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Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde

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Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Diese kleine Literaturgeschichte verfolgt weder philosophische noch philologische Absichten. Sie ist nichts als der Versuch einer kurzen, volkstümlichen, lebendigen Darstellung der deutschen Dichtung. Die Dichtung eines Volkes beruht auf dem Eigentümlichsten, was ein Volk haben kann: seiner Sprache. In diesem Sinne wird und soll sie immer »völkisch« sein. Die deutsche Dichtung ist vergleichbar einem Baum, der tief in der deutschen Erde wurzelt, dessen Stamm und Krone aber den allgemeinen Himmel tragen hilft. Es gibt eine deutsche Erde. Der Himmel aber ist allen Völkern gemeinsam.

Blüten vom Baum der deutschen Dichtung mögen vom Winde da- und dorthin getragen werden. Zu Früchten reifen werden nur die, die am Baum bleiben. Sie werden im Herbst geerntet werden, und im Schatten des Baumes wird ein ganzes Volk sich an ihnen erquicken.

*

Jener germanische Jüngling, der einsam im Eichenwald am Altare Wodans niedersinkend, von ihm, der jeglichen Wunsch zu erfüllen vermag, in halbartikuliertem Gebetruf, singend, schreiend, die Geliebte sich erflehte, dessen Worte, ihm selbst erstaunlich, zu sonderbaren Rhythmen sich banden, die seiner Seele ein Echo riefen, war der erste deutsche Dichter.

Wie eine Blüte brach ihm das Herz in einer Nacht auf, daß es der Sonne entgegenglühte, eine Schwestersonne. Daß er dem Sonnengott sich als geringerer Brudergott verwandt fühlte, daß er Worte fand in seinem Munde wie nie zuvor. Unbewußtes ward bewußt. Liebe machte den Stummen beredt. Er sang einen heiligen Gesang. Er neigte sich dem Gott, er neigte sich der Geliebten, er versank vor sich selbst. Himmel, Erde, Mensch verschmolz in seinem Gedicht. Die Sehnsucht wurde Wort, das Wort wurde Erfüllung. Aller Dichtung Urbeginn ist die Liebe. Der Weg zur Liebe führt durch Haß und Kampf und Schmerz. Der Urmensch sang den Haß gegen den Feind, den Feind seines Gottes und Räuber seines Weibes. Er singt den Schmerz seiner im Weltall verlorenen einsamen Seele, die dahinfliegt wie ein Meervogel über den Ozean, und nur die Sonne ist ihre Hoffnung. In ihr verehrt er Gottes Auge, das ihn beglänzt, jeden Tag neu, nach fürchterlicher Nacht. Und er sieht auch in sich die ewige Nacht, aus der er nur immer kurz zu Dämmerung und Helle erwacht, und seine Sehnsucht sucht die Nacht immer mehr mit Licht zu erfüllen. Und das Licht zeigt ihm den langen mühseligen Weg des Menschen, welcher aus Finsternis und Sumpf emporführt zu Licht und Gebirg, bis über die Wolken, bis an Gottes Thron selbst.

Eines der ältesten deutschen Sprachdenkmäler ist das Wessobrunner Gebet, um 800 entstanden, voll großer Anschauung und starker dichterischer Kraft. Karls des Großen Biograph Einhart († 840) erzählt, daß Karl der Große alle alten Sagen habe aufschreiben lassen. Leider haben seine frömmelnden Nachfolger, von unverständigen Pfaffen aufgereizt, dafür gesorgt, daß derlei »heidnisches« Zeug ausgerottet wurde, wo es sich zeigte. Unersetzbares ist verloren gegangen. Als Ersatz werden uns blasse, versifizierte Heiligenlegenden und Christusgeschichten aufgetischt. Unter den Nachfolgern Karls des Großen blüht, begünstigt von den Priestern, die lateinische Poesie. Da wir nur von der deutschen Dichtung, dem deutschen Wort sprechen wollen, gehört sie nicht in unsere Betrachtung. Die deutsche Sprache wurde höchstens dazu verwandt, um dem Laien heilige Texte zu übersetzen.

Das stolzeste Epos der Deutschen ist das Nibelungenlied (um 1210). Die sagenhafte deutsche Urzeit ersteht in den Rittern der Völkerwanderung noch einmal. Jeder der Helden: Siegfried, Hagen, Gunther ist ein Held seiner Zeit, aber mit den strahlenden Attributen der Vorzeit umgeben. »Welch ein Gemälde der menschlichen Schicksale stellt uns das Lied der Nibelungen auf«, schreibt A. W. von Schlegel. »Mit einer jugendlichen Liebeswerbung hebt es an, dann verwegene Abenteuer, Zauberkünste, ein leichtsinniger, aber gelungener Betrug. Bald verfinstert sich der Schauplatz; gehässige Leidenschaften mischen sich ein, eine ungeheure Freveltat wird verübt. Lange bleibt sie ungestraft; die Vergeltung droht von ferne und rückt in mahnenden Weissagungen näher; endlich wird sie vollbracht. Ein unentfliehbares Verhängnis verwickelt Schuldige und Unschuldige in den allgemeinen Fall, eine Heldenwelt bricht in Trümmer.« Haben wir nicht alle das Nibelungenlied am eigenen Leib und an eigener Seele verspürt? Ein unentfliehbares Schicksal hat uns, Schuldige und Unschuldige, in den allgemeinen Fall verwickelt, und eine Welt ist in Trümmer gebrochen.

