sich antrainieren von der Haustür aus bis hin zum ersten Stock die Luft anzuhalten. Wenn man einigermaßen zügig lief, waren diese Hindernisse ganz gut zu bewältigen. Ich glaube so machte das jeder Bewohner unseres Hauses.

In der Wohnung über uns im 3. Stock thronte das Viermieterehepaar Gisela und Otto Nebel.

Frau Nebel hielt ihre Mieter durch eiserne Unnahbarkeit auf Distanz. Ihr Lächeln beim Grüßen wirkte erzwungen. Mit den kostbaren Pelzen, die heutzutage Tierschutz-Aktivisten auf den Plan rufen würden, stellte sie deutlich klar, in welcher privilegierten Position sie sich uns gegenüber befand. Otto Nebel hatte nicht viel zu melden.

Sie war die Erbin einer der letzten großen Dynastien in Sachsen. Ihren Eltern gehörten früher eine große Anzahl von Häusern, die nach und nach durch das kommunistische System enteignet wurden.

Dieses Haus war das letzte private Mietshaus was ihnen blieb um letztendlich, Anfang der 70iger, auch noch verstaatlicht zu werden. Sie blieben aber für uns das Vermieter-Ehepaar.

Otto Nebel war so etwas wie Prinz Philipp von England. Der lief auch immer einen Schritt hinter der Königin. Aber er war, vor allem uns Kindern, immer etwas unheimlich. Jedes Mal wenn wir Mädchen kopfüber an der Teppichklopfstange hingen und so unsere Schlüpfer gut sichtbar wurden, stand Otto hinter der Gardine und schaute die ganze Zeit über zu. Wir bemerkten ihn immer und machten uns einen Spaß daraus den alten Knacker, wie wir ihn nannten, an der Nase herumzuführen. Natürlich wussten wir damals nicht viel von pädophilen Neigungen und so naiv, wie wir noch waren, vermuteten wir eh nur eine harmlose Vorliebe für kleine Mädchen. Jedoch bemerkte ich, viele Jahre später als Teenager, dass er ausgesprochen lüstern auf meine Beine mit den modernen roten Lackstiefeln schielte.

Neben den Nebels, in der Mittelwohnung fristete die alte Frau Schubert ihr Dasein. Frau Schubert war Frau Nebels Mutter. Die alte Dame konnte einen wirklich leidtun denn Gisela verbot ihrer Mutter mit den Mietern zu sprechen. Einmal hatte ich aber die Gelegenheit Frau Schubert auf der Treppe zu treffen. Sie bat mich zu sich, kochte Kakao und stellte eine große Keks-Kiste vor mir auf dem Tisch. Langsam betrachtete ich alle Bilder an den Wänden. Sie erzählten eine Geschichte längst vergangener Zeiten. Frau Schuberts Familie mussten sehr reiche Leute gewesen sein denn noch nie hatte ich an irgendwelchen Wänden solche schönen Häuser auf eingerahmten Fotografien gesehen. Ich fragte mich, warum diese Frau so freundlich war. Sie hätte doch, eher als ihre Tochter Gisela, auf uns herab schauen können. Schließlich hatte sie die besten Schulen besucht und zu jener Zeit die teuerste Mode getragen. Wenn sie darüber sprach, klang jedes Wort gewählt und irgendwie vornehm. Ich ertappte mich bei dem Gedanken genau so vornehm sein zu wollen wie sie. Es unterschied sie von allen Menschen, die ich bisher in meinem kurzen Leben kennengelernt hatte.

Sie strahlte eine fasst königliche Anmut aus. Ihre silbergrauen Haare hatte sie zu einem Haarknoten zusammengesteckt. Der zarte Goldschmuck, den sie an Ohren, Hals und Händen trug, umschmeichelte ihre hagere Gestalt. Ihr schwarzes Kleid besaß einen Stehkragen der bis zu ihrem Kinn reichte. Daran war in der Mitte eine wertvolle Brosche befestigt.

Es blieb die einzige und letzte Begegnung vor ihrem Tod aber den Eindruck, den sie bei mir hinterließ, der hielt bis zum heutigen Tage an.

Links auf dieser Etage lebte Familie Beyer. Mutter Helga, Vater Johannes, der als Geizkragen galt, und Sohn Peter.

Helga war eine sehr hübsche Blondine mit einer makellosen Figur. Wenn sie die Straße entlang lief, drehte sich wirklich jeder Mann interessiert nach ihr um. Auch meinen Vater ertappte ich des Öfteren dabei. Er sagte einmal zu meiner Mutter: „Kannst du mir mal verraten, wieso so eine Sex-Bombe mit so einem unscheinbaren Trottel zusammen ist?“ Mutter reagierte angegriffen und gab ihm eine fette verbale Ohrfeige zurück: „Ja klar, du wärst mit Sicherheit die bessere Wahl gewesen aber leider, mein Bester, steht sie nicht auf alte Männer.“ Das saß und Vater verzog sich ohne ein weiteres Wort hinter seine Zeitung.

