Die Theologie als Abenteuer

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Die Theologie als Abenteuer
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Klaus Berger

Theologie als Abenteuer

Gespräche mit Veit Neumann

Mit einem Vorwort

von Wolfgang H. Spindler OP

Klaus Berger

Theologie als Abenteuer

Gespräche mit Veit Neumann
Mit einem Vorwort
von Wolfgang H. Spindler OP


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ›http://dnb.d-nb.de‹ abrufbar.

1. Auflage 2014

© 2014 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter-verlag.de Umschlag: Peter Hellmund (Foto: KNA-Bild) Satz: Hain-Team, Bad Zwischenahn (www.hain-team.de) ISBN 978-3-429-03732-1 (Print) 978-3-429-04767-2 (PDF) 978-3-429-06182-1 (ePub)

Inhalt

Vorwort

1. Biographie ist Theologie und Theologie ist Biographie

Wozu eigentlich ein Buch mit Gesprächen ?

2. In meiner Klasse war ich immer der einzige Katholik

Wie junge Jahre das künftige Leben prägen sollten

Vorbild : „Mit Hingabe und Phantasie am Reich Gottes mitbauen“ / Konservativität : „Mich treibt ein zukunftsfähiges Konzept von Kirche an“ / Heimat : „Die Vergangenheit der Kindheit und Jugend ist immer in mir da“

3. Ich selbst wollte schon immer radikal sein

Auf der Suche nach der Erfüllung im Studium

Frustration : „Die exegetischen Lehrer strahlten Langeweile oder aktiven Unglauben aus“ / Zeitdruck : „Ich wollte die Promotion nicht mitnehmen, sondern ich suchte den Tiefgang“

4. Hier gab es endlich die theologische Wissenschaft

Das Verhängnis nimmt in München seinen Lauf

Irritation : „Die Leugnung jeder historischen Grundlage des Christentums“ / Enttäuschung : „Was ihm selbst angetan worden war, tat er anderen an“ / Bremse : „Er sagte, meine Arbeit sei häretisch, mir fehle der notwendige Antijudaismus“ / Traufe : „Bei Ulrich Wilckens weiter weg von Bultmann, dafür aber näher an Hegel“

5. Es liegt am eigenen Horizont, ob man dem Klüngel verfällt

Betrachtungen zur Theologie als Abenteuer

Bestätigung : „Von der Münchner Fakultät wäre nichts anderes zu erwarten gewesen“ / Nachwuchs : „Die geeignetsten Leute sind oft gegangen oder wurden gemobbt“ / Zukunft : „Nicht in der Diözese Hildesheim verschlissen werden“

6. Lichtblick, Rettung, Alternative zum deutschen Mief

Unkonventionelles Intermezzo im holländischen Leiden

Minimalprobleme : „Mit den Studenten war ich sehr glücklich“ / Katholiken : „Als Erste den offiziellen Atheismus mit dem Christentum versöhnt“

7. Die Berufung scheiterte an einem Tauchsieder

Von Studenten unterstützter „Sozialfall“ statt „Zauber des Anfangs“

Grenzen : „Es ging darum, Neues Testament lehren zu können und zu überleben“ / Schulen : „Hinter Bultmann und Rahner stand der ‚große Anreger‘ Martin Heidegger“ / Menschlich-Allzu-Menschliches : „In Heidelberg habe ich locker mithalten können“ / Diskussion : „Es gibt eigentlich keinen echten theologischen Streit mehr in Deutschland“

8. Aus der Wolle der exegetischen Einsichten einen Pullover stricken

Fruchtbare Jahre in Heidelberg mit verschiedenen Theologien

Anderes : „Aus Prinzip habe ich über alles Vorlesung gehalten, auch über den Judas- und den zweiten Petrusbrief“ / Zusammenleben : „Begabte Studentinnen und Studenten haben gekocht, ich selbst nicht“ / Identität : „Es ist das Schönste, wenn ich exegetisch nachdenke und die tollsten Dinge finde“

