Loe raamatut: «About Shame», lehekülg 2

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Die Scham fürchten

Wir verfolgen jetzt gemeinsam (m)eine Geschichte, also du, der*die Lesende, und ich. All das schreibe ich in der Hoffnung auf, dass du Verständnis hast. Ich erzähle die Geschichte, weil ich ziemlich lange nach Verständnis gesucht habe, weil sich durch meine Erzählung das Gefühl zieht, unverstanden zu sein. Immer fehl am Platz, irgendwie (w)ortlos. Unverständnis paart sich mit dem Gefühl, ausgeschlossen zu sein, nicht dazuzugehören. Vielleicht kannst du nachvollziehen, wie ich mich gefühlt habe, warum ich so gehandelt habe, weil du Teile meiner Geschichte wiedererkennst? Weil Teile meiner Geschichte auch Teile deiner Geschichte waren und vielleicht noch sind? Vielleicht haben unsere Geschichten ja manchmal etwas gemeinsam. Vielleicht begegnest du dir in einigen meiner Erfahrungen. Und vielleicht beginnst du mit Freund*innen, deiner Familie, Kolleg*innen, Vertrauenspersonen, vielleicht sogar mit weniger vertrauten Personen darüber zu sprechen, dich auszutauschen, zu diskutieren. Vielleicht zu streiten.

In dieser Geschichte gibt es keine bösen Menschen. Es gibt nur Menschen, die Entscheidungen treffen. Und Menschen, auf die diese Entscheidungen Auswirkungen haben. Alle Figuren sind immer beides, ich sowieso.

Man wird in diesem Buch über Scham vergebens nach Antworten auf Schuldfragen suchen. Wenn ich hier schreibe, dass mir Handlungen und Haltungen wehgetan haben, dann geht es nicht um diejenigen, die das gemacht haben und warum sie so gehandelt haben. Sondern es geht um das, was es in mir ausgelöst hat und warum. Solange wir das nicht verstehen, können wir die Geschichte nicht verstehen, die Scham nicht sezieren. Wenn wir immer nur nach Gründen fragen, aber nie nach Folgen. Die Scham ist Grund und Folge zugleich.

Ich bin keine Psychologin, habe kein psychologisches Studium abgeschlossen, keine psychotherapeutische Ausbildung gemacht. Auch deshalb ist das hier kein Ratgeber, der Menschen sagt, wie sie glücklicher werden oder besser mit Scham umgehen können. Das hier ist einfach nur meine Geschichte, inklusive ein paar der Dinge, die ich aus meinem Studium oder meiner Therapie weiß, die ich im Lesen begriffen habe und die ich versuche für mein Leben zu lernen.

Die Vorstellung, meine Geschichte zu erzählen, macht Angst. Nicht weil sie so besonders schlimm wäre oder weil ich mich nicht gründlich genug mit ihr auseinandergesetzt hätte, um zu wissen, was da ist. Nein, ich habe Angst vor eurem Blick, eurem Urteil. Davor, dass ihr mir meine Geschichte entreißt und sie anders erzählt oder dass ihr sie anders lest, als ich es mir wünsche. Das fällt mir immer noch schwer: zu akzeptieren, dass andere Menschen vielleicht ganz anders über mich denken und reden, als ich es will. Dass andere Menschen eine andere Geschichte von mir erzählen könnten. Wenn jemand mir meine Geschichte nehmen will, gerate ich in Panik, werde wütend. Weil es schon Momente gab, wo das passiert ist; wo sich Menschen meiner Geschichte bemächtigt haben und geglaubt haben, sie dürften über meine Geschichte entscheiden. Deshalb führe ich den Kampf um meine Geschichte manchmal mit absurder Vehemenz und manchmal an Stellen, an denen es absolut überflüssig ist. Aber diese übermäßige Vorsicht ist eine Folge aus dem, was ich bisher erlebt habe. Gerade jetzt merke ich, wie ich versuche mich zu rechtfertigen. Und das ist ein weiteres Muster in meinem Verhalten, das mich nervt, aber immer da ist: das Bedürfnis, mich zu rechtfertigen, um keinesfalls falsch verstanden zu werden. Die riesige Angst davor, nicht zu gefallen. Und sich nicht richtig darzustellen: mich als schwächer zu präsentieren, als ich sein will. Nur die negativen Facetten hervorzuheben oder gar zu jammern. Die große Frage dabei: Wie bringt man Leute dazu, die eigene Geschichte und ihre Scham zu verstehen, ohne wie der letzte mitleiderregende Wurm dazustehen?