Das Gudrunlied (um 1230) klingt sanfter, bürgerlicher, versöhnender aus. Zwar stehen auch hier Gewalttat und Schande am Anfang. Aber das Lied endet heiter mit einer vierfachen Hochzeit und hellen Blicken in eine rosenrote Zukunft, da kein Haß und kein Kampf mehr sein wird.

Der Minnesang war von Vaganten und fahrenden Sängern gepflegt und in Volksliedern von Mund zu Mund gegangen, ehe sich, unter dem romanischen Einfluß der Troubadoure, die deutschen Dichter seiner annahmen und die Frau als Geliebte und Gattin auf einen goldenen Thron setzten, wie man ihn auf mittelalterlichen Miniaturen der Madonna mit dem Jesuskinde weihte. Von Österreich nahm der Minnesang seinen Anfang. Der von Kürenberg sang um 1150 das Lied vom Falken, den er sich mehr denn ein Jahr gezähmt und der ihm dann »in anderiu lant« entflog. Ein Spielmann, genannt der Spervogel († 1180), dichtete die ersten lehrhaften Sprüche und Fabeln, z. B. vom Wolf, der in ein Kloster ging und ein geistlich Leben führen wollte. Im Kloster vertraute man ihm das Hüten der Schafe an. Die Nutzanwendung braucht man einem Menschen heutiger Zeit nicht besonders nahe zu legen. Derartige Wölfe – und derartige Schafe sind leider heute verbreiteter denn je.

Von 1160–1230 ritt Herr Walter von der Vogelweide durch die Welt. Er kam von Tirol, dort, wo die Berge das Eisacktal vom Himmel abschließen, wo man den Himmel in der eigenen Brust suchen muß. Er trieb seinen mageren, schlecht genährten Klepper durchs Burgtor von Wien, und die Ritter neigten sich vor ihm. Im Bischofssitz von Passau erklang sein Gelächter, das er dem Bischof wie eine Handvoll Haselnüsse an den tonsurierten Kopf warf. Dem heiligen Vater in Rom war er aus deutschem Herzen feindlich gesinnt: er sah, politischer Denker der er war, daß die Päpste sehr diesseitige römische Politik und Diplomatie trieben, der die deutschen Kaiser sich selten genug gewachsen zeigten. Er stand auf der Wartburg und sah hinab auf das thüringische und deutsche Land. Wie blühte der Frühling, wie sangen die Amseln! Unter einem Wacholderstrauch lagen zwei Liebende. Unter der Linde stand ein fahrender Geiger und geigte zum Tanz. Ein schönes Fräulein lächelte seitwärts, selbstvergessen. Da lächelte Walter von der Vogelweide. Er bückte sich und wand in Eile mit geschickten Fingern einen Kranz aus Butterblumen, die zwischen den Steinritzen auf dem Burghofe blühten, nahm den Kranz, sprang zu dem errötenden Mädchen, verneigte sich und sprach:

 
Nehmt, Fraue, diesen Kranz,
So zieret ihr den Tanz
Mit schönen Blumen, die am Haupt ihr tragt.
 

Und der alte Geiger, mit dem Totenkopf zum Tanz taktierend, strich den Bogen. Tod spielte zum Leben auf. Der Ritter tanzte mit dem Fräulein. Sie hieß Maria wie die Mutter Gottes selber und war ihm Gottesmutter, Gottesschwester, Gottestochter all in eins.

Mit Friedrich dem Zweiten ritt Walter von der Vogelweide 1227 auf den Kreuzzug. Er haßte die Pfaffen und den falschen Gott in Rom. Er wollte den wahren Gott von Angesicht zu Angesicht sehen. Er sang den Kreuzfahrern das Kreuzlied. Und am heiligen Grab sank er ins Knie: Jetzt erst bin ich beseligt, da mein sündig Auge die heilige Erde betrachten darf.

 
Dahin kam ich, wo den Pfad
Gott als Mensch betreten hat.
 

Ernst und wie von einer Wolke beschattet, kehrte er aus dem heiligen Lande heim. Es war Frühling in ihm gewesen, als er auszog. Palästina war sein Sommer geworden. Nun sah er Herbst und Verwesung, Elend und Bitternis überall. Die Nebelkrähen hingen in Schwärmen über dem deutschen Land. Und in Würzburg war es, wo er, den Blick auf den fließenden Main gerichtet, sein letztes Gebet dichtete: jene schönste Elegie deutscher Sprache: Owê war sint verswunden alliu miniu jâr! Im Lorenzgarten, vor der Pforte des neuen Münsters, wurde das Sterbliche von Walter von der Vogelweide 1230 bestattet. Die letzte Zeit vor seinem Tode hielt er sich von den Menschen fern: er stand stundenlang am Main und fütterte die Vögel und die Fische mit Brotkrumen. Und in seinem Testament bestimmte er, daß aus seiner Hinterlassenschaft mehrere Säcke Körner zu kaufen seien und daß auf seinem Grabe die Vögel stets Körner und Wasser vorfinden sollten.