9. Der Angriff auf die Dialektische Theologie war doch humorvoll gemeint

Heidelberger Ende : Vom Versuch, Klaus Bergers Wirkung auszulöschen

Netzwerk : „Ich verstehe mein Christsein keinesfalls konfessionalistisch verengt“ / Beschwerde : „Bei Barth darf man die Frage, ob er Freude bereitet, gar nicht erst stellen“ / Trübung : „Ein intelligenter Mensch, den man nicht gerne zum Gegner im Disput hat“ / Hinauswurf : „Ich bin froh, dass meine Gesundheit keinen tödlichen Schaden genommen hat“

10. So viele Schüler zu haben ist ein Privileg, das kein deutscher Kollege teilt

Beglückende Stunden während der Arbeit mit den Promovenden

Pädagogik : „Ich habe meine Doktoranden immer hundertprozentig gefördert“ / Mäßigung : „Es erscheint mir wichtig, dass meine Schüler keine Ideologen sind“ / Kontakt : „Man merkt es, wenn zu runden Geburtstagen nicht mehr gratuliert wird“

11. In der Zeit des Niedergangs sollte man nicht allzu viel über Bord werfen

Judentum, Exegese, Kirchengeschichte und der Unwille gegen das Christentum

Erfinder : „Das sind letztlich Hegels Schablonen aus dem 19. Jahrhundert“ / Vorurteil : „Nüchterne Betrachtung und Ehrlichkeit haben immer noch Chancen“ / Lehrer : „Ich habe viele protestantische Regionalbischöfe hervorgebracht, das genügt“

12. Überängstliches Karrieredenken hinter dem Mangel an Offenheit

Einen Blick für die wesentlichen Geheimnisse bekommen

Schaufel : „Am Strand verwende ich meine Zeit, um Städte aus Sand zu bauen“ / Apokalypse : „Die Kirche als Gegenöffentlichkeit zu den politisch Mächtigen“ / Rückschau : „Ich blicke überhaupt nicht zurück. Ich blicke nur nach vorne“

Personenregister

Vorwort

Die Krise der Kirche ist zuerst eine Krise der Bibelwissenschaft. Beinahe 200 Jahre sind ins Land gezogen, seit diese die Heilige Schrift und besonders das Leben Jesu „kritisch bearbeitet“ (David Friedrich Strauß). Die Wirkung ist verheerend. Indem sie in immer neuen Anläufen die historische Zuverlässigkeit biblischer Erzählungen und Personen in Frage stellt, untergräbt sie die Existenzgrundlage der christlichen Religion. Hierzulande meist an staatlichen Lehranstalten angesiedelt und mit kirchlichem Auftrag ausgestattet, beziehen ihre Vertreter Solde und Pensionen für ein fragwürdiges Geschäft. Keineswegs ist der Glaube in Europa „verdunstet“, wie in kirchlichen Kreisen verharmlosend behauptet wird, als ob wir es mit einem unvermeidlichen Naturereignis zu tun hätten. Nein, er wurde systematisch ausgehöhlt. Wozu das Selbstverständnis vieler – freilich nicht aller – Bibelwissenschaftler, das sich vom depositum fidei glaubte emanzipieren zu müssen, maßgeblich beitrug. Aus biblischer Geschichte wurden Geschichten, Ammenmärchen, religiöse Wunschprodukte. Die Christenheit inmitten der Geschichte der Antike, der Religionsgeschichte blieb lange Zeit unbeachtet. Erst die verspätete Debatte um die zwischen 1947 und 1956 gefundenen Schriftrollen bei Khirbet Qumran im Westjordanland leitete ein gewisses Umdenken ein. So wird deutlich : Mitnichten war die allseits bemühte „Naherwartung“ des eschaton das alles bestimmende, jedes Geschichtsbewusstsein tilgende Motiv der Alten Kirche.

