Wunder

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Wunder

Theorie – Auslegung – Didaktik

Kurt Erlemann

Narr Francke Attempto Verlag · Tübingen


Umschlagabbildung: © Adobe Stock / Josef Rapek

© 2021 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Satz: pagina GmbH, Tübingen

utb-Nr. 5657

ISBN 978-3-8385-5657-4 (Print)

ISBN 978-3-8463-5657-9 (ePub)

Inhalt

  Vorwort

 1 Einführung1.1 Die Intention des Buches1.2 Erste Fragen und Antworten1.2.1 Hat Jesus Wunder getan?1.2.2 Was ist die ‚Wahrheit‘ der Wundertexte?1.2.3 Kann man noch an Wunder glauben?1.2.4 Wozu sind Wundertexte gut?1.2.5 Welche Themen sind mitzudenken?1.3 Vorgehensweise1.4 Einführende Thesen1.5 Was sind eigentlich Wunder?1.5.1 Biblische Wunderterminologie1.5.2 ‚Weiche Fakten‘1.5.3 Profan-ästhetischer Wunderbegriff1.5.4 Kontingent-liberativer Wunderbegriff1.5.5 Biblisch-konfessorischer Wunderbegriff1.5.6 Fazit: Provokation der menschlichen ratio1.5.7 Exkurs: Naturgesetze und Quantenphysik1.6 Antike Wundergattungen1.6.1 Heilungswunder/Therapien1.6.2 Exorzismen1.6.3 Totenerweckungen1.6.4 Geschenkwunder1.6.5 Natur- und Rettungswunder1.6.6 Normenwunder1.6.7 Strafwunder1.6.8 Epiphanien1.6.9 Weitere Wunderformen1.6.10 Wundersummarien1.6.11 Wunder im Neuen Testament – Textgrundlage1.7 Wunderspezifische Termini1.7.1 Charisma1.7.2 Dämonen1.7.3 Magie und Zauberei1.7.4 Schamanismus1.7.5 Mythos1.7.6 Rationalismus1.7.7 Spiritualität1.7.8 Mystik1.7.9 Weiche Fakten1.7.10 Faktualität/Fiktionalität

 2 Historische Fragestellungen2.1 Welt- und Menschenbild2.1.1 Sichtbare und unsichtbare Wirklichkeit2.1.2 Monotomisches Menschenbild2.1.3 Wunderglaube und Wunderkritik2.1.4 Nebeneinander von Mythos und ratio2.2 Antike Heilkunst2.2.1 Asklepios: Tempelmedizin2.2.2 Hippokrates: ‚Schulmedizin‘2.2.3 Wunderheiler u.a.: Volksmedizin2.2.4 Krankheit und Sünde2.2.5 Exkurs: Krankheitsbilder im Neuen Testament2.3 Jesus und andere Wundertäter2.3.1 Alttestamentliche Wunderpropheten2.3.2 Frühjüdische Wundertäter2.3.3 Wundertäter im hellenistischen Raum2.3.4 Magier, Zauberer und Schamanen2.3.5 Fazit: Die Außenwahrnehmung Jesu2.4 Genese des Christusglaubens2.4.1 Das Charisma des erinnerten Jesus2.4.2 Begegnungen mit dem Auferstandenen2.4.3 Konsequenzen für den Wunderglauben2.4.4 Fazit: Von Begegnungen zum Glauben2.5 Zwischen Glauben und Ablehnung2.5.1 Die polarisierende Wirkung der Wunder2.5.2 Vollmachtsfrage und Zeichenforderungen2.5.3 Das Problem der Schweigegebote2.5.4 Kult- und sozialkritischer Sprengstoff2.5.5 Fazit: Eschatologisch-kritische Funktion2.6 Ergebnis: Die historische Plausibilität der Wunder Jesu