Meine Mutter hatte die Gabe, zielgerichtet und punktgenau in knappen Sätzen, meinen Vater ihren Standpunkt zu vermitteln. Sie diskutierte nie lange. Kamen Streitigkeiten auf die in jeder Ehe vorkamen, erklärte sie meinem Vater mehr als deutlich, dass er in ihrem Augen zwei linke Hände hat und demzufolge mal besser den Mund halten sollte. Das versetzte meinen Vater so in Rage, dass er zu schreien begann. Allerdings lies das „Möchtegern-Alpha-Gehabe“ meine Mutter vollkommen unbeeindruckt.

Mutter war wirklich die begabteste und talentierteste Frau, die ich je kennengelernt hatte. Alles machte sie allein. Nun ja sie war in gewisser Weise gezwungen dazu, denn Vater konnte weder in handwerklichen Dingen, noch in anderen Lebensbereichen, wo Kreativität gefragt war, mit Erfolgen aufwarten. So kam es das sie alle zwei Jahre, meist bevor sich Westbesuch ansagte, die Wohnung tapezierte. Einmal versuchte mein Vater, eine neue Garderobe im Flur anzubringen. Als die Bohrarbeiten nicht so liefen wie er es sich vorstellte, drückte er den Bohrer mit Brachialgewalt ins Mauerwerk. Daraufhin stürzte die Wand zur Küche ein und Mutter stand völlig geschockt in einen Haufen zerbrochener Ziegel.

Darauf hin gab es ein Mordsgeschrei: „Herbert bist du nicht einmal in der Lage eine Flurgarderobe anzubringen? Es kann doch nicht sein das gleich alles zusammenbricht!“ Dann nahm sie ein größeres Ziegelstück und warf es wutentbrannt meinem Vater hinterher. Der flüchtete schnell wieder hinter seine Zeitung, wo er immer zu finden war, wenn es Theater gab. Nach diesem Vorfall wurde erst einmal zwei Wochen nicht mehr miteinander geredet. In der Zwischenzeit reparierte Mutter geduldig die kaputte Wand. Sie war froh, wenn er in seinem Betrieb den VEB 1. Maschinenfabrik Karl-Marx-Stadt, seiner Tätigkeit nach ging. Da konnte er wenigstens zu Hause kein Unheil anrichten.

Wenn Beyers zu einem Ausflug aufbrachen, wurde eine große Tasche mit Essen und Trinken gepackt. Johannes Beyer kaufte seiner Familie nicht einmal bei 30 Grad Hitze im Sommer eine kühle Limonade. Das sah er als raus geschmissenes Geld an.

Peter Beyer wurde streng von seinem Vater erzogen. Die Schulnote 3 wurde nicht akzeptiert und so kam es, wenn ich klingelte und fragte ob Peter mit mir spielen dürfe, häufig ein Nein als Antwort bekam. Er durfte so lange nicht draußen spielen, bis er sich verbessert hatte. Da hatte ich mit meinen Eltern ja enormes Glück. Die waren schon zufrieden, wenn ich keine 5 in einer Klassenarbeit einkassierte. Bei einer 5 konnte man schließlich schon sitzen bleiben. Da ich aber hervorragend in der Lage war die Unterschrift meiner Mutter zu fälschen, bekamen sie schlechte Noten eh nur selten zu sehen. Sie wunderten sich aber des Öfteren darüber, dass wir so wenig Zensuren bekamen. Sie wussten ja nicht das ich nur die guten Noten vorzeigte. Wenn dann Elternabende anstanden, musste ich mir immer etwas einfallen lassen denn sie durften auf keinem Fall hinter meine kleinen Manipulationen kommen. Das hätte mir nur eine Menge Ärger eingebracht und viele Tage Hausarrest noch dazu.

Meist versicherte ich ihnen das alles in Ordnung sei und ihre Anwesenheit nicht unbedingt erforderlich wäre. Das klappte lange sehr gut, bis eines Tages meine Versetzung gefährdet war. Da flog mein ganzes Lügengerüst auf und mir stand eine schwere Zeit bevor. Mit Nachhilfe und ein wenig Fleiß meinerseits konnte ich aber noch einmal das Steuer herumreisen und meine Schulnoten enorm verbessern. Mein Vater hatte schon Recht wenn er sagte: „Du bist nicht dumm, nur stinkend faul meine Liebe!“

Ganz oben, in der vierten Etage links, gab es die Familie Zöllner. Die Kinder Renate, Klaus und Bernd teilten mit ihren Eltern Margot und Helmut den viel zu engen Wohnraum.