 

Im Gegenteil : Das Christentum ist eine Religion, die wie keine andere auf Geschichte beruht. In ihrem Kern gründet es auf die feste Überzeugung, dass in einem bestimmten Augenblick der Geschichte des Kosmos der ewige Logos Gottes in einem Menschen namens Jesus von Nazaret „inkarniert“, das heißt „Fleisch“ (Joh 1,1.14), geschichtliche Person geworden ist. Gott wurde sterblich. Und die Person, die über den Gottmenschen das Todesurteil sprach, ist ebenso eine Gestalt der Geschichte : Pontius Pilatus, 26 bis 36 n. Chr. Präfekt der römischen Provinz Judäa. Damit sein Name nicht vergessen und der geschichtliche Kern des Christentums nicht in eine mythologische Spekulation aufgelöst würde, hat man Pilatus in die Magna Charta dieser Religion, in das christliche Glaubensbekenntnis, aufgenommen. Wie aber soll man dies (und noch viel mehr !) glauben, gar sein Leben darauf bauen können, wenn die moderne Bibelauslegung zu dem Ergebnis kommt, es sei alles ganz anders gewesen, als der blanke Buchstabe verspreche ? Wie noch an Jesus, an seine Auferstehung von den Toten glauben, wenn die Mehrzahl seiner Worte und Taten sich als „unecht“ beziehungsweise „spätere Gemeindebildung“ herausgestellt haben sollte ? Wie ihm nachfolgen, wie zu ihm beten, wenn er sich – zum Beispiel – mit der Ankündigung des Reiches Gottes noch zu Lebzeiten seiner Zuhörer (nach Mk 9,1) komplett „geirrt“ haben sollte ? Die Anzahl jener, die durch solche „Erkenntnisse“ der „aktuellen“ theologischen „Forschung“ den Glauben verloren haben, dürfte immens sein. Darunter auch Geistliche, die, wenn sie im Amt bleiben, ihren als Wissenschaft verbrämten Unglauben auf ihre Gemeinden streuen. Allein in meiner Verwandtschaft mütterlicherseits hatten von 16 Vettern und Basen vier ein Theologiestudium aufgenommen. Zwei brachen es infolge bohrender Zweifel vorzeitig ab, zwei fielen vom überlieferten Glauben ab, einer davon „glaubt“ jetzt, wie er sagt, an Friedrich Nietzsche. Familie, Gymnasium, Universität hatten ihnen nicht das Rüstzeug zu geben vermocht, mit dem man die Waffen der Kritik gegen diese selbst richten muss, will man den tatsächlichen Erkenntniswert moderner Bibelwissenschaft richtig einschätzen können.