 3 Grundlinien der Wunderforschung3.1 Wunderdeutung bis zur Neuzeit3.1.1 Biblische und altkirchliche Deutung3.1.2 Wunder in der Reformationszeit3.1.3 Fazit: Allegorisch-spirituelle Deutung3.2 Wunderdeutung in der Neuzeit3.2.1 Ausgangspunkt/Grundlagen3.2.2 Rationalistische Wunderdeutung3.2.3 Mythische Wunderdeutung3.2.4 Albert Schweitzers Fazit3.3 Wunderforschung im 20. Jahrhundert3.3.1 Religions- und formgeschichtliche Deutung3.3.2 Existenziale Wunderdeutung3.3.3 Tiefenpsychologische Deutung3.3.4 Psychosoziale Deutung3.3.5 Sozial- und kultkritische Deutung3.3.6 Weitere Deutungsmuster3.3.7 Fazit: Der lange Schatten des Rationalismus3.4 Neueste Trends3.4.1 Revision des Wahrheitsbegriffs3.4.2 Human- und kulturwissenschaftliche Ansätze3.4.3 Die Frage bleibender Relevanz3.4.4 Der unerklärbare Rest3.4.5 Fazit: Grenzen des Verstehens3.5 Auswertung und Kritik3.5.1 Harte Fakten vs. fromme Fiktion3.5.2 Historische vs. unhistorische Wunder3.5.3 Rationale vs. supranaturale Erklärung3.5.4 Wörtliches vs. übertragenes Verstehen3.5.5 Form vs. Inhalt?3.5.6 Wundergeschehen vs. Wundererzählung3.5.7 Rationale Verstehbarkeit vs. provokative Unverständlichkeit3.5.8 Die Frage nach Jesus3.5.9 Fazit: Der Output der Wunderforschung3.5.10 Exkurs: Die historische Wunderfrage im Wandel3.6 Weiterführende Überlegungen3.6.1 Die Frage theologischer Relevanz3.6.2 Der Wahrheitsbegriff der Wundertexte3.6.3 Die Logik der Wunder3.6.4 Sinnebenen und theologische Aspekte3.6.5 Grundfunktionen und Textgruppen3.6.6 Definition Wunder und Wundererzählung3.6.7 Fazit: Plädoyer für eine emanzipierte Wunderforschung3.6.8 Exkurs: Wundertexte und Gleichnisse

 4 Inhaltliche Aspekte4.1 Sinnebenen4.1.1 Physisch-leibliche Sinnebene4.1.2 Spirituelle Sinnebene4.1.3 (Tiefen-)Psychische Sinnebene4.1.4 Sozial-und kultkritische Sinnebene4.1.5 Mythisch-kosmische Sinnebene4.1.6 Kommunikative Sinnebene4.1.7 Diakonisch-missionarische Sinnebene4.1.8 Theologische Sinnebene4.1.9 Fazit: Vielschichtige Befreiungstexte4.2 Klassische Themenfelder4.2.1 Theo-logische Aspekte4.2.2 Christologische Aspekte4.2.3 Pneumatologische Aspekte4.2.4 Kosmologische Aspekte4.2.5 Anthropologische Aspekte4.2.6 Ekklesiologische Aspekte4.2.7 Ethische Aspekte4.2.8 Soteriologische Aspekte4.2.9 Eschatologische Aspekte4.2.10 Fazit: Heilvolle Wirkungen der Zuwendung Gottes4.3 Weitere Themen4.3.1 Wunder und Glaube4.3.2 Wunder und Sündenvergebung4.3.3 Wunder und Nachfolge4.3.4 Wunder und Reich Gottes4.3.5 Wunder und Theodizee4.4 Einzelne Wunderprofile4.4.1 Markusevangelium4.4.2 Matthäusevangelium4.4.3 Lukanisches Doppelwerk4.4.4 Johannesevangelium4.4.5 Corpus Paulinum4.4.6 Weitere Schriften4.5 Ergebnis

 5 Exegetische Musterbeispiele5.1 Fürsorge-Wundertexte5.1.1 Speisungswunder (Mk 6,30–44parr.)5.1.2 Bewahrung des Jesuskindes (Mt 2,13–23)5.2 Erkenntnis-Wundertexte5.2.1 Die Sturmstillung (Mk 4,35–41parr.)5.2.2 Der Jüngling zu Nain (Lk 7,11–17)5.3 Missions-Wundertexte5.3.1 Der blinde Bartimäus (Mk 10,46–52parr.)5.3.2 Strafwunder an Barjesus (Apg 13,6–12)5.4 Konflikt-Wundertexte5.4.1 Beelzebulfrage (Mt 12,22–30parr.)5.4.2 Der Wassersüchtige (Lk 14,1–6)

