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Weiter im aufrechten Gang

Lena Wilde

Copyright: © 2013 Lena Wilde

www.lenawilde.de

Covergestaltung: Marcel Trauzenberg

Published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN der eBook-Version: 978-3-8442-7141-6

Preis der eBook-Version: 6,99 Euro

ISBN des gedruckten Buches: 978-3-00-043894-3

Preis des gedruckten Buches: 12,90 Euro

Inhalt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

1. Kapitel

Anders als früher geht Viktor Hieronymus Ritter heute nicht mehr allzu oft auf die Straße. Doch wenn er es tut, folgen ihm die verstohlenen Blicke bis zur nächsten Straßenecke. Dabei ist er nicht einmal besonders auffällig. Ein großer Mann, das schon – auch wenn das Alter ihn bereits ein paar Zentimeter gekostet hat. Aber ansonsten sticht nichts an ihm hervor. Seinen Kopf bedecken dichte, inzwischen grau gewordene Locken, die ihm manchmal in die Augen fallen, und er bevorzugt einen schlichten Kleidungsstil mit viel Grau, viel Blau, viel Braun und allen Nuancen dazwischen. Es wäre ein Leichtes, diesen um so viel Unauffälligkeit bemühten Mann zu übersehen, wäre da nicht sein Gesicht. Viktor ist kein Unbekannter. Nicht in München, wo er geboren wurde und immer noch lebt, und auch woanders nicht.

Er hat es zu einer gewissen Bekanntheit gebracht, vor ziemlich genau fünfzig Jahren. Man kennt seinen Namen seitdem auf der ganzen Welt – durch die vielen Zeitungsartikel und die Beiträge im Fernsehen und im Radio. Ganz zu schweigen von all dem, was sie im Internet über ihn geschrieben haben und es bis heute noch tun, seine Freunde, seine Feinde, seine Gönner und all die Spinner.

Das Spektrum der Urteile über Viktor ist groß und reicht von Vergötterung bis Verabscheuung. Früher, als Viktor noch ein junger Mann war, hat ihn das Nerven gekostet, dieser ständige Wechsel zwischen Verlegenheit und Verärgerung. Inzwischen berührt es ihn nicht mehr. Viktor ist zu dem Schluss gekommen, dass es aus irgendwelchen Gründen ein Ding der Unmöglichkeit ist, ihn neutral zu beschreiben. Damit kann er leben. Überhaupt: Viktor ist richtig gleichmütig geworden.

Ich habe Viktor kennengelernt, als er noch nahezu unbekannt war. In München besaß er zwar schon damals eine gewisse Bekanntheit, doch bereits ein paar Städte weiter konnte niemand mit seinem Namen etwas anfangen. Und dann hat sich in kürzester Zeit alles geändert, einfach alles. Fünf Jahrzehnte sind seitdem verstrichen. Je mehr Jahre ins Land gehen, desto schwerer fällt es Viktor zu glauben, was damals passiert ist. Zu groß kommt es ihm vor, beinahe utopisch. Aber selbst als Utopie wäre es ihm noch zu groß. Manche behaupten, er habe Geschichte geschrieben. Doch er fragt sich, ob man das wirklich so sagen kann. Übertreiben die anderen? Oder untertreibt er selbst? Viktor ist unschlüssig, immer noch.

Vor Kurzem hat ihm ein Freund von früher eine Präsentation aus dem Geschichtsunterricht seines Sohnes zugeschickt. Wir haben sie uns auf Viktors Zimmer gemeinsam angesehen. Neugierig und auch ein bisschen ungeduldig ging er Seite um Seite auf seinem Lesegerät durch, bis er bei 2011 angelangte. Dort war ein Foto von Viktor abgebildet, mit Ende zwanzig, als seine Locken noch dunkelblond waren. Der dazugehörige Text war kurz und prägnant. Viktor hatte das Gefühl, ihn schon tausendmal gelesen zu haben.