In Schreibtisch mit Aussicht merkt Ilka Piepgras im Vorwort an: »Frauen denken beim Schreiben den Blick von außen instinktiv mit, sie zensieren sich selbst.«6 Um Blicke wird es in diesem Buch oft gehen, denn mit ihnen kommt und geht die Scham. Und ich denke, Piepgras hat recht mit ihrer Behauptung – ich kann mich da nicht ausnehmen. Ich weiß, welche Kritik an meinem Schreiben kommen kann und wird: auch dies hier sei »Betroffenheitsprosa«, wäre selbstbezogen, nach innen gerichtet, wenig übertragbar. Ich weiß, dass ich radikal subjektiv schreibe, dass ich mit dieser Geschichte meiner Geschichte einen Raum gebe, den ich ihr sonst nie gegeben habe. Weil ich immer versucht habe, den Blick von außen mitzudenken. Mich ihm anzupassen, um Scham zu vermeiden.

Immer war ich damit beschäftigt, eben genau nicht zu tun, was ich wollte, weil das nicht ist, was ich gelernt habe. Mit diesem Buch nehme ich mir endlich Raum. Eigentlich ist dieses Buch also all das, was ich mich nie getraut habe, wovor ich immer Angst hatte, was mit viel zu viel Scham belegt war. Und gleichzeitig ist das, was du hier in der Hand hältst, auch ein Kampf um das Recht auf Emotion und auf Scham. Ein Kampf um meine Scham.

Trotzdem: Blicke ich auf die Menschen, oft Frauen, die sich so vorbildlich in mein Leben eingeschrieben haben, die mir Teile ihrer Geschichte erzählt haben, so eindrücklich, als würde ich mit ihnen gemeinsam bei einem guten Wein auf der Couch sitzen und ihnen zuhören – blicke ich auf sie, ihr Schreiben und darauf, wie mit ihren Werken umgegangen wird und wurde, bekomme ich Angst. Mely Kiyak zum Beispiel, die als Teil der »Hate Poetry«-Veranstaltungen an sie gerichtete Mord- und Vergewaltigungsdrohungen, Hassbriefe und Verwünschungen vorlas. Oder Margarete Stokowski, die sich auch in ihrer Kolumne immer wieder mit Hate Speech auseinandersetzt. Wäre mein Französisch gut genug, würde ich auch nachlesen, welche Reaktionen es auf Annie Ernaux’ Werke so gab. Gut, dies sind Frauen, die wirklich bekannt sind, zu deren Texten es Kommentarspalten gibt. Das sind alles Frauen, deren Schreiben kritisch beäugt wird und deren politische Ansichten noch mal doppelt kritisch begutachtet werden. Aber trotzdem weiß ich, dass man nicht bekannt sein muss, um gehasst zu werden. Vielleicht werden Leute sagen: »Ach, das war ja klar, wieder so eine Frau, die halt über Gefühle schreibt, nichts Neues.« Vielleicht werden Leute mir vorwerfen, ich würde jemanden nachahmen oder imitieren. Wenn sie wollen, wird ihnen etwas einfallen.

Ich versuche gedanklich alle Argumente durchzuspielen, die mich treffen könnten und mir Gegenargumente zu überlegen. Ich versuche mich mental schon vorbereitend zu immunisieren, vergesse dabei, dass ich ja noch vor dem Anfang stehe. Und dass es hier darum geht, mal nicht auf die Blicke der anderen Rücksicht zu nehmen, sie schon im Vorhinein zu beachten und zu deuten. Sondern meinen Blick auf mich zu richten und auf das, was meine Geschichte ausmacht. Dabei tue ich natürlich den Geschichten anderer Leute unrecht. Ich webe sie einfach so in meine Geschichte ein, obwohl ich sie zum Teil gar nicht komplett kenne. Weil ich weiß, wie furchtbar es sich anfühlt, seiner Geschichte beraubt zu werden, fürchte ich mich davor, das anderen Leuten auch anzutun.