 6 Didaktische Impulse6.1 Hermeneutische Vorbemerkungen6.1.1 Voraussetzungen des Wunderverstehens6.1.2 Lebensweltliche Brücken zum Wunderbaren6.1.3 Sinnebenen und theologische Themenfelder6.1.4 Unverzichtbare Befreiungsgeschichten6.2 Pädagogische Überlegungen6.2.1 Die Debatte um Wunder im Unterricht6.2.2 Entwicklungspsychologische Aspekte6.3 Von der Exegese zum Unterricht6.4 Wunder-Textauswahl und Curricula6.4.1 Vorgaben der Kerncurricula6.4.2 Einordnung der Mustertexte6.5 Didaktische Möglichkeiten6.5.1 Wundertheorie und Methoden6.5.2 Textunabhängige Methoden6.6 Musterbeispiele6.6.1 GS (1./2. Klasse): Bewahrung des Jesuskindes (Mt 2,13–23)6.6.2 GS (3./4. Klasse): Heilung des blinden Bartimäus (Mk 10,46–52)6.6.3 Sek I (5.+6. Klasse): Speisung der Fünftausend (Mk 6,30–44)6.6.4 Sek I (7.–10. Klasse): Sturmstillung (Mk 4,35–41)6.6.5 Sek II (10./11. Klasse): Jüngling zu Nain (Lk 7,11–17)6.6.6 Sek II (GK, LK): Exorzismus und Beelzebulfrage (Mt 12,22–30)6.6.7 BK I: Heilung des Wassersüchtigen am Sabbat (Lk 14,1–6)6.6.8 BK II: Strafwunder an Barjesus-Elymas (Apg 13,6–12)

 7 ServiceteilS 1 AbkürzungenS 2 GlossarS 3 Schlagwörter (in Auswahl)S 4 Textstellen (in Auswahl)Altes TestamentAtl. ApokryphenFrühjüd. SchriftenNeues TestamentNtl. Apokryphen:Sonstige Autoren:S 5 Übersicht: Ntl. WundertexteS 5.1 Fürsorge-WundertexteS 5.2 Erkenntnis-WundertexteS 5.3 Missions-WundertexteS 5.4 Konflikt-WundertexteS 6 Literaturangaben1. Primärliteratur

 

Vorwort

Wunder und Wundertexte gehören zu den umstrittensten und zugleich faszinierendsten Genres der Bibel. In ihnen wird der Glaube an den Schöpfergott Israels sichtbar und spürbar. Ohne Wundertexte wäre dieser Glaube seiner Spitze beraubt. Die Evangelisten zeichnen Jesus als charismatischen Wundertäter. Schon seit den Anfängen der Kirche waren seine Wunder und die der Apostel Gegenstand intellektueller Kritik. Seit dem Zeitalter des Rationalismus wird die Glaubwürdigkeit der Bibel vorzugsweise an der Wunderfrage festgemacht. Bis heute dauert die Kontroverse um ein sachgemäßes Verständnis der biblischen Wundertexte an. Trotz aller Umstrittenheit sind sie noch immer ein fester Bestandteil der Lehrpläne für den Evangelischen Religionsunterricht.

Der UTB-Band ist das Ergebnis langjähriger Beschäftigung mit den biblischen Wundertexten und dem Phänomen des Wunderbaren in Forschung und Lehre. Das Buch vereinigt Impulse der Wunderforschung, exegetische Fragestellungen sowie Aspekte der Wunderhermeneutik und -didaktik. Das Buch ist Fach- und Lehrbuch zugleich: Erstens, es bietet einen leichten Einstieg in Grundbegrifflichkeiten. Zweitens, es beleuchtet eingehend historische Aspekte der Wunderfrage. Drittens, es bietet einen Überblick über Wunderdeutung und -forschung seit den Anfängen bis heute und spinnt die Fäden weiter. Viertens, es erschließt zahlreiche theologische Aspekte der Wundertexte. Fünftens, es setzt die Wundertheorie in Musterexegesen praktisch um und sechstens, es bietet Impulse für eine moderne Wunderdidaktik anhand praktischer Unterrichtsskizzen. Grafiken, Tabellen, Beispieltexte und ein Serviceteil runden das Konzept des Buches ab.

