Kultur oder Rasse und die zweigeteilte Welt

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Kultur oder Rasse und die zweigeteilte Welt
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Table of Contents

Title Page

Vorrede

---- PS

1. Transfer in eine vorerst bedrohliche Welt

---- Lust umzukehren

---- Termiten

2. Begegnung mit einer neuen Kultur

---- Bibel und afrikanische Mentalität

---- sakraler Raum, sakrale Zeiten

---- egalitäre Strukturen und Konsens

---- das Palaver

---- Harmonie

---- Gastfreundschaft

---- Architektur

---- Geheimnis des Lebens, Geheimnis der Macht

---- der Sinn des Lebens

3. eine neue pädagogische Situation

---- der Streik der Schüler

---- Imitation oder Analyse

---- Animation

---- zentralisiertes System

---- die ehemaligen Schüler/innen

---- Schülerarbeit

---- einsamer Standard?

4. alle Menschen sind gleich

---- verstehen wirst du sie nie

---- Counseling

---- Psychotherapie

---- psychologische Instrumente

5. Erfahrungen zur zweigeteilten Welt

---- Spital und traditioneller Heiler

---- Tollwut

---- Unfälle

---- die Erbschaft

---- China etc.

---- Jobs

---- die Strasse

---- die Heimat, ein Planet?

---- gedämpfter Fortschritt

---- Abwertung um 50%

---- ein Unfall wird zum Attentat

---- Nordkorea, Nestlé etc.

6. Informatik weitab

---- die Tücken zu Beginn

---- ruinöse Spirale

---- PS

7. Bauen mit Kleinbauern

---- Option Eigenbau

---- Arbeiter und Bauern

---- der grosse Saal

---- Philosophie

8. das besondere Problem des Rassismus

---- vor-Urteile

---- „Rasse“ ein völlig überholter Begriff

---- das Sündenbockmodell

---- keine Rassen, sondern Kulturen

---- Rassismus und Rkk?

---- Huhn oder Ei?

9. Epilog

Abkürzungen

Index

l. theodor donat

Kultur oder Rasse und die zweigeteilte Welt

Ein Priester schreibt seiner Freundin über eine ganz andere Kultur

Vorrede

Liebe Carole,

Mit 19 war ich römisch-katholischer Ordensmann, mit 37 ebenso römischer Ordenspriester. 27 Jahre verbrachte ich in einem Land Westafrikas. Nun bin ich 73 und habe das Privileg einer durch meine Gesundheit bedingten Auszeit. Es war für mich entscheidend, in meinen 27 besten Jahren, die Welt mit den Augen jener Menschen zu sehen, die heute die überwältigende Mehrheit ausmachen. Danach hatte ich einige Jahre Zeit, um die Welt von der Minderheit her zu betrachten.

27 Jahre in der Mission sind übrigens eine relativ lange Zeit, da eine alte Missionarsregel besagt, dass die Jahre „in Afrika“ doppelt zählen, und ich mich somit schon längst hätte zur Ruhe setzen können. Ich „höre“ das Stirnrunzeln meiner Mitbrüder, denn für einen Ordensmann gibt es natürlich keinen Ruhestand.

Eine andere Missionarsregel gäbe mir das Vorrecht, dass mir etwas über fünf Fingerbreit Whisky in einem Longdrinkglas eingeschenkt würde, je eine Fingerbreit für fünf Jahre Arbeit in der Mission. Dies entsprach früher dem Intervall zwischen zwei Heimaturlauben. Vom „Whisky-Privileg“ profitiere ich nur bei Depressionen, die mir unter anderem meine liebe römisch-katholische Kirche (in der Folge Rkk) beschert.

Von den Umständen, die ich als grösste Geschenke meines Lebens betrachte, sind besonders drei für dieses eBuch wichtig:

 Von einem Ordensleben in festen Bahnen in der Heimat durfte ich in eine Kultur aufbrechen, von der ich gar keine Ahnung haben konnte, so speziell war sie (B 2). Sie vermittelte mir den Blick in eine Gesellschaft, die ohne Hierarchie auskommt.