Wachsende Scham

Fast würde ich mir wünschen, dir eine ästhetische Geschichte über die Scham und das Schreiben erzählen zu können. Mit Spannungsbogen und Happy End. Sie würde dann einer klassischen Dramaturgie folgen – in Kurzform etwa so:

Irgendeine Erfahrung der Demütigung, der Ausgrenzung, die Schamgefühle nach sich zieht. Sie steigern sich klimaktisch bis zum schmerzhaften Höhepunkt. Dann: schreiben als Erlösung, als Rettung. Ende: Die Scham ist weg. Ich habe sie schreibend überwunden. Die Moral: sich öffnen, erzählen, Schreiben löst die Scham auf. In der Verbindung mit den Lesenden stirbt sie, weil Scham sich von der Einsamkeit nährt. Das stimmt und gleichzeitig ist es auch falsch.

In dieser Geschichte würde ich mit einem Glas Rotwein an meinem Küchentisch sitzen, vor meinem Laptop, vielleicht noch eine Zigarette in der Hand? Rauchen und Schriftstellerin sein, das passt zusammen. Aber ich würde dich anlügen, würde ich meine Geschichte so erzählen.

Die Wahrheit ist, dass die Seiten teilweise entstanden sind, als mir nichts mehr gesichert schien, kein einziger Gedanke, kein Wissen, keine Überzeugung. Oder als ich noch neben der Kloschüssel saß, das Erbrochene noch nicht einmal hinuntergespült und den Speichel in meinem Mundwinkel noch gar nicht richtig weggewischt hatte. Die Wahrheit ist, dass nichts an diesem Schreibprozess ästhetisch oder erleichternd war.

Es war schmerzhaft. Es war unangenehm. Wie ein Tier habe ich mich um das Schreiben gewunden. Ich war der Überzeugung, es hätte keinen Zweck, all das aufzuschreiben. Es würde nicht helfen, mir nur noch mehr schaden, weil es in der Vergangenheit eine so selbstschädigende Praxis gewesen war, alles aufzuschreiben, was mir durch den Kopf ging.

Ich dachte mal, ich würde an meiner Scham sterben. Sie würde mich umbringen, sich wie eine Schlingpflanze allmählich um meinen Hals legen, um mich irgendwann im Schlaf zu erdrosseln.

Und tatsächlich ist das Bild der Pflanze eines, was mir im Bezug auf die Scham sehr gut gefällt: Eine Freundin erzählt mir von einem ganz bestimmten Moment, der für ihre Schamgefühle maßgeblich war. Um das zu veranschaulichen, wählt sie das Bild der Pflanze: Jemand demütigt uns, verletzt uns oder trifft uns an einem sehr verwundbaren Punkt unseres Selbst. Wir werden hart kritisiert, vielleicht sogar traumatisiert, ausgegrenzt oder sind öffentlicher Stigmatisierung und Beschämung ausgesetzt – hier wird der Samen für die zukünftige Schampflanze gesät. Im Laufe der Jahre kommen andere Schamsituationen hinzu. Wir fallen raus aus irgendwelchen Mustern, die von wem auch immer zum Ideal erklärt werden, und die Schampflanze wächst weiter. Sie wächst und wächst und wächst. Vielleicht wächst sie uns über den Kopf.

Ich will wissen, woraus meine Schampflanze besteht und wie sie so groß werden konnte. Das zu ergründen bedeutet, auch die Existenzbedingungen dieses Textes abzustecken, auf bestimmte Figuren immer wieder zurückzukommen. Was sind die Voraussetzungen meiner Scham, was ist das Material, aus dem die Pflanze besteht? Und, wenn ich es herausgefunden habe, was mache ich damit?

Annie Ernaux schreibt: »Nur weil man die eigene Scham versteht, kann man sie noch lange nicht überwinden.«7 Und ich glaube, sie hat recht damit. In den Schmerz reinzugehen, heißt nicht, dass er erträglicher wird. Und ich suche mir immer wieder Auswege, um bestimmten Erinnerungen nicht gegenübertreten zu müssen.

Meine Scham soll nicht gänzlich verschwinden, deshalb will ich ihr begegnen. Ich will die Distanz zwischen mir und meinem vergangenen Ich verringern, sie abschreiten. Dafür muss ich an die Schammomente ran, auf denen die Distanz beruht. Versuchen, noch mal zurückzugehen in die eigene Jugend, auch wenn ich manchmal glaube, dass das unmöglich alles passiert sein kann, dass ich unmöglich so empfunden haben kann, dass nie im Leben ich diejenige war, die diese Tagebucheinträge geschrieben hat. So groß ist die Distanz zum eigenen Selbst geworden.