Ihr Flaggschiff, die „historisch-kritische Methode“, ist ein typisches Produkt der (klassischen) Moderne. Wo sie religionsgeschichtliche Vergleiche zieht und die unterschiedlichen Texte des Alten wie des Neuen Testamentes mit sprachwissenschaftlichen, also text- und literarkritischen, form-, redaktions- und traditionsgeschichtlichen Mitteln untersucht, zeitigt sie bisweilen staunenswerte Ergebnisse. Doch wie die Moderne selbst ist auch die „historisch-kritische Methode“ in die Jahre gekommen. Es konnte nicht ausbleiben, dass sie nach ihrem beispiellosen Triumphzug durch die theologischen Fakultäten selbst zum Gegenstand kritischer Untersuchungen wurde. Doch das Beharrungsvermögen etablierter Institutionen und scientific communities, zu denen die Mehrheitstheologen wie kaum eine andere Zunft zusammengeschweißt sind, sorgt dafür, dass solche Arbeiten unterdrückt oder lächerlich gemacht werden. Ich erinnere mich gut, wie 1993 der Würzburger Ostkirchenkundler Hans-Joachim Schulz seine bahnbrechende, trotz „erhebliche(r) Einwände“ von Rudolf Schnackenburg, wie dieser im Vorwort schrieb, in die renommierte Herder-Reihe Quaestiones disputatae aufgenommene Studie über „Die apostolische Herkunft der Evangelien“ (3. Aufl. 1997) veröffentlicht hatte und das exegetische Establishment tat, was in der Wissenschaft seit jeher die tödlichste Waffe ist : es schwieg ! Dabei zeigte das Buch – neben der Verortung der Evangelienentstehung in die liturgisch-anamnetische Praxis der frühen Christengemeinden –, was für Historiker und Altphilologen als längst ausgemacht galt : Die tragenden Prämissen, auf denen die moderne Bibelauslegung beruht, stammen aus der Mottenkiste des 19. Jahrhunderts, das wiederum rationalistische Engführungen der Aufklärung transportiert hat. Wunder beispielsweise konnte es nicht geben, weil sie dem mechanistischen Weltbild widersprachen. Berühmt geworden ist die Sentenz des protestantischen Bibeltheologen Rudolf Bultmann, der sein Entmythologisierungsprogramm 1941 so begründete : „Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben. Und wer meint, es für seine Person tun zu können, muß sich klarmachen, daß er, wenn er das für die Haltung des christlichen Glaubens erklärt, damit die christliche Verkündigung in der Gegenwart unverständlich und unmöglich macht.“ Dabei veranschaulichte Bultmanns Analogie, „existential“ betrachtet, kaum mehr, als dass der heideggernde Theologe Glühbirnen, Radiogeräte und Gerätemedizin noch Mitte des 20. Jahrhunderts für Wunder (der Technik) hielt.

Als besonders traditionalistisch erweist sich der mainstream der sog. biblischen Einleitungswissenschaft. Weil der (zweite) Tempel in Jerusalem bekanntlich im Jahr 70 n. Chr. zerstört worden ist, muss die Ankündigung Jesu, dass vom Tempel „kein Stein auf dem andern bleiben“ werde (Mk 13,2 parr.), als ein ihm von den Synoptikern Markus, Matthäus, Lukas nachträglich in den Mund gelegtes vaticinium ex eventu gewertet werden. „Die in Vers 2 enthaltene Prophetie läßt sich schwerlich auf Jesus zurückführen. Zu deutlich schildert sie den Zustand, den das Tempelgelände nach dem Römisch-Jüdischen Krieg bot“, schreibt der hochangesehene Münchner Exeget Joachim Gnilka in seinem Markus-Kommentar (4. Aufl. 1994). Will heißen : Markus lässt Jesus ankündigen, was in Wahrheit längst passiert ist – ein Täuschungsmanöver ! Ebenso die Parallelen bei Matthäus und Lukas, die Markus als Quelle nutzen. Dabei fragt sich jeder unvoreingenommene Leser, warum die Synoptiker ebengerade nicht „schildern“, sprich : veranschaulichen oder näher darstellen, was bei der – angeblich bereits vergangenen – Tempelzerstörung geschehen ist. Warum werden nur die Trümmer erwähnt, wenn doch die Tempelzerstörung als geschichtliche Katastrophe katexochen in Einzelheiten beschrieben werden könnte ? Warum lässt Markus Jesus nur wenige Verse später (13,14) dasselbe Ereignis noch einmal ankündigen, diesmal freilich in apokalyptischer Sprache (vgl. dazu Dan 9,27 ; 11,31 ; 12,11), und warum so eng verknüpft mit allerlei apokalyptisch-kosmischen Zeichen, die nach der Zerstörung des Tempels durch Titus offenkundig ausgeblieben sind ? Längst sind viele weitere Fragen und Argumente nicht zuletzt von Historikern und Klassischen Philologen zusammengetragen worden, die das bibelwissenschaftliche Dogma von der Spätdatierung aller vier Evangelien „nach 70“ – das große Tabu schlechthin – und andere Scheingewissheiten erschüttern müssten. Vergebens ! Selbst kirchenoffizielle Bibelausgaben halten am Unhaltbaren fest. Mancher wird einwenden : Spielt denn die Entstehungszeit überhaupt eine Rolle ? Die Frage nach dem terminus post quem ist deshalb so dringlich, weil Spätdatierungen im Hinblick auf Jesus als historische Person Zeitzeugenschaft ausschließen. Sie bilden das Einfallstor für allerlei „Einschübe“, „Redaktionen“, „Hinzufügungen“ und – sagen wir es deutlich – Phantastereien angeblich von „Parusieverzögerung“ gelähmter Christen und anonymer „Autorenkollektive“, die zu unterstellen manche Exegeten offenbar ungestillte Lust verspüren.