 Einem Zusammenbruch und einer Krankheit verdankte ich den Freiraum, drei Themen-Bereiche aufzuarbeiten, die mich praktisch während meines ganzen Lebens beschäftigt hatten: meine Beziehung zu Jesus (mein eBuch „der andere Revolutionär“), meine Beziehung zu meiner Kirche (mein eBuch „der verstellte Ursprung”) und meine Erfahrungen in einer ganz anderen Kultur, die ich mit diesem eBuch beschreiben möchte. Aus der Sicht unterprivilegierter Menschen möchte ich zudem von Erlebnissen berichten, die mir den Blick auf eine zweigeteilte Welt – den Menschen mit zu viel Privilegien und den Menschen mit zu wenigen Möglichkeiten – geöffnet haben. Und auf einige Mechanismen hinweisen, die das Gleichgewicht unserer Welt beeinflussen. Auf dem Weg der Begegnung von Menschen dieser ganz anderen Kultur begegnete ich natürlich auch dem Problem von Vorurteilen und Rassismus.

 Deine Freundschaft und Deine Liebe (dvUr B 2.10.) befreiten mich nicht nur von der Sexualmoral der römischen Kirche, die mich während vieler (etwa 26) Jahre lang gequält und viel Kraft gekostet hatte, sondern sie zeigten mir, dass Liebe von Menschen aus ganz verschiedenen Kulturen möglich ist. Wie in den beiden erwähnten Büchern möchte ich meine Erfahrungen als Briefe an Dich darstellen.

Nachvollziehbar möchte ich schreiben, mit dem gesunden Menschenverstand argumentieren, Evidenz ansprechen. Das habe ich in der Vorrede zu einem anderen Buch ausführlicher beschrieben (daRev). Wieder bitte ich Deine Freunde, mehr auf das Gemeinte als auf die sprachliche Perfektion zu achten. Sie kennen sicher das geniale Büchlein „Le Petit Prince“ (“Der Kleine Prinz“, in der Folge klP) von Antoine de Saint-Exupéry. Ich kann nicht umhin, an dieser Stelle eine Liebeserklärung an dieses Büchlein abzugeben, das von den wesentlichsten Seiten des Menschseins zu handeln scheint. Der Verfasser betont, dass es für die „Grossen Personen“ unmöglich ist, die elementarsten Dinge des Lebens zu erkennen. Als „Grosse Personen“ – les grandes personnes – werden im klP Leute beschrieben, die sich mit Konventionen zufrieden geben, sich selbst als bedeutend erachten und von Macht, Geschäft oder Konsum leben.

 

Ein Beispiel bloss, wie „Grosse Personen“ sind: Der Asteroid B612, von dem der kleine Prinz kam, wäre um ein Haar nicht bekannt geworden. Ein türkischer Astronom hatte ihn entdeckt und an einem Astronomen-Kongress, mit Turban und Kaftan, davon berichtet. Natürlich fanden die „Grossen Personen“ seine Aufmachung lächerlich und niemand glaubte seinen Ausführungen. Ein türkischer Diktator gebot seinen Untertanen unter Todesstrafe, sich europäisch zu kleiden. Das rettete den Asteroiden B612 davor, vergessen zu werden, denn beim nächsten Kongress hatte der Astronom, diesmal im Smoking, überhaupt keine Probleme mit seiner Beweisführung (klP IV). Wenn ich jemandes Freund werden möchte, schenke ich ihm eine Taschenausgabe des klP. Wenn er das Büchlein genial findet, so bemühe ich mich um seine Freundschaft.