Als ich vor einem Bekannten zugebe, dass ich wahnsinnig gerne irgendwann meine Autobiografie schreiben würde, erwidert er: »Für eine Autobiografie muss man was erlebt haben.« Vermutlich meint er damit nicht einfach nur, dass man irgendetwas erlebt haben muss, sondern dass man etwas Besonderes erlebt haben muss. Was auch immer das dann sei.

»Stimmt«, denke ich, und bin entmutigt. Ich habe nichts erlebt. Schon gar nichts Besonderes. Ich habe genau das erlebt, was tagtäglich zig Menschen irgendwo erleben, und darüber öffentlich zu schreiben lohnt sich nicht. Und ich fürchte an diesem Abend auch, nicht gelebt zu haben. Nichts mehr erzählen zu können, keine Geschichte mehr zu besitzen. Aber die Scham belehrt mich eines Besseren – und deshalb will ich meine Geschichte entlang der Scham erzählen, des Schamerlebens. Denn vielleicht sollte man ja dem Alltäglichen mehr Aufmerksamkeit widmen, den Randgestalten, dem Beiläufigen, den wiederkehrenden Ängsten und Gedanken und den sich immer wiederholenden Mustern.

Georges Perec: »Schreiben: peinlich genau versuchen, etwas überleben zu lassen: der Leere, die sich hält, einige deutliche Fetzen entreißen, irgendwo eine Furche, eine Spur, ein Merkmal oder ein paar Zeichen hinterlassen.«8

AUnter anderem Richard Wollheim, Sighard Neckel, Caroline Bohn und Achim Geisenhanslüke, die im Laufe des Buches noch stärker zu Wort kommen werden, aber auch Klassiker der Soziologie wie Georg Simmel oder Norbert Elias.

Kapitel Zwei
KEIMEN

Sei wie alle, dann bist du sicher vor dem Ausschluss aus dem Rudel.

Benehme dich ordentlich, normal, unauffällig, zahl deine Steuern,

wasch deine Gardinen, sonst wird der Mob dich erschlagen mit

Fackeln in der Hand. Wenn es schon keine neue Welt gibt nach dem

schweren Jahr, dann kann man wenigstens klein beginnen – streichen

wir das Wort »normal« aus unserem Wortschatz, es hat schon so oft

zur Vernichtung, zu Hass und Krieg geführt.

SIBYLLE BERG

Raum einnehmen: Ich wachse. Mein Körper wird größer. Ich lerne zu sitzen, zu stehen, zu gehen, zu sprechen.

In meiner Familie bin ich das jüngste Kind, das sich darüber im Klaren ist, dass alle ihm Vorgaben machen dürfen. Wobei das trotzdem nie heißt, keine Wahl zu haben. »Zu folgen« ist zunächst nicht mein Ding. Ich bin relativ schnell der Überzeugung, es besser zu wissen als der Rest der Welt.

Kinder entwickeln meist im Alter von drei bis fünf Jahren ihr Schamgefühl. Zunächst schämen sie sich immer nur für sich selbst, Fremdscham kennen sie noch nicht. Um sich zu schämen, müssen sie sich in andere Menschen hineinversetzen können. Die ersten Empfindungen von Scham sind meistens an die Regeln gekoppelt, die sie in ihrer Familie lernen und mitbekommen: Was die Eltern schlecht, falsch oder eklig finden, lehnen die Kinder oft auch erst mal ab. Das kindliche Schamgefühl ist also eng verbunden mit einem »Regelverstoß«.9 Das Schamgefühl geht mit einem ersten Anflug von Moral einher und dem Bewusstsein darüber, dass es etwas gibt, was außerhalb des eigenen Empfindens liegt: Die Gefühle und Bedürfnisse anderer, meist der Familie. Dass es überhaupt eine Welt abseits des eigenen Kopfes gibt.

Dieses Bewusstsein weitet sich im Laufe der Zeit aus: Wir bemerken, dass es nicht nur die eigenen vier Wände und vielleicht noch die Straße vor dem Haus gibt, sondern viele Straßen, viele Häuser, ganze Städte, Länder, Kontinente, die sich dem eigenen Blick entziehen.