Dennoch kommt ihm seine eigene Geschichte unwirklich vor. Er blickt zurück und sieht die Ereignisse nur verschwommen, die andere so klarsichtig beschreiben. Das mag auch an seinem Alter liegen. Denn obwohl man es ihm nicht ansieht: Viktor steht kurz vor seinem achtzigsten Geburtstag. Oft bekommt er von anderen Menschen zu hören, dass er immer noch eine gewisse Jugendlichkeit ausstrahle, und man erkundigt sich gern augenzwinkernd nach seinem Geheimrezept.

Viktor sagt dann meistens: „Seit mein Alter mir egal ist, bin ich meinem Alter ebenso egal.“

Ich ahne, woher seine Gleichmütigkeit kommt. Viktor hat ja in den letzten Jahrzehnten nicht nur der Geschichte ein kleines Kapitel hinzugefügt, sondern auch eine Tochter großgezogen und ist Großvater eines inzwischen erwachsenen Enkelsohns. Eigentlich möchte er abschließen mit seiner bewegten Jugend, aber er wird zu oft danach gefragt. So wie zu Jahresbeginn. Das Jahr 2061 hatte gerade erst begonnen, die zertretenen Reste der Böller und Raketen säumten noch den Straßenrand, da erhielt Viktor eine Nachricht von seinem Enkel Felix, der in Berlin studierte.

Felix überraschte Viktor mit einem Vorschlag: Er würde gern seine Biografie verfassen. Ob Viktor damit einverstanden sei. Viktor war zunächst wenig begeistert von der Vorstellung, ein ganzes Buch drehe sich nur um seine Person. Also rief er Felix an, um ihm diese Idee schleunigst wieder auszutreiben.

„Ein ganzes Buch willst du über mich schreiben? So viel gibt es zu mir doch gar nicht zu sagen. Im Übrigen ist bereits alles Erwähnenswerte gesagt worden, nur halt noch nicht von jedem“, grummelte er ins Telefon, in der Hoffnung, das Gespräch würde damit kurz und in seinem Sinne verlaufen.

Doch Felix ließ sich nicht beirren. „Es ist wichtig, daran zu erinnern. Um zu verstehen.“

„Um was zu verstehen?“

„Nun, warum unsere Gegenwart so ist, wie sie ist. Es hätte doch auch alles ganz anders kommen können.“

„Es kann aus tausend Gründen immer alles anders kommen.“

„Mag sein, aber du bist ein entscheidender Grund. Ich glaube, viele Menschen würden gern mehr von dir erfahren.“

„Hm.“

„Von dir lernen.“

„Hmm.“

„Vielleicht lernst du noch etwas über dich selbst.“

„Mm-hmm.“

Sie sprachen noch ein paar Minuten über dieses Vorhaben und als das Telefonat beendet war, hatte Viktor zugesagt, sich auf ein paar längere Interviews einzustellen. Dafür wollte Felix in den Semesterferien zu ihm nach München kommen.