Noch im Tode wollte er seinem Namen Ehre machen: sein Grab noch sollte den Vögeln eine Weide sein. Lest seine Liebeslieder, ihr Liebenden! Klausner Schwermut, weise uns die Kapelle seiner Melancholie! Wo im kahlen Winter ein frierender Vogel hungrig an eure Fensterscheiben pickt: gebt ihm zu fressen, gedenkt des Herren von der Vogelweide! Solange die deutsche Dichtung besteht, wird sein Name unvergessen sein. Her Walther von der Vogelweide, swer des vergaez', der taet mir leide, rief 1300 Hugo von Trimberg über sein Grab.

Die Blume der deutschen Mystik keimte zuerst in den Klöstern. Schwester Mechthild v. Magdeburg (1212 bis 1294) schrieb ihr Buch vom fließenden Licht der Gottheit: voll seliger Versunkenheit in Christo. In ihren Ekstasen sah sie Jesus als schönen Jüngling (Schöner Jüngling, mich lüstet dein) ihre Zelle betreten, er war ihr wie ein Bräutigam zur Braut, und ihre himmlischen Sprüche sind wie irdische Liebeslieder. Ihre Gottesminne (Eia, liebe Gottesminne, umhalse stets die Seele mein!) war der Gottesminne des Wolfram tief verwandt. Die reine Minne (nicht jene höfische oder ritterliche oder bäurische Minne) galt ihr als oberstes Prinzip. »Dies Buch ist begonnen in der Minne, es soll auch enden in der Minne; denn es ist nichts so weise, so heilig, noch so schön, noch so stark, noch also vollkommen als die Minne.« Mechthild von Magdeburg ist trunken vor Askese. Ihr Geist kennt die Wollust des Fleisches. Jesus ist ihr zärtliches Gespiel und sie seine Tänzerin. Meister Eckhard (1260–1327, gestorben in Köln), ihr mystischer Bruder, verhält sich zu ihr wie ein Kauz oder Uhu zu einer Libelle. Ihr Leben und Dichten war ein Schweben und Ja-sagen, das seine ein tief in sich Beruhen und ein Ent-sagen. Er liebte das Leid um des Leides willen: jeder Schmerz war ihm eine Station zum Paradies. Er riß die Wunden, die in ihm verheilen oder verharschen wollten, künstlich wieder auf: daß nur sein Blut fließe. Seine Gedanken scheinen verschleiert, ja manche haben dunkle Kapuzen übers Haupt gezogen und sind unerkennbar. Sein Buch der göttlichen Tröstung ist ein Trostbuch für die, die am Tode und am Leben leiden. Ein Trostbuch rechter Art will auch der »Ackermann aus Böhmen« sein, den Johannes von Saaz 1400 in die Welt schickte. Der Dichter kleidet seine Trostschrift in die Form eines Zwiegesprächs zwischen einem Witwer und dem Tod. Der Witwer fordert vor Gericht (dem Gottesgericht) sein Weib von dem Räuber und Mörder Tod zurück. »Schrecklicher Mörder aller Menschen, Ihr Tod, Euch sei geflucht! Gott, der Euch schuf, hasse Euch; Unheils Häufung treffe Euch; Unglück hause bei Euch mit Macht; ganz entehret bleibt für immer!« so beginnt der Kläger seine Klage. Und der Tod antwortet: »Du fragst, wer wir sind: wir sind Gottes Hand, der Herr Tod, ein gerecht schaffender Mäher. Braune, rote, grüne, blaue, graue, gelbe und jeder Art glänzende Blumen und Gras hauen wir nacheinander nieder, ihres Glanzes, ihrer Kraft und Vorzüge ungeachtet. Sieh, das heißt Gerechtigkeit.« In immer verzweifelteren Ausbrüchen pocht der Mensch, aller Menschheit Abgesandter, an das Rätsel des Todes, der ihm sinnlos wie ein Mäher im Herbst unter den Menschen zu hausen scheint, das Glück des Liebenden und die Tat des Künstlers, die Stellung des Königs nicht achtet, bis Gott selbst das Urteil spricht: »Kläger, habe die Ehre, du Tod aber, habe den Sieg! Jeder Mensch ist dem Tode sein Leben, den Leib der Erde, die Seele uns zu geben verpflichtet.«

 