Mein ausdrücklicher Dank gilt den Menschen, welche die Entstehung des Buches begleiteten und bereicherten: Gunther vom Stein und Simon Dietz trugen wertvolle didaktisch-methodische Impulse bei. Sophia Diddens leistete akribische Korrekturarbeit. Daniel Schmitz und Thomas Wagner hielten mir einmal mehr den Rücken frei. Gunter Narr und seinem Team danke ich für die Realisierung des Buches auf Verlagsseite. Vor allem aber danke ich meiner Frau Steffi Springer für ihre große Geduld und liebevolle Unterstützung zu jeder Zeit! Gewidmet ist das Buch meiner langjährigen Mitarbeiterin Astrid Padberg als Dankeschön für die jederzeit wunderbare und professionelle Zusammenarbeit über die Jahrzehnte!

Kurt Erlemann, Neviges, Pfingsten 2021

1 Einführung

Wunder und Wundertexte sind faszinierende, aber auch umstrittene Genres der Bibel. Zu fragen ist nach ihrer historischen Wahrheit, ihrer Relevanz und ihrer Vermittelbarkeit: Ist von wunderhaften Ereignissen zur Zeit Jesu und der Apostel auszugehen? Wie lassen sich Wundertexte adäquat verstehen? Hat der Wunderglaube noch theologische Relevanz oder ist er Teil eines überholten Weltbildes? Das Buch wendet die Ergebnisse der Wunderforschung auf exegetische, hermeneutische und didaktische Fragestellungen an.

1.1 Die Intention des Buches

Das Buch lehnt sich in Format und Zuschnitt an den 2020 erschienenen UTB-Band Gleichnisse. Theorie – Auslegung – Didaktik (utb 5494) an. Die inhaltliche Vorlage ist mein populärwissenschaftlich angelegter Band Kaum zu glauben. Wunder im Neuen Testament (2016). Das vorliegende Buch spinnt den dort entwickelten Faden weiter, diskutiert ihn mit anderen wundertheoretischen Ansätzen und baut ihn im Sinne eines Lehrbuches aus. Besonderes Augenmerk gilt dem Verhältnis zwischen Wundertaten und Wundertexten, deren Bedeutung und Funktion, der historischen Wunderfrage und dem Wahrheitsanspruch der Texte. Dieser wird mit dem naturwissenschaftlich-rationalen Wahrheitsbegriff der Aufklärung ins Verhältnis gesetzt. Leitend ist die Grundüberzeugung, dass der Wunderglaube theologisch unverzichtbar ist. Der Glaube an den Schöpfergott, der selbst aus dem Tod neues Leben schaffen kann und den Menschen Erlösung von Leiden und Vergänglichkeit zugesagt hat, ist ohne den Gedanken an seine Wunderkraft stumpf.

1.2 Erste Fragen und Antworten
1.2.1 Hat Jesus Wunder getan?

Das historische Geschehen hinter den Wundertexten liegt im Dunkeln. Die Evangelien sind keine Tatsachenberichte, sondern Glaubenszeugnisse. Gleichwohl ist die Annahme einer Wundertätigkeit Jesu plausibel: Sie erklärt stimmig die daraus entstandene Wirkungsgeschichte inklusive Christus- und Wunderglauben, Jüngerschaft und Kirche. Welche Wunder Jesus im Einzelnen getan hat, lässt sich nicht rekonstruieren. Die Reduktion historisch ‚wahrscheinlicher‘ Wundertaten auf rational erklärbare Heilungen und Exorzismen ist kein Lösungsweg für diese Frage und wird dem Wahrheitsanspruch der Texte nicht gerecht (→ 2.4; 3.6.2).