Als Absolvent der Rechtswissenschaften wunderte ich mich schon in den ersten Semestern Theologie, wie hartnäckig hier an Vorurteilen und fraglich gewordenen Prämissen festgehalten wurde. Das wäre unter Juristen undenkbar gewesen. Immerhin lernte ich so das alte Subtraktionsverfahren kennen, bei dem „Schicht um Schicht“ verschiedene „Bearbeitungen“ vom Evangelienstoff abgetragen werden, bis etwa vom „Menschensohn“ des Bibeltextes historisch einigermaßen sicher übrigbleibt, dass er ein „Fresser und Säufer“ (Lk 7,34 ; Mt 11,19) war. Wie gut, dass Vergleichbares mit Autoren des 20. Jahrhunderts nicht angestellt wird ! Ein kluger Studienrat demonstrierte einmal in einem Zeitungsartikel, wie viel das Schichtungsmodell, auf Franz Kafkas Roman „Der Prozeß“ angewandt, übrigließe. Nicht nur würde man wohl die Entstehung des Romans wegen des berühmten Anfangssatzes („Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet“) statt auf vor 1914 fälschlicherweise auf die Jahre 1933 ff. datieren ; vor allem wäre man sich einig, dass die im Roman enthaltene „Türhüter-Parabel“ von einem „Redaktor“, sagen wir von Max Brod, später „eingefügt“ worden sei. Tatsächlich aber beweist das handschriftliche Originalmanuskript einwandfrei : Kafka hat den ganzen Text, von geringfügigen Retuschen abgesehen, in einem Zug geschrieben. Der Wechsel der Gattungen innerhalb des Werkes geht allein auf ihn zurück. Von mehreren Verfassern, gar einem „Kollektiv“ keine Spur !