Meine Freundin, Carole, möchte ich noch sehr kurz vorstellen. Deine Herkunft aus einem sehr einfachen Milieu – in einer egalitären Konsens-Kultur – hat mir erlaubt, mit diesem Milieu viel konkreter als vorher verbunden zu sein. Du bist fröhlich, praktisch, intelligent, sensibel und sportlich (heute vielleicht weniger, etliche Jahre sind vergangen!), aber vor allem hast Du einen gesunden Menschenverstand und den Sinn für Weisheit. Du hast Vorurteile und Rassismus erlebt. Mit der Rkk kommst Du nicht so ganz zurecht, umso mehr aber mit der Person von Jesus. Von Deinen so spärlichen weniger guten Seiten will ich nicht reden. Ich liebe Dich nicht nur, weil Du absolut perfekt bist. Ich bin ja auch nicht vollkommen, Gott bewahre. Ich liebe Dich sehr, so wie Du bist. Du hast mir das Wasser gereicht, das man dem durstigen Fremden gibt und mir, so glaube ich, ganz wesentlich geholfen, Mensch zu werden.

Reisen in andere Welten gehört zu den Ferienerlebnissen von fast jedermann, ich habe etliche Gespräche gehört – in Transportmitteln des öffentlichen Verkehrs z.B. – in denen Leute von exotischen Ländern sprachen, während sehr beachtliche Schönheiten meiner Heimat an ihnen vorbei zogen, die sie nicht zu beachten schienen. Möglich, dass die gleichen Leute in Bali über ihren Wintersport in der Heimat reden. Für mich, der ich nicht als Tourist in einer fremden Kultur landete, stellte das den Beginn eines eigentlichen Quantensprungs meiner Sicht auf die Welt dar.

In Liebe Dein L. Theodor

-— PS

Diese Briefe habe ich vor der Wahl von Papst Franziskus geschrieben, ich arbeite seit einem Dutzend Jahren daran. Ich denke jedoch, dass die in den drei eBüchern angesprochene Problematik noch einige Zeit fortdauern wird.

Wenn wider Erwarten doch sehr viele Wunder geschähen, könnten die Briefe Zeitzeugen sein von einem Übergang des Klerikalismus zu einer schwesterlichen und brüderlichen Beziehung.

Ich werde keine „gescheiten“ Bücher zitieren, sondern so schreiben, wie es jeder „gewöhnliche“ Briefschreiber tun kann. Meine Quelle, so hoffe ich, ist das Leben, die Briefe mögen „leben-schaftlich“ sein. Verweise, Links und ähnliches möchten nicht den Anschein des Gegenteils erwecken, sondern eher die Lesbarkeit erleichtern und die Neugier Deiner Freunde wecken!

Der leichteren Lesbarkeit halber stehen Zitate im vollen Wortlaut, eingerückt, kursiv und blassgrün unterlegt.

Einige Erklärungen, Anekdoten, Details, Denkanstösse oder Vorläufiges habe ich als Bemerkungen in kleinerer Schrift und grau unterlegt eingerückt. Ich hoffe, das Buch liest sich so etwas strukturierter (und farbenfroher).

Hintergrundfarbe und Einrücken des Textes sind natürlich vom eReader abhängig. Bei den Einstellungen des epub-Readers ist einfach darauf zu achten, dass die epub- und/oder die CSS-Formatierung der Vorlage beachtet wird. Am Schluss des Buches befindet sich ein Verzeichnis der verwendeten Abkürzungen und ein summarischer Index.

Wenn ich vom Land, der Hauptstadt, der Stadt, dem Kollegium etc. spreche, mit oder ohne besitzanzeigendes Fürwort, ohne zu präzisieren, sind Orte gemeint, in denen ich 27 Jahre wirken durfte. Ort und Zeit der Handlung sind vage gehalten, trotzdem könnten sie typische Zustände in ländlichen oder halb städtischen Regionen von Ländern Westafrikas beschreiben. Nur dies: Mein Arbeitsfeld war in einem Land, in dem es viele Sprachen und ebenso viele verschiedene Kulturen gibt, es war viele hundert Kilometer von der Hauptstadt und vom Meer entfernt.