1.2.2 Was ist die ‚Wahrheit‘ der Wundertexte?

Die Wundertexte sind weder Tatsachenberichte noch fromme Märchen oder Mythen; ihr Wahrheitsgehalt liegt dazwischen. Er erschließt sich aus der heilvollen Wirkung der Wunder und aus der Vielzahl an Sinnebenen, welche die Texte transportieren. Ein Wunder, so lässt sich vorab sagen, ist ein umfassendes, die physische, psychische, soziale und religiös-moralische Dimension des Menschseins betreffendes, Geschehen, welches auf übernatürliche, göttliche Weise menschliche Not heilvoll verändert. In der Symphonie der Sinnebenen und der theologischen Aspekte liegt die bleibende Wahrheit und Relevanz der Wundertexte.

1.2.3 Kann man noch an Wunder glauben?

„Es gibt zwei Arten, sein Leben zu leben: entweder so, als wäre nichts ein Wunder, oder so, als wäre alles ein Wunder. Ich glaube an Letzteres.“1

Intensive Wundererfahrungen sind der Anfangszeit des Christentums vorbehalten. Die Zeit seither ist wunderarm. Berichten über heutige wunderhafte Vorgänge begegnen wir verständlicherweise mit großem Vorbehalt. Das liegt nicht nur an unserer naturwissenschaftlich-rationalen Prägung, sondern auch daran, dass sich wunderhafte Ereignisse ‚wunderbar‘ vermarkten lassen und der Begriff Wunder inflationär und in profanisierter Weise verwendet wird. Gleichwohl lassen sich sporadisch wunderhafte Ereignisse konstatieren oder zumindest als Wunder deuten (Lourdes, Wunder von Lengede u.a.). – Wundererfahrungen setzen eine Offenheit für wunderhaftes Geschehen voraus. Das ist nur jenseits nüchtern-analytischer Weltdeutung, etwa in einer religiös-mystischen Optik auf die Wirklichkeit, möglich. Die in den Wundertexten angelegte Wunderlogik zeigt konkret, was Wundererfahrungen möglich macht: ein intensives Zusammenspiel bzw. Einswerden von Hoffnung, Glauben und Gebet einerseits und liebend-barmherziger Zuwendung des göttlichen Wundertäters andererseits (→ 1.5; 3.6.2f.).

1.2.4 Wozu sind Wundertexte gut?

Wunder und Wundertexte sind aus mehreren Gründen theologisch unverzichtbar: Erstens, sie transportieren den Glauben an den allmächtigen Schöpfergott, der sich fürsorglich um die Welt und das Leben darin kümmert und selbst aus dem Tod heraus neues Leben schaffen kann. Zweitens, an den Wundern macht sich die eschatologische Hoffnung auf umfassende Erlösung von Leiden, Angst und Vergänglichkeit fest. Drittens, die Wundertexte wirken bis heute als Hoffnungs-, Ermutigungs- und Befreiungstexte. Sie zeigen, dass natürliche, soziale und religiös-moralische Grenzen durch Gottes heilvolle Schöpfermacht aufgebrochen werden können. Sie weiten damit den Horizont dessen, was möglich erscheint, und setzen Handlungsimpulse frei, um die Welt schon jetzt heilvoll zu verändern.

1.2.5 Welche Themen sind mitzudenken?

Tangiert ist mit der Wunderthematik die Frage des Verhältnisses von Theologie und Glauben einerseits und Naturwissenschaft und Vernunft andererseits. Mithin geht es um die Frage des ntl. Weltbilds im Vergleich zum heutigen. Zu betrachten sind weiterhin das antike Medizinwesen, die Außenwahrnehmung Jesu, sein Verhältnis zu anderen Wundertätern sowie die Wunderforschung mit ihren Leitfragen und Ansätzen. Die Frage der Vermittlung von Wundertexten, sprich: Wunderhermeneutik und Wunderdidaktik, runden das Fragetableau ab.