Mit den Minnesängern wurde die deutsche Literatur sich ihrer bewußt. Zwar gab es noch nicht das Wort, aber der Begriff war vorhanden. Die öffentliche Kritik trat auf: es waren die Fürsten, die als Mäzene das erste Recht der Beurteilung für sich in Anspruch nahmen. Die Themen, die Hartmann von Aue († 1215) in seinen kleinen Epen anschlägt, sind von schönster Intensität: in »Gregorius« überträgt er den Ödipusstoff auf ein mittelalterliches Milieu. Gregorius liebt und heiratet unwissentlich seine eigene Mutter. Als er die Schande erfährt, sucht er die Sünde zu sühnen, indem er sich prometheisch an einen Felsen schmieden läßt. Nach siebzehn Jahren unerhörter Qual erlösen ihn die Römer; er wird von ihnen im Triumph ob seiner Heiligkeit auf den verwaisten Papstthron erhoben und spricht, unfehlbar geworden durch sein titanisches Leid, die eigene Mutter ihrer Schuld ledig.

Im »Armen Heinrich« bemächtigt sich Hartmann eines deutschen Stoffes. Ein Ritter wird vom Aussatz befallen. Ein Mittel nur gibt es, ihn zu retten: das Blut einer unberührten Jungfrau. Aus Liebe zu ihm erbietet sich ein Mädchen, für ihn zu sterben. Aber der arme Heinrich nimmt das Opfer nicht an: trotz teuflischer Versuchung. Da erbarmt sich auf Flehen des Mädchens Gott der Liebenden: er macht den armen Heinrich gesund und zum reichen Heinrich durch den Besitz der Geliebten.

Ein jüngerer Zeitgenosse von Hartmann ist Wolfram von Eschenbach (etwa 1170–1250), ein Bayer aus Eschenbach bei Ansbach. Er war ein armer Teufel wie Walter von der Vogelweide, mit dem er am Hofe des Landgrafen von Thüringen öfter zusammentraf. Als er 1217 dem Hofleben für immer den Rücken wandte, und auf sein kleines Gut heim zu Weib und Kind ritt, vollzog er eine symbolische Handlung. Er kehrte wirklich heim: zu sich, in sich. Er hatte die höfische Minne, die schon einen eigenen Komment entwickelte, dessen Verstöße unnachsichtlich geahndet wurden, von Herzen satt und sehnte sich nach einem einfachen, ungezierten Wort aus unverzerrtem Frauenmund. Nach Lippen, die ohne Anfragung einer Etikette auf den seinen lagen, nach einem Herzen, das ihm herzlich zugetan war. Nach einem Kinde, das nicht »Fräulein« oder »junger Herr« tituliert wurde, sondern mit dem er reiten und jagen und spielen durfte wie mit sich selbst. Er hatte 1200–1210 in 24810 Versen im »Parzival« den Ritterroman der Deutschen geschaffen, er hatte ihnen den Spiegel vorgehalten. Aber es war schon eine vergangene edlere Zeit, die sich in ihm spiegelte. Der Dichter ist oft nur der Vollstrecker des letzten Willens einer Epoche, der er schon längst nicht mehr angehört. Der Stoff ist französischen und provenzalischen Vorbildern entnommen. Die Idee der Erlösung: christlich. Aber der Leidens- und Freudensweg, den Parzival gehen muß, seine Entwicklung vom ahnungsvollen, aber ahnungslosen Kind zum seiner Seele bewußten Mann ist ganz Wolframsche Prägung. Er ist den Weg des Knaben Parzival selbst gegangen.

Gottfried von Straßburg (um 1210), Wolframs größter Zeitgenosse, war auch sein größter Gegner. Er fand den Parzival dunkel und verworren, ohne einheitliche Handlung und stellenweise schwer verständlich. Im Tristan stellte er dem Parzival sein Ritterepos gegenüber: von einer leidenschaftlichen Klarheit des Themas und der Formulierung und trotz der Leidenschaft nicht ohne Zierlichkeit und Zartheit. Er hatte von seinem Standpunkt mit der Beurteilung des Parzival recht. In Wolfram und Gottfried spitzten sich, wie später bei Goethe und Schiller, zwei dichterische Typen bis ins Polare zu: der Pathetiker und der Erotiker. Wolfram-Schiller, das besagt: Kampf, Forderung, Dornenweg, Verblendung und Erlösung, Gottesminne, Jenseits. Goethe-Gottfried, das heißt: Sein, Genuß, selbst des Schmerzes, Blumenpfad, Sonnenblendung, Glanz und Erfüllung: Menschenminne, Diesseits.