Die Zöllners waren sehr gläubige Leute. Jeden Sonntagmorgen gingen sie, mit ihren Gesangsbüchern unter den Armen, zur Andacht in die Kirche. Ihr offenes Bekenntnis zum Glauben brachte ihnen viel Ärger ein. Die einzige Religion, die der Arbeiter und Bauernstaat akzeptierte, war die Anhängerschaft zur SED, der Einheitspartei der Deutschen Demokratischen Republik.

Da sie sich aber von ihrem starken Gottesglauben nicht abbringen ließen, wurden die Söhne nicht zum Studium zugelassen. Klaus wollte so gern Architektur studieren aber dafür hätte er seinen Glauben verraten müssen. So wurde nichts aus seinen Träumen.

Bernd war beizeiten schon ein frühreifes Früchtchen. Meine Mutter merkte das natürlich viel eher als ich und verbot mir den Umgang. Eigentlich spielte ich nicht oft mit ihm, weil ich mich in seiner Gegenwart immer etwas unwohl fühlte. Er war aber der Einzige, der in den kalten Wintermonaten mit mir Rodeln ging. Ich liebte es, durch den Pulverschnee den Berg herunter zu schlittern. Da überhörte ich seine komischen Fragen nach meiner körperlichen Beschaffenheit. So als hätte er hinter mir auf dem Schlitten nicht ertasten können das sich bei mir vorn kleine Erhebungen bemerkbar machten. Außerdem hatte er für mich die hässlichsten Hände der Welt. Nie zuvor hatte ich bei jemanden solche Einkerbungen gesehen. Die Finger waren übersät davon. Erst dachte ich das rührt von Messerstichen her, aber nein, bei näherer Betrachtung erkannte ich, dass diese Dellen angeboren sein mussten.

 

Seine Schwester Renate war einige Jahre älter. Sie grüßte die Hausleute immer sehr übertrieben freundlich. Um so mehr schockierte mich ihre extreme Wesensveränderung als sie ihren ersten festen Freund mit nach Hause brachte. Von heute auf morgen grüßte sie nur noch knapp. Von ihrer früheren freundlichen Art blieb so gut wie nichts mehr übrig. Später erfuhren wir durch den Haustratsch, dass der Typ verheiratet sei und zwei Kinder hätte. Mein Vater konnte sich maßlos darüber aufregen, obwohl ihm das Leben der Zöllners überhaupt nichts anging. Er wiederholte dann ständig diesen Satz: „Ja ja die Heiligen, machen einen auf fromm aber lassen über die Hintertür die Ehebrecher ins Haus.“ Ich weiß nur das Renate den Mann dann einige Jahre später geheiratet hat und ihre Ehe kinderlos blieb.

Vater Helmut Zöllner war ein richtiger Künstler. In den Sommermonaten saß er immer auf einen Hocker in unserem Hinterhof. Dort bezog er viele selbst gebastelte Holzrahmen mit Leinwänden. Auf den Leinwänden malte er, ohne Vorlagen, mit Bleistift die Konturen selbst kreierter Kunstwerke. Neben ihm standen viele kleine Kartons mit verschiedenen bunten Wollknäueln, die sich im Laufe seiner Arbeit aufbrauchten. Unmengen von Fäden der unterschiedlichsten Farben durchzogen das Öhr seiner Stopfnadel. Wir Kinder saßen zu seinen Füßen und schauten gebannt zu wie aus den bunten Wollfäden wunderschöne Bilder wurden. Ab und zu kauften die Leute aus unserem Haus ihm so ein Bild ab, auch meine Mutter hatte einen echten Zöllner an der Wand. Darauf waren zwei kunterbunte Papageien zu sehen, die es sich auf einer Palme gemütlich machten.

Viele Jahre hing dieses Kunstwerk in unserem Wohnzimmer über der Couch.

Margot Zöllner ging stets in gottesfürchtiger Haltung. Sie hinterließ keine Geräusche beim Gehen. Ich erschrak immer aufs Heftigste wenn sie urplötzlich vor mir stand. Sie war die personifizierte graue Maus in flachen Gesundheitsschuhen. Ihre braunen kurzen Haare kämmte sie immer streng nach hinten. Ihr aschfahles Gesicht lies sie viel älter wirken und der graue Trenchcoat, den sie stets trug, verlieh ihr einen Hauch von Mutter Theresa. In meiner Naivität glaubte ich das alle religiösen Frauen so aussehen. Ich kannte ja sonst weiter keine gottesfürchtigen Menschen.

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