Das bedeutet auch, dass es für jeden Menschen eine Zeit ohne Scham gegeben haben muss. Auch für mich. Über diese Zeit kann ich nichts sagen und vielleicht kannst du das über deine auch nicht, denn: Erst in der Abgrenzung zu anderen, also dadurch, dass wir erkennen, dass wir nicht identisch mit anderen sind, dass wir uns von ihnen unterscheiden, können wir uns selbst wahrnehmen. Unsere Gefühle, unsere Bedürfnisse, unser individuelles Wesen. Byung-Chul Han schreibt in Die Austreibung des Anderen: »Der Andere ist konstitutiv für die Bildung eines stabilen Selbst.«10 Konflikte sind notwendig, um eine stabile Identität zu entwickeln, beständige Bindungen und Beziehungen aufzubauen. Das Problem des Menschen der Gegenwart sei aber, dass dieser nur den Zustand des Funktionierens oder Versagens kenne, aber nicht den Zustand des Konflikts.11 Bezogen auf Scham kann ich nicht uneingeschränkt mit Han mitgehen, der behauptet, wir würden »dem Anderen« nicht mehr wirklich begegnen, sondern in unseren immer gleichen Filterblasen verloren gehen.12 Aber dann dürfte es ja eigentlich auch nicht mehr zu Scham kommen, oder? Denn für Scham ist der Blick der anderen, entweder wirklich oder in der eigenen Vorstellung vorhanden, essenziell: Sighard Neckel, wohl einer der bekanntesten Soziologen, wenn es um Scham geht, macht deutlich »dass das menschliche Selbstbewusstsein auf die Wahrnehmung durch andere angewiesen und damit durch sie auch verwundbar ist. Das persönliche Selbstbewusstsein baut sich nicht nach der Logik des eigenen Ich auf. Das persönliche Selbstbewusstsein versichert sich seiner durch die Wertungen Dritter, und an diesen Wertungen geht es womöglich zugrunde.«13 Neckel und Han haben gemeinsam, dass sie um die Bedeutung der anderen für die Bildung einer eigenen Identität wissen. Erst dadurch, dass wir ein »Außen« definieren, also etwas, das außerhalb unserer eigenen Grenzen, unseres Körpers liegt, entwickeln wir ein Gefühl dafür, wer wir denn eigentlich sind, was uns als Individuen ausmacht. Aber genau mit dieser Abgrenzung von anderen wird gleichzeitig das Schamgefühl ermöglicht. Wir sind auf das angewiesen, was außerhalb unseres Selbst liegt. In der Scham zeigt sich, dass das vielleicht nicht so weit weg ist, wie Han denkt.

Wir lernen, dass wir nicht nur Beobachtende sind, sondern gleichzeitig auch immer die Objekte von Beobachtung. Und dass wir uns von anderen unterscheiden, möglicherweise auch in einer Art, die wir selbst oder aber andere nicht gutheißen. Es gibt also nicht nur unseren eigenen Blick, der sich beurteilend und bewertend auf andere richtet, sondern immer auch den Blick der anderen, der wiederum uns bewertet und beurteilt. In diesem Blick der anderen liegt laut Jean-Paul Sartre die erste Möglichkeit für Scham: »Die Scham aber ist […] Scham über sich, sie ist Anerkennung dessen, daß ich wirklich dieses Objekt bin, das der Andere anblickt und beurteilt.«14

… und beurteilt. Sartre beschreibt, dass der Blick kein neutraler ist, sondern dass dieser uns prüft. Und wenn andere und wir selbst merken, dass wir anders sind als jene oder als »die Norm«, wenn dieses Anderssein dann von uns selbst und anderen negativ beurteilt wird, schämen wir uns.

Das klingt komplex. Das klingt nach schwierigen Philosophen, die sich in ihren Studierzimmern irgendwas mit Blicken und Objekten und Subjekten überlegt haben. Deshalb sehe ich mir an, wann eigentlich meine Scham eingesetzt hat und worauf sie sich bezogen hat. In der Hoffnung, dass der Beginn des Schamgefühls verständlicher wird.

Mein Opa, bei dem ich als Kind die meiste Zeit verbringe, und ich haben unseren eigenen kleinen Kosmos, mit unseren eigenen Regeln: Wir sind gut zu anderen, tun uns und auch niemand anderem weh. Wir machen niemandem Ärger, entsprechen den an uns gestellten Erwartungen und streiten nicht mit Leuten, schon gar nicht mit unserer Familie. Am wichtigsten aber ist: Wir kümmern uns um andere. Vor allem kümmert er sich um mich und ich mich um ihn, aber auch sonst kümmern wir uns um andere. Meine Familie trägt Fürsorge für mich und ich gebe diese Fürsorge zurück, indem ich keinen Mist baue.