Während die von Walter, Gottfried usw. geschaffene Kunstdichtung entartete, erlebte die deutsche Volksdichtung, das Volkslied und das Märchen, im 15. und 16. Jahrhundert ihre üppigste Blüte. Die schönsten der von Herder, Arnim und Brentano, Erk und Böhme später aufgezeichneten Volkslieder sind damals entstanden. Die Dichter der von den Gebrüder Grimm gesammelten Kinder- und Hausmärchen wandelten als Gumpelmänner, Vagabunden und Gott weiß was durch die deutschen Lande. Ihnen waren Tier und Blume, Berg und Teich wie Bruder und Schwester vertraut. Sie hatten kein ander Bett als die Erde, keine andere Decke als die Sternendecke des Himmels. Ein verlassener Ameisenhaufen war ihr Kopfkissen. Eichhörnchen hüteten ihren Schlaf, und der war voll von Träumen wie ein Kirschbaum im Juni voll von Kirschen. Da gaben sich der Froschkönig, die Bremer Stadtmusikanten, der Teufel mit den drei goldenen Haaren, der Räuberhauptmann, Frau Holle, Daumerling, Doktor Allwissend, das kluge Schneiderlein, der Vogel Greif und viele andere wunderliche und seltsame Wesen ihr heimliches Stelldichein. Und der Vogel Greif schnaufte: »Ich rieche, rieche Menschenfleisch …«, aber dann ließ er sich doch von seiner Frau übertölpeln (wie listig sind die Frauen, wenn sie lügen!). Die neidische und eitle Königin befragte den Spiegel an der Wand:

 
Spieglein, Spieglein an der Wand,
Wer ist die schönste im ganzen Land?
 

Und der Spiegel antwortete:

 
Frau Königin, Ihr seid die schönste hier.
Aber Sneewittchen über den Bergen
Bei den sieben Zwergen
Ist noch tausendmal schöner als Ihr.
 

Auf einem Lindenbaum saß ein Vogel, der sang in einem fort:

 
Kywitt, kywitt,
wat vörn schöön Vagel bün ick …
 

Aber dieser Vogel war kein richtiger Vogel. Es war ein Mensch, der sich nach seinem Tod in einen Vogel verwandelt hatte. Denn wir Menschen sterben nicht. Das Volkslied und das Volksmärchen läßt unsere Seele wandern. Vogel und Blume können wir werden: ja Blume auf unserem eigenen Grabe, dann kommt wohl die Geliebte, begießt uns mit Tränen, oder sie pflückt und drückt uns, Veilchen oder Lilie, an den Busen. Sind wir aber böse, so werden wir verflucht und verzaubert in Werwölfe. Die Wurzeln von Märchen und Volkslied gehen bis tief in die heidnische Vorzeit zurück, da des Menschen Frömmigkeit vom Diesseits, seine Augen von Sonne, Himmel und der weiten, weiten Welt ganz erfüllt waren. Ihm war der Tod nur eine andere Art des Lebens. Verwandlung. Eine Tür fällt ins Schloß, und eine andere geht auf. Auf Tag folgt Nacht, aber wieder Tag. Er war nicht zerrissen in Leib und Seele. Die waren eins. Die Märchen und Lieder sind so bunt wie die Natur selbst. Wie die Sonne über Gerechte und Ungerechte scheint, so fühlt der Dichter mit allen seinen Kreaturen, auch den erbärmlichsten. Irgendein armseliger Straßenräuber (der arme Schwartenhals) steht ihm so nahe wie die zwei Königskinder, die zueinander nicht kommen konnten, »das Wasser war viel zu tief«. Goethe ist ohne das deutsche Volkslied, Volksmärchen, Volksepos nicht zu denken. Er steht auf den Schultern von tausend anonymen Autoren, die kommen mußten, damit er kommen konnte. Im 15. und 16. Jahrhundert wurde der Grundstock gelegt zu jenem Gebäude des 18. Jahrhunderts voll vollendeter Klassizität, das den Namen Goethe tragen sollte. Aber auch Matthias Claudius, Clemens Brentano, Eichendorff, Heine haben mit den Bausteinen gearbeitet, die jene bescheidenen Männer schichteten. Vielleicht sind ihre Werke der lauterste Ausdruck des deutschen Kunstwillens und des deutschen Geistes, der dann am tiefsten ist, wenn er aus dem Unbewußten steigt, dann am reinsten, wenn er aus den dunkelsten Quellen schöpft. Diese Dichter ohne Namen tragen den Himmel in ihren Händen, aber sie stehen mit beiden Beinen fest auf der Erde.