Ich habe das Glück und das Pech, dass mein Erfahrungshorizont nicht unbedingt von sehr vielen Frauen und Männern geteilt wird. Glück, da Originalität gefragt ist, Pech, weil etliche Erfahrungen von Deinen Freunden ein ziemlich grosses Einfühlungsvermögen verlangen. Natürlich möchten sie, dass ich genau angebe, wo ich lebte. Von einem Journalisten würde man ja die Information verlangen, ob er aus Sizilien oder aus Norwegen berichtet. Nun, ich arbeitete in etwa auf sieben Grad nördlicher Breite ... damit ist Norwegen ausgeschlossen.


Dieser Brief erzählt, wie – ganz zu Beginn – das Eintauchen in eine völlig neue Welt auf mich gewirkt hat. (Interessant dazu wiki[Kulturschock])

1. Transfer in eine vorerst bedrohliche Welt

Liebe Carole,

Im Sommer 1970 schloss ich das Studium – heute würde man es Master nennen – mit dem Diplom als Mittelschullehrer ab. In den darauf folgenden Ferien brachte ich mir noch das Zehnfinger-System für die Schreibmaschine bei.

Noch an der Universität plagte ich mich mit mit dem System Adler: zweimal mit dem Finger kreisen und dann zielstrebig auf die Taste.

Am 13. September 1970 wurde ich vor meinen Eltern und einigen Mitbrüdern in die Mission entsandt. Als Zeichen der Aussendung erhielt ich ein Kreuz. Das machte man damals so. Es sollte vermutlich einen sachkundigen Einführungskurs in Missionsarbeit und Entwicklungshilfe ersetzen.

Zwei Tage später flog ich in Begleitung eines Mitbruders via Paris in meine neue Hauptstadt. Der Touristenboom hatte noch nicht begonnen, es flog nur dorthin, wer tatsächlich musste. Der Abschied von der Heimat tat mir nicht weh, wollte ich doch einen Jugendtraum verwirklichen. Das Aussteigen aus dem Flugzeug in unserem Gastland, das ich wie das Betreten eines Treibhauses empfand, ist mir noch in Erinnerung. Ich kam ja schliesslich in den Tropen an. Aber der eigentliche Transfer meiner selbst hatte noch nicht begonnen.

In der Hauptstadt wurden wir von dem Mitbruder empfangen, der mich damals als Provinzial ins Noviziat aufgenommen hatte. Er stand einer Berufsschule vor und unterrichtete Philosophie im Priesterseminar. Er war Einzelkämpfer, weil sich die Mitbrüder aus unserer Stadt nicht vorstellen konnten, mit ihm in einer Gemeinschaft zu leben. Das erste Abendessen war recht herzlich, doch das Zimmer, das man mir zuwies, war düster und muffig, Waschbecken und Dusche fleckig, der blosse Zementboden gewöhnungsbedürftig. Die Leintücher waren feucht und ich sah zum ersten Mal ein Moskito-Netz, dessen Gebrauch man mir in der Folge erklärte. Ich erlebte das frühe Einbrechen der Nacht. Die Geräusche, die zu mir drangen, konnte ich nicht zuordnen.

---- Lust umzukehren

Am folgenden Tag zeigte mir mein Reisegefährte die Hauptstadt, unter anderem den Markt. Spätestens nach diesem Gang durch die Stadt hätte ich den Rückflug in die Heimat angetreten, wenn mir jemand ein Flugticket in die Hand gedrückt hätte. Ich war an diesem Tag erstmals unmittelbar und mit allen Sinnen wahrnehmbaren Problemen aller Art begegnet: Dreck auf Trottoirs und Strassen, dreckiges Abwasser auf der Strasse, Krüppel, die sich zu ebener Erde in diesem Dreck fortbewegten oder an einem dicken Stock humpelten. Rollstühle waren rostig, das Blechgestell einfach mit einem schmutzigen Kissen versehen, es gab viele Bettler. Vielen Leuten war die Armut anzusehen. Die Gerüche, vor allem auf dem Markt, befremdeten mich zusätzlich. Ich war ja kein Tourist. Ich konnte diese neue Welt nicht von der exotischen Seite her sehen. Ich war gekommen, um zu helfen. Die Probleme betrafen mich, da ich glaubte, sie irgendwie alle lösen zu müssen. Zu mir selbst sagte ich, dass diese neue Welt und ihre Probleme für mich eine Nummer zu gross seien.