Im Kindergarten hätte es dank meiner Kindergärtnerin viel Potenzial für Scham gegeben, aber ich realisiere das damals nicht als Beschämung. Ich schlucke ihre Grausamkeiten schlicht runter, schiebe sie weg, befasse mich nicht damit. Dass meine Kindergärtnerin mir bedingungslosen Gehorsam auf ziemlich harte Art und Weise beigebracht hat, verstehe ich erst Jahre später. Aus ihren Erziehungsmethoden lerne ich, dass ich mich nach anderen zu richten habe, wenn ich nicht bestraft werden will. Auf ihre Methoden werde ich an anderer Stelle noch zurückkommen, denn deren Folgen zeigen sich erst einige Jahre später.

Weil ich im Kindergarten lerne, mich immer anzupassen und unterzuordnen, bin ich auch in Konflikten mit meiner Familie relativ wehrlos. Ich versuche, Streit zu vermeiden und weiß nicht, wie ich zu mir oder für mich einstehen soll. In ernsteren Streitsituationen mit Familienmitgliedern stehe ich immer nur da, den Tränen nahe und kann keine Widerworte geben. Ich schweige. Während dieser Zeit fühle ich mich oft schuldig, wenn man davon ausgeht, dass Schuld sich auf Handlungen bezieht und Scham auf das Selbst:A Ich nehme mich nicht grundsätzlich als falsch wahr, sondern ordne meine Handlungen dann als fehlerhaft ein (und mich als schuldig), wenn diese von außen so bewertet werden. Mein Verhalten richte ich vorsorglich immer anhand der Meinung anderer aus, ich bin ein Schwamm: Ich sauge einfach alles auf, was ich in meinem Umfeld wahrnehmen kann und entscheide danach, was ich eigentlich will und fühle. Ich lerne also nicht richtig, mich eigenständig und bewusst von anderen abzugrenzen, sondern ich werde abgegrenzt, von außen, von anderen. Zur Gänze erklären kann ich diese Prozesse auch heute nicht, aber meine mangelnde Fähigkeit zur Abgrenzung macht mich ziemlich schamanfällig, was nicht folgenlos bleibt: Ich lerne nicht, in der Differenz zu leben.

Im Kindergarten zeigt mir niemand, dass meine Gefühle und Bedürfnisse in Ordnung sind und dass ich bei Meinungsverschiedenheiten nicht gleich verlassen werde. Konflikte bedeuten für mich immer auch potenziell Alleinsein als Strafe, obwohl das gar nicht so sein muss.

Also lerne ich auch nicht, mich durchzusetzen, obwohl meine Mutter versucht, mir genau das immer beizubringen. Sie weiß, dass ich das brauche, um durch meine Schulzeit zu kommen. Und sie weiß, dass ich mit so etwas konfrontiert sein werde wie Gruppenzwang. Sie versucht mir mitzugeben, dass ich darüberstehen kann. Aber das schaffe ich nicht.

Überangepasstheit bedeutet ein sich stetig erweiterndes Feld möglicher Schamsituationen. Wenn du dich immer angenehm verhalten möchtest, vermehren sich die Situationen, in denen du Scham fühlst, weil du den Blick der anderen immer mitdenkst.

Schon in der Grundschule will ich das, was vermutlich alle Kinder wollen: dazugehören und genau so sein wie die anderen. Sich kollektiven Zwängen zu verweigern, heißt, in den Konflikt mit Normen zu geraten. Du weißt, was jetzt kommt:

Zunächst erlebe ich Überforderung im Angesicht der Orientierungslosigkeit, der ich in der Schule ausgesetzt bin. Die elterliche Autorität mit klaren Regeln trifft auf ein vollkommen neues soziales Gefüge, mit anderen Regeln und Normen. Es geht in erster Linie nicht mehr so sehr um »Gehorsam« und »Aufrichtigkeit«, sondern eben um »Zugehörigkeit«, vor allem innerhalb der Peer-Group. Hier zählt Anpassung, ohne dabei unauthentisch zu wirken. Das Problem bei all diesen Begriffen wie »Zugehörigkeit«, »Norm« und »Identität« ist die Tatsache, dass sie eine sehr enge Beziehung zur Scham pflegen, die sich manchmal für diejenigen, die damit Schwierigkeiten haben, sehr schmerzhaft anfühlt.