Das Paradoxe daran ist : Die Verunsicherung, die durch einander ablösende und widersprechende Hypothesen im Laufe der Jahrzehnte verursacht wird, beruht auf einem Sicherheitsbedürfnis. Weil man der kirchlichen Überlieferung oft auch aus außerwissenschaftlichen, in der Biographie liegenden Gründen nicht (mehr) traut, sucht man anderswo Halt. Trotz brüchiger Grundannahmen wird der jeweils „neueste Stand der Forschung“ zur Ersatzautorität, ja zum Fetisch. Schizophrenien bleiben nicht aus. Ich kenne katholische Geistliche, darunter Professoren, die unter Aufzehrung ihres von der Mutter erworbenen Grundvertrauens einen Glauben praktizieren, dessen Wahrheitsgehalt sie vom „objektiv“-wissenschaftlichen Standpunkt aus bestreiten. Die Wechselbeziehung zwischen Kirche und (biblischem) Kanon ist gestört ; die Einheit des Raumes, aus dem die Jesusüberlieferung hervorgegangen ist, in dem sie durch die Jahrhunderte transportiert und sinnvollerweise auch interpretiert wird, ist von Ideologien überfrachtet, wenn nicht ersetzt. Seitdem herrscht die Hermeneutik des Verdachts. Wie ehedem die Häresien verzerren heute die Ideologien das Bild des Guten Hirten, der gekommen ist, damit die Schafe „das Leben haben und es in Fülle“ – und nicht in Form eines trockenen Lehrgerippes – „haben“ (Joh 10,10). Dabei wäre es die große theologische Herausforderung, sperrige, schwierige, unzugänglich erscheinende, rational nicht immer auflösbare Bibeltexte sich in einem Prozess jahrelangen Nachdenkens und Er-Betens zu erschließen. „In dem Maß, wie unser Geist sich durch dieses Studium erneuert, in dem Maße beginnen auch die Schriften ein neues Gesicht anzunehmen“ (Cassian, Coll. 14). Denn zweifellos sind diese Texte nicht wörtlich vom Himmel gefallen. Die Alternative zur historischen Kritik ist nicht eine geschichtslose Wort-für-Wort-Inspiration oder ein schwärmerisch-evangelikaler Fundamentalismus. Ohne weiteres können sich in dem hochkomplexen interaktiven Überlieferungsprozess gerade des Neuen Testamentes Passagen „eingeschlichen“ haben, die nicht direkt aus dem Mund Jesu oder etwa des Paulus hervorgegangen sind. So what ? Ist ein Jesus-Wort dadurch „unecht“, dass es von denen, die es angeht, nämlich die Christen in den entstehenden Gemeinden, in je eigener, unterschiedlicher Weise rezipiert und weitergegeben worden ist ? Oder um noch einmal Mk 9,1 aufzugreifen : Haben vielleicht nur wir eine falsche Vorstellung von der „Dynamik“ (so wörtlich) des gekommenen Reiches Gottes, sodass wir seit dem 19. Jahrhundert zum Problem erheben, was für den Verfasser und die Adressaten des Evangeliums überhaupt keines war ? Denn wenn es eines gewesen wäre – warum hat es der Evangelist nicht geglättet oder getilgt ?

 

Wen die geschilderten Aporien nicht unberührt lassen, der sucht nach Alternativen. Gibt es auch eine andere Bibelwissenschaft ? Ja, gottlob, die gibt es ! Das vorliegende Interviewbuch stellt einen Theologen vor, der seit mehr als einem halben Jahrhundert einen anderen Umgang mit der Schrift pflegt. Klaus Berger macht ihr keine Vorschriften. Er hält dem Neuen Testament, dem er sich Tag für Tag widmet, nicht vor, warum es so und nicht anders ist – etwa wie es nach Erwägungen neuzeitlicher Weisheit „ursprünglich“ gewesen sein müsste. Für seine Art, das Neue Testament auszulegen, findet er treffliche Bilder. Exegese ist für ihn wie ein Pullover, den es zu stricken gilt. Die Schrift lässt sich nicht schichtenweise abtragen wie ein Sediment oder ein Präparat. Ihre Zusammenhänge ergeben sich vielmehr durch die Fäden eines im Entstehen begriffenen Gewebes. Die Stricknadeln, sagt er, sind „die Liturgie und das katholische Grundgefühl“, Sujets also, loci theologici, die quer zu dem stehen, was in der modernen Bibelwissenschaft, zumal an einer protestantischen Theologiefakultät wie der in Heidelberg, seinem jahrzehntelangen Wohn- und Arbeitsort, üblich ist. Ein anderes Bild, das Berger einmal geprägt hat, ist das des „offenen Mosaiks“. Wenn zutreffend gesagt wird, Jesu Botschaft habe sich zentral um das Reich Gottes gedreht, dann heißt das nicht, dass andere „Themen“, etwa Gerichtsandrohungen, als „unecht“ auszuschließen sind. Geradezu lächerlich wird es – nach meiner Ansicht –, wenn Paulus als Autor eines Briefes verneint wird, nur weil in diesem andere Gedanken als in den für „echt“ gehaltenen Paulus-Briefen vorgetragen werden. Schreibt jemand den gleichen Brief mehrmals ? Kausalitäten lassen sich nicht bejahen, indem man Ersatzursachen hinzudenkt. Ein stimmiges Bild von der erlösenden Botschaft Jesu Christi ergibt sich nicht durch Abzug und Ausschluss, sondern mittels eines Mosaiks, das man Stein um Stein in einem prinzipiell offenen Prozess zusammensetzt.