Ich erinnerte mich an die Bemerkung eines meiner Schüler: „Sie Herr ... gehen nach Afrika, das ist etwa so, wie wenn eine Kuh einen Baum hinauf spaziert.“ Er meinte vermutlich mein Einfühlungsvermögen und Mitgefühl, oder meine Konstitution, ich war nicht gerade athletisch gebaut. Ein sympathischer, junger Mitbruder stellte die Prognose, dass ich sowieso an Weihnachten zurück sein würde. Er kannte mich aus unserer gemeinsamen Studienzeit.

Am zweiten Tag nach der Ankunft fuhr uns der Direktor der Gemeinschaft, der ich fortan angehören sollte, mit dem Auto von der Hauptstadt in unsere Stadt. Es handelte sich damals um 460 km. Kein Baum und keine Pflanze, die vor meinen Augen vorbeizogen, kamen mir bekannt vor. Einmal mussten wir zwei, drei Stunden vor einer Brücke warten, weil ein Tropenregen sie überschwemmt hatte. Anstatt Berge zu sehen, war es über weite Strecken flach und eher bräunlich. Glücklicherweise übergab mir der Direktor auf den zwei asphaltierten Teilstrecken das Steuer. Das lenkte mich ab, ich musste auf die Löcher in der Strasse aufpassen, und ich gewann ein wenig Selbstvertrauen.

Der Empfang in der Gemeinschaft war herzlich, doch gab mir der Direktor vorerst keine Arbeit, in der Meinung, dass ich mich zuerst akklimatisieren solle.

So habe ich die ersten Tage damit zugebracht, in meinem Zimmer Tim und Struppi, Asterix und Obelix, einfach alle Comics zu lesen, die in der Gemeinschaft vorhanden waren, um vor einem Leben in einer mir völlig fremden Welt zu flüchten.

---- Termiten

Ich hatte Angst, nach draussen zu gehen. Glücklicherweise gab es dann im Physik-Labor eine Invasion von Termiten. Das Labor verdiente seinen Namen – aus europäischer Sicht betrachtet – überhaupt nicht. Es war ein gewöhnliches Schulzimmer mit zusätzlich einem Waschbecken und zwei oder drei Schränken.

Der Direktor beauftragte mich, das Übel zu bekämpfen. Einige Schüler sollten mir dabei helfen. Die Termiten waren durch einen Riss im Zementboden in die Rückseite der Schränke eingedrungen. Die angefressenen Schränke sowie das spärliche Material mussten gereinigt und der Termiten-Eingang mit Zement verschlossen werden.

Nicht die Arbeit mit Hammer, Meissel und Zement war wichtig für mich, sondern eine erste Gelegenheit zu haben, mit ein paar Schülern in Kontakt zu treten und mit ihnen eine konkrete Aufgabe zu lösen. Damit war ein erster Schritt in eine ganz neue Welt getan.

Tag für Tag wurde ich mit neuen Situationen konfrontiert. So konnte ich auf praktische Art erfahren, dass ich Lösungen finden konnte. Auf diese Weise wurde der erste globale Eindruck meines absoluten Unvermögens nach und nach gemindert. Natürlich gab es prekäre Seiten, wie die Infrastruktur unserer Stadt. Die medizinische Versorgung war rudimentär, es gab Jahre ohne einen einzigen Arzt in der ganzen Stadt. Dabei hatte das Regionalspital ein Einzugsgebiet von weit über hunderttausend Menschen. Wir hatten zwar eine sehr kompetente Krankenschwester, aber sie konnte im Notfall weder operieren noch Wunden nähen. Trinkwasser im Sinne europäischer Normen gab es erst ein Dutzend Jahre später. Solche prekären Situationen waren nicht aus der Welt zu schaffen. Wir waren immerhin eine Tagesreise von der Zivilisation der Hauptstadt entfernt.