1.3 Vorgehensweise

Das Buch startet mit einführenden Thesen, einer ersten Annäherung an das Phänomen Wunder, einem Überblick über Wundergattungen und der Klärung wichtiger Begriffe (Kapitel 1). Kapitel 2 behandelt historische Fragestellungen (Welt- und Menschenbild, antike Heilkunst, Außenwahrnehmung Jesu, Genese des Wunderglaubens, Wirkung der Wunder Jesu). Kapitel 3 führt in die Wunderforschung von den Anfängen bis heute ein, stellt weiterführende Überlegungen an und bietet eine daraus resultierende Wunderdefinition. Kapitel 4 entfaltet den Inhalt der Wundertexte (Sinnebenen, theologische Aspekte) und entwickelt einzelne Wunderprofile. Kapitel 5 konkretisiert die wundertheoretischen Überlegungen dieses Buches anhand von acht Musterexegesen. Kapitel 6 enthält Überlegungen zur Wunderhermeneutik und -didaktik sowie acht zu den Musterexegesen passende Unterrichtsentwürfe. – Der Serviceteil bietet ein Abkürzungsverzeichnis, ein Glossar, ein Schlagwort- und Textstellenregister, eine Übersicht über die ntl. Wundertexte sowie Literaturangaben.

1.4 Einführende Thesen

Kurze Thesen bündeln vorab die wichtigsten Erkenntnisse des Buches; das eigentliche Wunderkonzept wird in → 3.6 und → Kapitel 4 entfaltet.

These 1: Wundererzählungen bieten authentische Jesuserinnerung

Die Wundertexte sind weder Tatsachenberichte noch reine Mythen oder Märchen. Sie erheben den Anspruch, historisches Geschehen wiederzugeben und Jesu Bedeutung zutreffend zu umschreiben. Sie sind authentische Wiedergabe historischer Begegnungen und Erfahrungen mit Jesus von Nazareth (→ 2.4; 3.5.6).

These 2: Jesu Wunder begründen plausibel den Christusglauben

Historisch plausible Ursache für den ntl. Christusglauben sind wunderhafte Erfahrungen von Bewahrung und Befreiung aus aussichtslosen Situationen. Vor- und nachösterliche Begegnungen erzeugten bei vielen Menschen die Gewissheit, Jesus sei der Messias Israels, der in göttlicher Vollmacht die alten prophetischen Verheißungen erfüllt. Ihm waren alle denkbaren Wundertaten zuzutrauen! Welche Wunder Jesus im Einzelnen getan hat, lässt sich nicht sagen (→ 2.4).

These 3: Wunder sind nicht Relikte eines überholten Weltbildes

Im mythisch geprägten Weltbild der ntl. Zeit hatten göttliche Eingriffe ins Weltgeschehen einen festen Platz. Im modernen Weltbild gelten sie als rational nicht erklärbar und damit als unglaubwürdig. Doch gab es rationale Wunderkritik von Anfang an, mythisches Denken gibt es auch heute noch. Damals wie heute gibt es unterschiedliche, einander ergänzende Optiken auf dieselbe Wirklichkeit, die einen Wunderglauben entweder zulassen oder nicht (→ 3.6.2d).

These 4: Wunder folgen einer eigenen, rationalen Wunderlogik

Wunder sind rational nicht erklärbar, sie sind aber nicht irrational1. Sie folgen vielmehr eigenen, rational beschreibbaren Gesetzmäßigkeiten. Die Wunderlogik lautet: Wunder sind das Ergebnis intensiven Einswerdens von Glauben, Hoffnung und Gebet einerseits und barmherzig-liebevoller Zuwendung des Wundertäters andererseits. Wo dies zustande kommt, werden Wunder möglich (→ 3.6.3).

These 5: Wunder sind spirituell erfahrbare, weiche Fakten

Wunder sind weiche Fakten, die sich wissenschaftlich-rationaler Beweisbarkeit entziehen. Im Bereich spiritueller Erfahrung haben Wunder eine eigene Evidenz. Die Bewertung von Ereignissen als Wunder ist dementsprechend eine Frage subjektiver Deutung und Überzeugung (→ 1.7.9; 3.6.2c).

 

These 6: Wundertexte provozieren bewusst menschliche ratio

Die Wundererzählungen provozieren den Konflikt mit menschlicher ratio. Sie konfrontieren mit dem (angeblich) Unmöglichen, weiten das Spektrum des Möglichen aus und zeigen, wie das Unmögliche möglich werden kann. Wissenschaftlich-rationale Erklärungen nehmen den Wundern das Wunderhafte. Nur der Verzicht darauf lässt das Faszinierende des Wunders bestehen (→ 1.5.4; 3.6.2).