Wo der Normverstoß ist, wo die Abweichung, das Fremde und Unbekannte lauern, da ist auch die Beschämung, die Demütigung nicht weit. Meine größte Angst? Unbeliebt zu sein, nicht gemocht zu werden. Beschämt zu werden, wieder und wieder. Das hat natürlich etwas mit einer Selbstsicherheit zu tun, die wir erst gewinnen können, wenn unser Umfeld signalisiert: Du bist in Ordnung, so wie du bist. Passiert das Gegenteil, stürzen besonders Kinder und Jugendliche oft in eine Krise. Weil sie in ihrem bisherigen Leben weniger Möglichkeiten hatten zu erfahren, was sie zu einem wertvollen Menschen macht. Ihre Identität ist unsicher, noch im Werden, und Erfahrungen, nicht gemocht oder gewollt zu sein, stecken sie zwar auf den ersten Blick oft leichter weg, nehmen daraus aber vielleicht trotzdem eine psychische Verletzung mit.15 Ein anderer bedeutender Faktor ist, dass ab dem Punkt, an dem Kinder in den Kindergarten oder zur Schule gehen, ein anderer Druck auf ihnen lastet, die Gesellschaft einen anderen Einfluss auf sie nimmt als zuvor. Und mit der Gesellschaft kommen auch Normen mit einer neuen Intensität ins Bewusstsein von Menschen. Als Bedingung für dieses Bewusstsein sieht der Soziologe Sighard Neckel die Verinnerlichung dieser Normen.16 Beschämend wirken sie erst auf uns, wenn wir diese Normen einhalten und sie so zu einem individuellen Verhaltensmaßstab erklären.17 Verkürzt könnte man also behaupten: Scham braucht den Normbruch und damit verbundene Normen, imaginierte oder real vorhandene Blicke von außen, und das Bedürfnis in uns, diesen Normen zu entsprechen. Wir werden später sehen, dass das nicht uneingeschränkt stimmt, aber fürs Erste nehmen wir’s mit.

Man könnte jetzt denken, dass Anpassung um jeden Preis ein Garant für die Vermeidung von Scham wäre. Aber: Sowohl der Normbruch kann Scham erzeugen als auch die Anpassung, gerade in der Kindheit und Jugend. Nämlich dann, wenn der Wille zur Anpassung als solcher sichtbar und von anderen erkannt wird. Wenn man es »zu sehr versucht«. Genau die Überangepasstheit stellt dann den Normbruch dar:

Vermutlich kennen wir alle Menschen, von denen wir irgendwann einmal gedacht haben, dass sie es »zu sehr wollen«, dazuzugehören. Dass sie zu aufdringlich sind in ihrem Bedürfnis nach Anerkennung. Wahrscheinlich kennen wir den Gedanken, dass wir Menschen zur Individualität, zum Widerspruch herausfordern wollen. Letztendlich ist das schon in der Clique nicht anders: Von uns wird erwartet, Trends zu folgen. Gleichzeitig aber diese Trends früh genug mitzumachen, bevor sie zum Trend werden. Ab dem Moment, an dem etwas Trend ist, ist es eine Schande sich dem Zwang noch unterzuordnen. Man sei dann nicht mehr »authentisch«, was immer das ist. Du musst dich dem Kollektiv unterordnen, darfst dabei aber auf keinen Fall so wirken, als würdest du dich anbiedern, verstellen oder absichtlich so verhalten, dass du zu den anderen passt. Du sollst unangepasst angepasst sein, quasi.

In der Grundschule setze ich aber keine Trends. Ich habe nie coole Pausenbrote dabei, trage die alten Klamotten von meinen Schwestern, bin nicht überdurchschnittlich begabt in irgendetwas und außerdem eine beschissene Fängerin. Die Kinder auf dem Schulhof haben es lieber, wenn ich nicht mitspiele, und kommt es doch mal dazu, hasse ich es, die komplette Pause über in der exponierten Position der Fängerin bleiben zu müssen. Immer irgendjemandem hinterherzulaufen, den man doch nie erreicht. Die meiste Zeit verbringe ich allein, in einer Ecke des Schulhofs. Und manchmal kommt ein Junge zu mir und teilt seinen Zitronenkuchen mit mir.

Natürlich würde ich gerne mitspielen und leide darunter, dass ich nicht dazugehöre. Aber das ist damals noch keine Scham. Ich schäme mich für dieses Alleinsein kaum, weil ich noch nicht weiß, dass man dafür beschämt werden kann oder dass die anderen Mädchen mich komisch finden könnten. In diesen Momenten bin ich naiv, weil ich nicht verstehe, was die Hälfte meiner Schulzeit eigentlich passiert. Die Scham dafür kommt erst im Nachhinein.