Dass zu diesem Mosaik auch diejenigen beitragen, die Jahrhunderte vor der kritischen Bibelwissenschaft die Schrift ausgelegt haben, ist für Berger selbstverständlich. Bedauerlich, dass er erst im reifen Alter Thomas von Aquin, auch als Bibelkommentator, entdeckt hat. Was freilich weniger über Berger als über den deutschen Wissenschaftsbetrieb aussagt. Von dem Dominikaner Thomas hörte ich ihn neulich sagen : „Er war unfähig, dummes Zeug zu reden.“ Ein besonderes Faible hat Berger für die Zisterzienser des 12. Jahrhunderts und für Alphonsus Tostatus (= „der Geröstete“) von Ávila aus dem 15. Jahrhundert entwickelt. Mit Letzterem teilt er die erstaunliche Produktivität und rege Publikationstätigkeit.

Klaus Berger habe ich zum ersten Mal im Würzburger Rudolf-Alexander-Schröder-Haus, einem evangelischen Bildungszentrum, erlebt ; das muss Anfang der 1990er Jahre gewesen sein. Schon damals beeindruckte mich nicht nur seine imposante Gestalt, sondern vor allem, dass er ohne jede Polemik gegen katholische Kirche und Theologie auskam. Das hatte ich nicht erwartet. Erst später wurde mir klar, dass er selbst Katholik gewesen und, wie er insistiert, im Herzen immer geblieben ist. Aus welchen Gründen ihm der „gerade“ Weg in der von ihm geliebten Kirche und in das Weihepriestertum hinein versperrt blieb, erfährt der Leser in diesem Buch aus seinem eigenen Mund. Das muss auch den erschüttern, der noch heute Zweifel hegt, ob Bergers Darstellung in der FAZ vom 13. August 2005, er habe seit 1974 dank großzügigem Entgegenkommen einfach „evangelische Kirchensteuer bezahlen“ dürfen, befriedigen kann. Der „Skandal“ von 2005, als Bergers Katholizismus publik wurde, hat seine Spuren hinterlassen. „Der Wanderer zwischen beiden Welten“, Klaus Berger zwischen evangelischer Theologenausbildung und katholischem Selbstverständnis, kam dabei fast unter die Räder. Für ihn wie für Walter Flex, den Autor jenes Buches über den Ersten Weltkrieg, dessen Titel zum geflügelten Wort wurde, „ein Kriegserlebnis“ (so der Untertitel). Als Predigerbruder in der Tradition des heiligen Dominikus, dessen Lieblingsevangelium und ständiger Begleiter das Matthäusevangelium war, erlaube ich mir mit Mt 7,1 zu erinnern : „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet !“ Der Interviewpartner Veit Neumann, Journalist, aber auch Pastoraltheologe, hat sich jedenfalls daran gehalten.

Ein zweites Mal hörte ich Klaus Berger 2002, wieder in Würzburg, auf einem Schiff mit dem bezeichnenden Namen „Alte Liebe“. Da sprach er über den „Dienst vor Gottes Thron. Die Gegenwart Gottes in der alten Liturgie“. Für Exegeten, auch für fortschrittsgläubige Katholiken – fünf Jahre vor Benedikts XVI. Motuproprio Summorum pontificum – ein No-Go. In meinem Tagebuch fand ich über Berger die Anmerkung : „Unprätentiös, aber felsensicher ! Die tridentinische Messe als die angemessene Form der Anbetung Gottes im Sinne der Heiligkeitskonzeption der paulinischen Herrenmahltradition.“ Tatsächlich hat Klaus Berger mit der bis weit in die Alte Kirche zurückreichenden Messform kein Problem. Ihm ist bewusst, dass sich in den alten Texten, Formen und Gesten wie in einem Speicher erhalten hat, wie frühere Christen das Wort Gottes ausgelegt haben. „Liturgie“, sagte Berger im Frühjahr 2014 in Eichstätt, „ist der eigentliche Ort der Schriftauslegung.“ Kenner des sog. gregorianischen Chorals können dies nur bestätigen.