These 7: Wundertexte führen ins Zentrum des biblischen Gottesglaubens

Die Konfrontation mit dem Unmöglichen ist zugleich die Konfrontation mit dem biblischen Gottesglauben. Dieser manifestiert sich quer durch die Bibel in göttlichen Wundertaten. Gott sprengt weltliche Grenzen, um seinen heilvollen Plan durchzusetzen. Der Glaube an Gottes Allmacht zieht den Wunderglauben nach sich. Biblische Theologie ist ohne Wunder und Wundertexte unvollständig. – Jesus ist Träger der göttlichen Schöpfermacht; die Wundertexte setzen diese christologische Überzeugung narrativ in Szene. Ohne die Wundertexte verlöre die Botschaft Jesu ihre leiblich-physische Dimension (→ 3.6.1).

These 8: Wundererzählungen enthalten mehrere Sinnebenen

Wundertexte enthalten mehrere Sinnebenen, welche die umfassende Zuwendung Gottes zu den Notleidenden markieren. Zu ihnen zählen die physisch-leibliche, spirituelle, (tiefen-)psychische, sozialkritische, mythisch-kosmische, diakonisch-missionarische, kommunikative und die theologische Ebene. Die Sinnebenen ergänzen einander zu einem umfassenden Textverständnis. Eine Reduktion auf einzelne Sinnebenen wird den Texten nicht gerecht (→ 4.1).

These 9: Wundererzählungen sind theologisch vielschichtig

Wundertexte sind auch theologisch vielschichtig. Sie berühren Themenfelder wie Theo-logie, Christologie, Pneumatologie, Kosmologie, Anthropologie, Ekklesiologie, Ethik, Soteriologie, Eschatologie sowie Einzelthemen wie Glaube, Nachfolge, Vergebung, Reich Gottes und die Theodizeefrage (→ 4.2; 4.3).

These 10: Wundertexte lassen sich textpragmatisch gruppieren

Die Wundertexte lassen vier Reaktionstypen und Grundeinsichten erkennen: Staunen (Der Wundertäter hilft!), Erkenntnis (Der Wundertäter hat göttliche Vollmacht!), Glaube und Nachfolge (Der Wundertäter verändert das Leben!) sowie Widerstand und Ablehnung (Der Wundertäter darf das!). Diesen Reaktionen und Grundeinsichten lassen sich vier Grundfunktionen zuordnen: Inszenierung göttlicher Fürsorge, Klärung göttlicher Identität, Konstitution von Gemeinschaft und Polarisierung im Sinne endzeitlicher krísis. Dies lässt eine heuristische Einteilung in Fürsorge-, Erkenntnis-, Missions- und Konfliktwundertexte zu (→ 3.6.5).

These 11: Wundererzählungen führen zu den basics gelingenden Lebens

Wunder befreien von dem, was das Leben einengt, und stellen die Grundlagen des Lebens wieder her. Die Texte zeigen, was menschliche Not beendet: spontanes, beherztes Eingreifen, gegebenenfalls unter Durchbrechung etablierter Ordnungen, kurz: engagiertes, tatkräftiges Erbarmen. Wo Gleichgültigkeit, Trägheit und Eigensinn überwunden werden, wird neues Leben möglich (→ 3.6.3).

These 12: Wundererzählungen sind wirkkräftige Befreiungsgeschichten

Die Durchbrechung natürlicher, sozialer und religiös-moralischer Ordnungen befreit von den Grenzen des Alltags. Die Wundertexte weisen auf Gott hin, der das Weltgeschehen heilvoll unterbrechen und aufsprengen kann. Die Wundertaten Jesu signalisieren die globale Befreiung aus Leid und Vergänglichkeit. Die Wundertexte setzen Hoffnung auf umfassende Erlösung in die Welt und ermutigen dazu, die Grenzen des Faktischen zu sprengen und die Welt heilvoll zu verändern. Die Wundertexte inspirieren dazu, die Erwartungen an das Leben maximal nach oben hin zu korrigieren. In alledem liegt ihre dauerhafte Relevanz (→ 3.6.1).