Später habe ich dann gelernt, dass kein Mensch alle Probleme lösen kann und muss, sondern bloss jene, denen er begegnet. Mit dem Beginn des Unterrichts fand ich einen guten Zugang zu meiner neuen Umgebung. Natürlich habe ich nach freundschaftlichen Beziehungen gesucht, indem ich besonders begabte Schüler zu fördern und durch sie das Leben in unserem Gastland zu verstehen versuchte. Letzteres geschah auch mit Einladungen zu Fussmärschen, wenn möglich in ihr Heimatdorf.

 

Die Ausdrücke „Dorf“ und „Quartier“ werde ich synonym gebrauchen. Das Miteinander der Menschen ist eher in einem kleinen Dorf, eben in einem Quartier möglich, wo die gegenseitigen Beziehungen überschaubar sind. Das liess sich in kleinen Dörfern, aus denen viele unserer Schüler stammten, gut beobachten.

In Liebe Dein L. Theodor


Das Leben, das ich entdeckte war so ganz anders als jenes meiner Erziehung oder meines Ordenslebens. So versuche ich, wie in den beiden anderen Bücher daRev und dvUr – sozusagen mit ein paar Pinselstrichen – eine Kultur zu skizzieren, die ich derart überhaupt nicht erwartet hatte, ja nicht einmal erwarten konnte, da das Zusammenspiel ihrer Werte meinen damaligen Horizont einfach überstieg.

2. Begegnung mit einer neuen Kultur

Liebe Carole,

Du mußt sehr geduldig sein, Du setzt dich zuerst ein wenig abseits von mir ins Gras. Ich werde dich so verstohlen, so aus dem Augenwinkel anschauen, und du wirst nichts sagen. Die Sprache ist die Quelle der Mißverständnisse. Aber jeden Tag wirst du dich ein bißchen näher setzen können ... (klP XXI)

Der Rat des Fuchses im klP, wie man Freunde werden kann, gilt auch für die Begegnung mit einer neuen Kultur, die man erst „zähmen“ muss. Man kann sie nicht überziehen wie einen Anzug, man wächst ganz langsam in sie hinein. Eigentlich sollte dieser Brief am Schluss unseres Austausches stehen. Ich habe ja alle Jahre meines Aufenthaltes benötigt, um den Reichtum zu erahnen, der sich mir mit dem Eintritt in eine neue Kultur eröffnete. Aber diese Kultur, in der ich lebte und arbeitete, spielt eine Rolle in jedem der Aspekte, die ich Deinen Freunden beschreiben möchte. Deshalb sei von ihr hier und jetzt die Rede.

Als ich in unserem Kollegium ankam, war ich war kompetent, Mathematik oder Physik zu unterrichten. In den folgenden 27 Jahren musste ich in noch andere Kompetenzen erwerben.

Ich glaube, das sei nebenbei gesagt, dass nicht mehrere Ausbildungen vonnöten sind, um in der heutigen Welt den Anschluss nicht zu verlieren. Es genügen eine erste, gute Ausbildung und der Wille, sich ständig neuen Herausforderungen zu stellen.

Natürlich habe ich Bücher von Ethnographen gelesen, ab und zu mit viel Interesse und Gewinn. Aber ist es überhaupt möglich, eine andere Kultur sozusagen theoretisch zu studieren und auf ein längeres Mitleben zu verzichten? Geht es nicht darum, eine neue Welt von Werten immer wieder neu zu entdecken oder zu erahnen?