Es gibt nicht nur die kurzfristige Scham, die direkt auf ein Ereignis folgt. Bis die Scham eine*n einholt, können Jahre vergehen. So ist es auch bei mir: Ich schäme mich damals nicht dafür, von den anderen nicht gemocht oder schlecht behandelt zu werden. Ich schäme mich nicht dafür, ausgeschlossen zu sein, meine Pausen allein zu verbringen. Ich erlebe es einfach nur und manchmal fühlt es sich unschön an. Erst Jahre später fühle ich all die Gefühle, bemerke ich all die Ängste, die ich damals nicht realisiert habe. Oder die ich vielleicht auch nur verdrängt hatte, weil ich nicht bereit war, mich damit zu beschäftigen.

Für mich ist es zunächst ein Rätsel, warum dieses Mädchen, das im Kindergarten meine beste Freundin ist, mich in der Grundschule links liegen lässt wie einen zu klein gewordenen Mantel. Ich verstehe nicht, warum manche Mädchen nicht wollen, dass ich in der Pause mitspiele. Ich verstehe nicht, warum manche Mädchen nur dann nett zu mir sind, wenn wir uns zu zweit auf dem Heimweg befinden. Auf diesem Schulhof taucht eine Figur auf, die mich zwei Drittel meiner Jugend begleiten wird: dass Leute aufrichtig gerne mit mir Zeit verbringen – wenn sie mit mir allein sind. Dass sie dabei nicht gesehen werden wollen.

Warum mich meine Familie und bestimmte Freundinnen zwar zu mögen scheinen, andere aber wiederum nicht, ist mir ein Rätsel. In meiner Welt gibt es keine unterschiedlichen Einschätzungen oder Meinungen über Personen. Es gibt nur die Möglichkeit, ein wertvoller Mensch zu sein oder eben nicht. Ich lese das an den Reaktionen auf mich ab. Die Entscheidung liegt also für mein Empfinden nie in meiner Macht, sondern sie wird für mich immer von anderen getroffen. Meine Familie hatte beschlossen, dass ich wertvoll bin. Und in der Schule habe ich gelernt, dass das Gegenteil der Fall ist.

Manche Mädchen bestimmen bereits in der Grundschule, dass ich zwar Hauptrollen im Theater spielen kann, aber eben immer die eine Person zu viel beim Fangen bin. Oder dass ich in der Gruppe der Mädchen, die man zum Geburtstag einlädt, zwar dabei bin, aber innerhalb dieser Gruppe immer eine Außenseiterinnenposition innehabe. Bis heute gehe ich auf Geburtstagsfeiern nie ohne die Angst vor unangenehmen Situationen, in denen ich irgendwie deplatziert wirken könnte. Überhaupt, das Gefühl des »Fehl am Platz«-Seins betritt hier zum ersten Mal die Bühne. Und mit ihm ein Gefühl der Duldung.

Stell es dir vor: Überall, wo du bist, bist du maximal geduldet, aber weit davon entfernt, dazuzugehören. Du kannst es dir nicht erklären, dein »Anderssein« nicht entschlüsseln. Seit Jahrhunderten denken und schreiben Menschen an genau dieser Figur herum: Dem »Anderen«, dem Anderssein. Und sie versuchen sich einen Reim darauf zu machen, weil es immer diese »Anderen« gab. Man liest davon in nahezu jeder Autobiografie. Zahllose Highschool-Filme drehen sich um diese »anderen« Figuren, Hauptrollen dieser Geschichten, die dann irgendwann als »umso wertvoller« entdeckt werden. Eigentlich alle Menschen wollen sich »anders« wissen, aber wenn man in der Position des »Anderen« ist, ist das gar nicht mehr so angenehm. Dann tut es weh. Dann kommt die Scham. Sie markiert die Grenze zwischen Norm und Abweichung. Und du bist eben die Abweichung. Letztendlich endest du auf dem Boden des Schulhofs, mit diesem einen Freund, der seinen Zitronenkuchen mit dir teilt. Der dir zuhört – vielleicht? Und du hoffst, dass die Schulzeit bald wieder vorbei ist, denn bisher ist sie nicht so, wie man es dir versprochen hatte. Bisher erweist sie sich als die anstrengendste Zeit deines Lebens, weil du dich damit beschäftigst, passen zu wollen und daran zu scheitern. Zu viel und nicht genug zu sein. Ein deplatzierter Legostein in einem Haufen neuen Spielzeugs zu sein.

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