Die Entwicklung des Menschengeschlechtes geht in Wellenbewegungen vor sich, wobei Wellenberg und Wellental einander folgen und der Scheitelpunkt des Wellenberges sich nur langsam erhöht. Mit Walter von der Vogelweide, Gottfried von Straßburg, Wolfram von Eschenbach und dem Nibelungenliede hatte die junge deutsche Dichtung eine Höhe erreicht, von der sie bald kläglich wieder abstürzen sollte. Das Rittertum zerfiel und mit dem Rittertum die Ritterpoesie. Teils artete sie in allegorische Spielerei, teils in aufgeblasene Geckigkeit aus. Die Dichtung floh barfüßig und barhäuptig auf die Landstraße und fristete im Munde der Fahrenden von Dorf zu Dorf, von Haus zu Haus ihr Leben. Ins 15. und 16. Jahrhundert fällt die Blütezeit des deutschen Volksliedes. Zuweilen nahm sie ein Kloster auf, Dann sangen die Nonnen ein Lied, wie das geistliche Trinklied der Nonnen am Niederrhein. Zuweilen fand sie Unterschlupf bei braven Bürgersleuten. Das Bürgertum war im Aufstieg begriffen. Es gab wohlhabende Bürger, deren Söhne sich das Dichten leisten konnten. Sie meinten, die Dichtung würde sich hinter dem Ofen, in der Wärme, in dem Dunst satter Behäbigkeit recht wohl fühlen. Sie stopften ihr den Magen mit allerlei guten Dingen, aber sie taten des Guten zuviel, daß sie erbrach. Von der graziösen Handhabung der Sprache durch Meister wie Gottfried oder Walter blieb nicht viel übrig. Der Rhythmus fiel auseinander – was Hebung, was Senkung –, man zählte einfach die Silben zusammen. Aus dem Minnesang erwuchs der Meistergesang. Der Tiroler Oswald v. Wolkenstein († 1445) versuchte noch einmal den ritterlichen Pegasus aufzuzäumen. Er brach unter ihm zusammen; seine Zeitgenossen nahmen das Zaumzeug und schnitten die Flügel von dem verendenden Tier. Sie klebten sie ihren plumpen Dorf- und Stadtgäulen an und bildeten sich nun ein, sie würden fliegen. Die ritterliche Rüstung schepperte als viel zu groß um ihre dürren Glieder. Auch wagten sie, ihrer Unzulänglichkeit irgendwie bewußt, schon nicht mehr einzeln als Individualisten aufzutreten. Sie dichteten kollektiv gleich in ganzen Gruppen, Gilden und Vereinen. Sie imitierten die Form ohne den Geist. Diese Form ist lehr- und lernbar. Man wird, wie beim Handwerk, erst Dichterlehrling, dann Dichtergeselle, dann Dichtermeister. Wobei Dichter- und Bäckermeister oft dasselbe sind. Aber die Brote geraten ihnen besser als die Gedichte. In den Meistersingerschulen wurde nach der Tabulatur das Dichter-Abc gelehrt. Um 1450 wurde die erste Meistersingerschule in Augsburg gegründet. Wenige Jahre später finden sie sich in fast allen größeren Städten. Sie fechten Wettkämpfe miteinander aus. Sie überbieten sich in der Erfindung verschrobener und gekünstelter Versmaße. Der Vollender und Überwinder des Meistersanges ist Hans Sachs, geboren 1494 in Nürnberg, das eine der berühmtesten Meistersingerschulen sein eigen nannte. Hans Sachs war Schuhmacherlehrling, als ihm der Weber Nunnenbeck die Anfangsgründe der Meistersingerkunst beibrachte. Er ging wie ein rechter Schuster auf die Wanderschaft, kehrte, nachdem er so viele Erfahrungen gesammelt als er Schuhe besohlt hatte, 1519 in seine Heimat zurück, die durch Peter Vischer und Albrecht Dürer zu einem Haupt- und Vorort deutscher Kultur geworden war. Seine eigentlichen Meistergesänge (über 4000) sind unbedeutend, da und dort überraschen sie durch ein originelles Bild oder eine witzige Wendung. Freier entfaltet sich sein Talent schon in seinen Sprüchen (etwa 1800), die in ihren kurzen Reimpaaren klingen, als wären sie mit dem Schusterhammer zusammengeklopft. Hans Sachs war einer der ersten, die sich in Nürnberg zu Luther bekannten. Einzigartig zeigt er sich in seinen (über 1000) Schwänken und Fastnachtsspielen. Sein Humor ist der Humor der deutschen Seele. Seinen Witz hat er aus seiner Handwerksburschenzeit bis in sein 82. Jahr hinübergerettet. Er hat es in seinen Schwänken auf moralische Wirkung abgesehen, aber diese moralische Wirkung erstickt in einem Gelächter oder tritt zurück hinter dem Wie der Darstellung. Wir nehmen die Menschen aus seiner Hand entgegen wie aus Gottes Hand: so wie sie sind: gut und böse. Wie langweilig wäre die Welt, wenn alle Menschen brav wären und alle eine moralische, einheitliche graue Tugenduniform trügen. (Gott selber würde sich zu Tode langweilen und kurz vor seinem Tode noch den Teufel neu erschaffen.) Wenn es nur noch Hasen auf der Welt gäbe und keinen Fuchs mehr, der den Hasen frißt, und keinen Jäger, der sie beide schießt und sich den Hasen braten läßt! Dies nur nebenbei zu Hans Sachs.