Durch alle Sätze, die ich seitdem von Klaus Berger gehört, gelesen habe, dringt zu mir eine tiefe Liebe zur Heiligen Schrift, zur Einen Heiligen und Apostolischen Kirche, zu Jesus Christus – in dieser Kette der Vermittlung. Anders als die vielen blutleeren Gestalten, die das wechselseitige Promotions-, Habilitations- und Zitationskartell an die Katheder des theologischen Betriebs spült, erfüllt ihn eine Leidenschaft für die Sache, die seinesgleichen sucht. Um mutig für eine Einsicht, eine Überzeugung einstehen zu können, bedarf es eines gesunden Schusses Zorn. Nach dem heiligen Thomas nimmt der Tapfere „moderaten Zorn“ in seine Handlung auf (iram moderatam assumit fortis ad suum actum), um ihr Nachdruck zu verleihen (Summa Theol. II-II, 123, 10) und „das Übel anzuspringen“. In diesem Sinne ist Berger ein begnadeter Polemiker. Auch davon wird sich der Leser dieses Interviews überzeugen können. Und es ist ihm zu wünschen, dass er auch Humor hat und nicht jedes Wort auf die Goldwaage legt.

Kann man sich bei Theologievorlesungen überfüllte Hörsäle vorstellen ? In Heidelberg war es zu erleben. Legendär sind Bergers Nikolaus-Vorlesungen, die er über viele Jahre hinweg am 6. Dezember hielt. Witz, Humor, polemische Spitzen trugen – neben aller Gelehrtheit – dazu bei. Als Exeget „mit Leib und Seele“ geht es ihm nicht um Erbsenzählerei, sondern um die „Tiefendimension“ der neutestamentlichen Texte. Dass er diese gleichwohl auswendig und mit allen philologischen Raffinessen sowie mehreren ihm geläufigen Sprachen erschließen kann, wird da niemanden mehr überraschen. Berger war es auch, der das fast Unmögliche bewerkstelligte : eine Zusammenschau der unterschiedlichen neutestamentlichen Traditionen und Phasen. Die „Theologiegeschichte des Urchristentums“ (2. Aufl. 1995) halte ich für sein bestes Fachbuch.

Dass Theologie und Bibelauslegung mit der eigenen Biographie zusammenhängen, konnten wir bereits feststellen. Berger geht noch einen Schritt weiter. Danach „ist Biographie Theologie und umgekehrt“. Warum, so fragt man sich, entdecken dann heute so wenige Menschen ihr Leben als Offenbarungsbuch, als ein Werk, in das Gott sich einschreibt ? Es liegt wohl hauptsächlich an der Sprache. „Wir haben uns sprachlich selbst eingeengt“, sagte Berger in seinem Vortrag an der Katholischen Universität in Eichstätt. Gemeint sind die Theologen. Wohl deshalb gelten Theologen, gelten überhaupt Christen im säkularen Umfeld als „intolerant“. Umso dringender wäre es, nach einer Sprache zu suchen, die das von Gott geschenkte Leben und das eigene Erleben wieder näher zusammenbringt. Ohne „Ökumene des Weglassens“ (Berger). Ohne Anbiederung an Moden und Ideologien. Ich freue mich, in Klaus Berger einen gläubigen Theologen zu wissen, der an dieser Aufgabe arbeitet.

Wolfgang H. Spindler OP