Ein Ethnograph war einmal bei uns zu Tisch. Er hatte ein – übrigens sehr lesenswertes ‒ Buch über meine Gastkultur geschrieben. Ich fragte ihn, weshalb im Titel seines Buches der Begriff „Götter“ vorkomme, da doch meine Gastkultur auf einem ganz klaren Monotheismus beruhe. Er antwortete mir, der Titel töne so besser für das Marketing!

Unsere Schüler/innen erlaubten mir, Schritt für Schritt in ein mir unbekanntes Universum einzudringen. Mit ihnen machte ich Wanderungen, um die nähere und die weitere Umgebung kennenzulernen, sie luden mich zu bestimmten Festen ein, und nicht zuletzt führten sie mich in den Gebrauch des lokalen Hirsebiers ein, das nur wirklich gut schmeckt, wenn es aus einem irdenen Krug kommt und in Kalebassen serviert wird.

Kalebassen sind die luftgetrocknete Schalen der ausgereiften Flaschenkürbispflanze. Durch das Trocknen bildet sich aus der sonst eher fleischigen Fruchthülle des Kürbisses eine harte, wasserundurchlässige und holzige Aussenhaut. Es gibt verschiedene Formen. Hirsebier wird in ungefähr halbkugelförmigen Kalebassen serviert. Geschöpft werden kann das Bier mit einer kleineren oder mit einer flaschenförmigen Kalebasse. Kleine flaschenförmige Kalebassen werden zur Aufbewahrung von Medikamenten u.Ä. benutzt. Besonders grosse Kalebassen werden, mit einer Tierhaut überzogen, für verschiedene Musikinstrumente verwendet, z.B. für eine Art Langhalslaute.

Hirsebier: alkoholhaltiges Getränk auf der Basis von Hirse, das in einem mehrtägigen Verfahren hergestellt wird (in meiner Gastkultur in mindestens fünf Tagen). Zuerst werden die Hirse-Körner in Wasser eingelegt, dann zugedeckt zum Keimen gebracht, ausgelegt angetrocknet, später wird das gekeimte Korn gemahlen und in einem mehrstufigen Verfahren mit Wasser gekocht, schliesslich wird es in Krügen abgefüllt, die Rückstände des Ferments enthalten. Je nach Kultur ist die Stärke des Hirsebiers verschieden.

Wenn man so mit anderen um einen grossen Krug sitzt, erfährt man Wichtiges, Philosophisches und Humorvolles. Obwohl ich erst nach vielen Jahren begann, Schlüsselinstitutionen oder -begriffe zu ordnen, fühlte ich mich von Anfang an in meiner neuen Welt aufgenommen, und ich konnte neue Situationen immer besser verstehen. Natürlich stellte es sich manchmal heraus, dass mein Verständnis ein nur vorläufiges war. Meine Integration blieb immer ein Prozess.

Die Elemente zum Verständnis meiner Gastkultur lieferte mir eine Vielzahl von Einflüssen, Hunderte von Besuchen, vor allem in drei kleinen Dörfern. Oder Hunderte Momente des Lachens mit einem Freund oder mit einem der Ältesten. Das Lernen und Praktizieren traditioneller Tänze, die Teilnahme an Initiationsriten, Festen und „Funérailles“ etc., all das waren gewissermassen Mosaiksteine, mit denen in vielen Jahren ein Bild entstehen konnte.

Funérailles, notabene, ist ein wichtiges, mit einem Fest verbundenes Totengedächtnis, das etwa ein Jahr nach dem Tod eines älteren Menschen stattfindet.

Ein Schüler erzählte nach einem Aufenthalt im traditionellen afrikanischen Milieu folgende Geschichte: Der Grossvater hält sich mit zwei kleinen Kindern im Eingangshaus auf. Er sagt zum Kleineren, er möge den Grösseren fesseln. Es ist natürlich der Grössere, der den Kleineren bändigt. Der Kleinere gibt sich alle Mühe, gegen den Grösseren anzukommen, aber schliesslich liegt er ohnmächtig auf dem Rücken. Der Grossvater sagt lächelnd zum Kleinen: „Ich habe dir doch gesagt, du sollst deinen grossen Bruder fesseln, ihn nicht einfach niederdrücken“. Das Lächeln des Grossvaters federt den Zorn des Kleinen ab und die Komik zwischen der Bemerkung und dem Sachverhalt tut das ihre. Der Kleine hatte so ganz beiläufig und auf eine interessante Weise gelernt, dass man sich im Leben nicht mit Stärkeren anlegen soll.