 

Die Welt krachte damals in allen Fugen. Die ersten Wehen der Reformation kündeten eine neue Ära an. Sebastian Brant aus Straßburg (1458–1521) hatte als Sohn eines Gastwirtes früh offene Augen für die Lächerlichkeiten und Laster seiner Mitmenschen bekommen. In Übergangszeiten, wo die Begriffe schwanken und wie Karten eines Kartenspieles durcheinandergemischt werden, pflegen sich alle närrischen Eitelkeiten der Menschheit wie in einem konkaven Spiegel noch ins Breite zu verzerren und zu vergröbern. Sebastian Brant studierte Recht – ohne es irgendwo zu finden. Er promovierte an der Universität Basel. 1494 erschien sein »Narrenschiff«. Auf dieses hatte er alle Narren zu Gast gebeten, die er nur auftreiben konnte. Aber das Schiff erwies sich als zu klein. Die Säufer, die Gecken, die Spieler, die Kirchenschänder, die Geizhälse, Wucherer, Studenten, Ehebrecher, Huren füllten es bis an den Rand. Auch du, lieber Leser, und ich, wenn wir nur ein wenig in uns gehen und nachdenken: wir befinden uns unter jenen Narren. Sebastian Brant hat uns, fünfhundert Jahre, bevor wir geboren wurden, trefflich abkonterfeit. Aber es ist ein Bild, das wir uns nicht hinter den Spiegel stecken oder unserer Base zum Geburtstag schenken werden. – Zwanzig Jahre nach dem Narrenschiff legte Knecht Rupprecht 1519 den Deutschen die erste Ausgabe des Volksbuches von Tyll Eulenspiegel auf den Weihnachtstisch. Die hatten eine Freude wie wohl seit hundert Jahren nicht über ein Buch. Noch im 16. Jahrhundert erschienen achtzehn deutsche Ausgaben; es wurde sofort ins Vlämische, Niederländische, Englische und Französische übersetzt. Woher dieser spontane Erfolg? Brants Narrenschiff war eine mehr oder weniger literarische Angelegenheit gewesen, im Eulenspiegel sah und lachte das Volk sich wieder einmal selber ins Gesicht. In allen Fastnachtskomödien war er ja schon als Kasperle oder Hanswurst figürlich aufgetreten, hier hatte man seine in wohlgesetzte Worte gebrachte Biographie des komischen Heldenlebens. Eulenspiegel, der ernsthafte Schalk, ist die Typisierung der einen Seite des deutschen Ideals, dessen andere Seite (ob Rück- oder Vorderseite der Medaille bleibe dahingestellt) den Doktor Faust, titanischen Ringer um die letzten Probleme, zeigt. Eulenspiegel tritt auf als Richter der Menschheit: er richtet sie mit einem schiefen Zucken seines Mundes, mit der sofortigen Realisierung ihrer Ideen, deren Wert und Möglichkeit dadurch ad absurdum geführt werden. Er ist zugleich leicht- und tiefsinnig. Seine Späße exemplifizieren das Chaos. Sie dozieren bis zur Brutalität das Bibelwort: Der Mensch ist aus Dreck gemacht. Das Urbild des Tyll Eulenspiegel hat wirklich gelebt. Chroniken berichten von seinem 1350 zu Mölln erfolgten Tode, wo noch heute sein Grabstein gezeigt wird. Vorher waren schon Schwankbücher wie Jörg Wickrams »Rollwagenbüchlein« oder des Bruders Johannes Pauli »Schimpf und Ernst« (1522) Mode geworden: Bücher, die heitere oder moralische Anekdoten erzählten, die sich nicht um einen einzelnen Narren gruppierten: die damalige Reiselektüre, auf den Rollwagen mitzunehmen. Wobei zu bemerken ist, daß diese Reiselektüre unendlich gehaltvoller war als die heute verbreitete. Bruder Johannes Pauli ist ein belesener und witziger Mann, der ausgezeichnet zu erzählen vermag und unsere Stratz und Höcker überragt wie ein Kirchturm eine verkrüppelte Kiefer. Da liest man folgendes: »Man zog einmal aus in einen Krieg mit großen Büchsen und mit viel Gewehren, wie es denn Sitte ist; da stund ein Narr da und fragte, was Lebens das wäre? Man sprach: Die ziehen in den Krieg! Der Narr sprach: Was tut man im Krieg? Man sprach: Man verbrennt Dörfer und gewinnt Städte und verdirbt Wein und Korn und schlägt einander tot. Der Narr sprach: Warum geschieht das? Sie sprachen: Damit man Frieden mache! Da sprach der Narr: Es wäre besser, man machte vorher Frieden, damit solcher Schaden vermieden bliebe. Wenn es mir nachginge, so würde ich vor dem Schaden Frieden machen und nicht danach; darum so bin ich witziger als Eure Herren.« Hätten wir Deutschen vor dem Kriege Johannes Pauli als Reiselektüre gelesen an Stelle von Walter Bloems »Eisernem Jahr«: vielleicht wäre es nicht zum Kriege gekommen, und wir hätten uns dieses Narren Meinung zu Herzen genommen.

Luther wurde 1483 in Eisleben als Sohn eines herrischen Vaters geboren. Er verbrachte seine Jugend mißmutig, störrisch, verprügelt, und richtete schon früh sein Auge von der Misere außen nach innen. Sein Vater hat ihn hart geschlagen: daß er wie ein Stein oder ein Stück Holz schien. Aber hinter der harten Schale verbarg sich ein weicher und süßer Kern. Sein »Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen!« wird immer ein Fanfarenruf aller aufrechten Männer sein. Sein Reformationswerk war eine historische Notwendigkeit. Aber die Historie wandelt sich von Jahrhundert zu Jahrhundert, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt. Bismarcks Werk schien auf Felsen gegründet: wenige Jahrzehnte genügten, es zu unterhöhlen, bis es 1918 mit einem gewaltigen Krach zusammenstürzte. Auch über Luthers Reformation ist das letzte Urteil von der Geschichte noch nicht gefällt. Unsere heutige evangelische Kirche spricht in ihrer aufklärerischen, kahlen, gottlosen Nüchternheit nicht für eine lange Dauer. Die Zeit will wieder fromm werden. Luther war ein religiöser Mensch, die Lutheraner sind theologische Dogmatiker oder rationalistische Moralisten. Sie bezweifeln das Wunder, wollen Natur- und Kirchengeschichte unter denselben Pfaffenhut bringen: aber wer das Wunder bezweifelt, bezweifelt Gott selbst. Luther hat die damalige Christenheit, unterstützt von der humanistischen Vorrevolution des Geistes, von der römischen Knechtschaft befreit, aber er hat den Deutschen den schlechtesten Dienst erwiesen, als er in den Bauernkriegen Partei für die Fürsten ergriff und durch seine sophistische Auslegung der Bibel im monarchistischen Sinne (»Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist … es ist euch eine Obrigkeit gesetzt von Gott, der sollt ihr untertan sein …«) die Deutschen unter die absolute Tyrannei der Fürsten brachte und Tyrannei und Sklaverei nun gar noch ethisch zu fundieren trachtete. Hier trieb der einst in seiner Jugend vom Vater in ihm gezüchtete und herangeprügelte Autoritätswahn häßliche Blüten. Daß der »Untertan« den Deutschen noch heute so tief im Blute steckt, daß selbst die Revolution 1918 ihn nicht auszuroden vermochte, das ist nicht zum wenigsten auf die Philosophen des Staatsrechts und des Machtwahns: Bismarck, Hegel, Luther zurückzuführen. Luther aber war ihr bedeutendster und also verderblichster Vertreter. Erscheint seine historische Stellung in mindestens zweifelhaftem Lichte, so ist seine Stellung in der deutschen Literatur eindeutig fest und steil gefügt. Die Bedeutung der Lutherschen, 1534 vollendeten Bibelübersetzung kann nicht überschätzt werden. Es ist, als hätte Luther die neue deutsche Sprache überhaupt erst geschaffen. Aus so mangelhaften Vorlagen wie der sächsischen Kanzleisprache und der obersächsischen Mundart zimmerte er wie ein Geigenbauer jenes klingende Instrument, auf dem entzückt und berauscht wir heute noch spielen dürfen. Er aber war der Töne Meister wie Arion: und wenn er sprach, dann schwieg die Nachtigall, dann hob der Esel lauschend den behaarten Kopf – dann verstummten selbst die Humanisten mit ihrem lateinischen Geplauder, und Ulrich von Hutten konnte auf einmal deutsch statt lateinisch denken und dichten. »Ich hab's gewagt.« Die deutsche Sprache war den gelehrten Herren bisher zu grobschlächtig gewesen für ihre Spitzfindigkeiten. Sie wollten nichts mit dem Pöbel gemein haben, und es war ihnen gerade recht, daß man sie in der Menge nicht verstand. Nun aber hörten sie erstaunt, gleichsam zum erstenmal, den Klang der deutschen Sprache. Das war wie Möwenschrei über der Elbe, wie Amselsang im Frühling, wie Herbstwind in den Sandsteinfelsen, wie Quellengeriesel im Eichenwald. Und einer nach dem andern tat sein in Schweinsleder gebundenes lateinisches und griechisches Lexikon in den Bücherschrank zurück und legte die Luthersche Bibel auf den Schreibtisch und fand darin sein Morgen- und sein Abendgebet. Auch Luthers Flugschriften, wie »Von der Freiheit eines Christenmenschen«, flogen durch das Land, und in Kirchen und auf Straßen sang es: »Komm, heiliger Geist, kehr bei uns ein«. Und sie, die tumben Bauern, die im Vertrauen auf seine Lehre und ihren Lehrer sie in die Tat umzusetzen versuchten (denn was ist die Idee ohne die Tat? Das ist wie Seele ohne Leib, wie Duft ohne Blume): sie starben, als sie von ihm verlassen wurden, hingeschlachtet von den Schwerthieben der Söldner, mit dem Ruf: »Ein feste Burg ist unser Gott …« Luthers kernige und fröhliche Tischreden, die von seinen Freunden aufgezeichnet wurden, beweisen, was für ein großer Redner er war. Er steckte damit wohl alle heutigen Volkstribunen in die Tasche: nur schade, daß er selber kein Volks-, sondern ein Fürstentribun war.