Mit einem traditionelles Milieu meine ich Dörfer, in denen eine überwiegende Mehrheit der Männer und Frauen nicht ausserhalb des Dorfes arbeitet und es entweder keine oder nur eine sehr bescheidene Schule gibt, Dörfer in denen Entscheidungen nicht von einem Häuptling allein, sondern von der Gemeinschaft getragen werden. Dörfer, die so abgelegen sind, dass sie kaum mit einem Taxi erreichbar sind und in denen es wenig oder gar keinen Abfall gibt.

Taxi nennt man einfach irgendein Auto, das in unregelmässigen Abständen die Verbindung zwischen den Dörfern und Städten aufrechterhält. Der Fahrer fährt gewöhnlich den Gewinn für den Besitzer ein. Das Gefährt ist oft ein in Europa aus dem Verkehr genommenes Auto, das meist zu übertriebenen Preisen an den Küsten Afrikas verkauft wird. Unregelmässig sind die Verbindungen, weil ein Taxi prinzipiell nur abfährt, wenn es mit Personen und Waren überfüllt ist.

Einerseits begriff ich das vollkommen Neue meiner Gastkultur einfach durch das tägliche Mitleben und Miteinander. Für Anderes musste ich Durst ertragen, unter der brennenden Sonne marschieren, mitleiden; ich musste zuhören und Geduld haben. Wie Du weisst, war es für mich das Wichtigste, Dich als Freundin zu haben. So konnte ich mich ganz einfach im traditionellen Milieu hinsetzen, zuschauen. Aber es braucht Zeit, eine Freundin zu finden, die eben offener ist für die Dinge des Lebens.

Ein Wort noch zum Begriff der Kultur: Entweder kann man sie von der Gesamtheit gelernter und weitergegebener Verhaltensweisen her definieren oder nach den Gründen fragen, die zu den betreffenden Verhaltensweisen führen. Diese Gründe liegen in der Wahrnehmung, der Sprache und vor allem in den täglich umgesetzten Werten. Ich ziehe diese zweite Art von Definitionen vor, scheint mir doch der Grund einer Handlung wichtiger zu sein als die Handlung selbst.

Es scheint mir unsinnig, von Hochkulturen zu sprechen, auch wenn ich diesen Ausdruck noch an der Universität gehört habe. Natürlich können Gebäude, die Tausende von Jahren überdauert haben, bewundert und fotografiert werden. Unter welchen Bedingungen aber wurden sie gebaut? Wie viel Sklaven-Elend ist damit verbunden? Eine Kultur, die Konstruktionen grosser Gebäude von ihrem Wert der Gleichheit her verbietet (s.u.), scheint nicht konkurrieren zu können.

Die griechische Götterwelt, bei der es sich doch um die Religion einer sogenannten Hochkultur handelt, ist von Mord, Totschlag, Ehebruch und Neid gekennzeichnet. Der Gott meiner Gastkultur ist über solch anthropomorphes Verhalten erhaben.

Für Werte einer egalitären Konsens-Kultur wie der subtilen Konfliktlösung, der Weisheit des Palavers, des Reichtums des Brauchtums um die Gastfreundschaft u.v.a.m. gibt es kaum Illustrationen, die Jahrhunderte überdauern. Ein hierarchisches Ordnen von Kulturen, wie es unterschwellig im Begriff „Hochkultur“ mitschwingt, verlangt nach einer Werte-Tabelle, die aber notwendigerweise aus einer bestimmten Kultur stammt.