Viktor bereitet sich seitdem akribisch auf das erste Gespräch mit Felix vor: Immer wieder kramt er in seinen Kisten mit Fotos und Artikeln, um sich jene aufregenden Tage noch einmal vor Augen zu führen. Er möchte in den Interviews um keine Antwort verlegen sein, denn Felix hält ihn natürlich für einen Experten seiner Vergangenheit. Viktor selbst aber sagt, dass sein Leben ihm wie die abenteuerliche Geschichte eines Fremden vorkommt, die man ihm mit Flüsterstimme vorliest und die ihn staunen lässt.

~~~ ~~~ ~~~

Es war eine frühlingshafte Nacht irgendwann im Jahre 2011, das sein Schicksalsjahr werden würde. Aber das wusste Viktor da noch nicht, sonst hätte sein Herz sicher nicht so ruhig geschlagen. Stockdunkel war es, doch Viktor hat wie so oft nicht recht in den Schlaf gefunden. Also war er wieder aus dem Bett gestiegen und zur Druckerei hinaus gefahren, obwohl es dort um diese Uhrzeit eigentlich nichts für ihn zu tun gab. Doch irgendetwas zog ihn in die graue Halle, in der es schwer nach Druckerfarbe und Männerschweiß roch. Viktor wählte seinen Stammplatz oben auf der Empore, stützte die Ellenbogen auf dem Geländer ab und ließ seinen Blick über die Abläufe unter sich schweifen.

Dort am Boden liefen die Mitarbeiter der Nachtschicht geschäftig zwischen den kolossalen Maschinen umher. Ihre Verständigung bestand nur aus kurzen Zurufen und Handzeichen, die sich von oben betrachtet nicht immer entschlüsseln ließen. Die Leute hielten den Betrieb am Laufen, während der Rest der Stadt in tiefem Schlummer lag. Über ihren Köpfen schossen die frisch gedruckten Zeitungen und Magazinseiten ratternd wie auf einer Achterbahnfahrt an den geschwungenen Schienen entlang. So schnell kamen sie daher gerauscht, dass man selbst die größten Überschriften nicht mehr entziffern konnte. Alles vermischte sich zu einem einzigen bunten Strudel.

 

Viktor wusste, dass auch Ruben sich irgendwo dort unten herumtreiben musste, konnte ihn aber nicht entdecken. Ruben war der einzige Mitarbeiter, den Viktor wirklich gut kannte. Minutenlang suchte er die Halle nach ihm ab. Ein paar Mal meinte er kurz, ihn erkannt zu haben, aber dann war es bloß einer der vielen anderen dunkelhaarigen Männer, die in der Nachtschicht arbeiteten.

Irgendwann ermüdeten seine Augen und hafteten sich wieder an die Zeitungen, so wie man unwillkürlich auch an anderen rotierenden Dingen hängen bleibt, an Waschmaschinentrommeln zum Beispiel.

Eines Tages würde Arthur Ritter seinem Sohn das gesamte Unternehmen übertragen, zu dem neben der Druckerei auch ein Verlagshaus gehörte. Daran musste Viktor oft denken. Er hatte sich bisher nicht richtig an diese Vorstellung gewöhnen können, obwohl ihm mit Ende zwanzig die Übergabe bald bevorstehen konnte. Arthur Ritter war schon über sechzig und damit in einem Alter, in dem auch andere Menschen aus guten Gründen in den Ruhestand treten. Er bewältigte seine langen Tage häufig nur noch mit pharmazeutischer Unterstützung.

Immer dann, wenn Arthur Ritter in der kühlen Jahreszeit mal wieder an einem Infekt laborierte, wachte auch Viktor nachts schweißgebadet auf aus dem Traum, sein Vater hätte überraschend das Zeitliche gesegnet und von einem Tag auf den anderen säße er selbst, hilflos und klein, in einem übergroßen Bürostuhl und hätte mehr Fäden in der Hand als Finger daran. Die Vorstellung, der einzige Erbe in der Familie zu sein, war für Viktor tagsüber zwar erregend, nachts hingegen oft beängstigend.

Es gab das Unternehmen der Familie Ritter seit 1950 und man nannte es gern ein Traditionshaus, wenn man davon sprach. Viktors Großvater hatte nach dem Zweiten Weltkrieg von den amerikanischen Besatzern eine Lizenz zum Verlegen einer Zeitung erhalten. Damit fing es an. Gut sechzig Jahre später besaß die Familie Ritter ein Medienunternehmen in Form einer Aktiengesellschaft, mit etlichen Zeitungen und Zeitschriften sowie zahlreichen Beteiligungen auf der ganzen Welt. Arthur Ritter war eine der reichsten Persönlichkeiten Deutschlands. Da die Familie Ritter jedoch, anders als ihr Hauptgeschäft es vermuten lässt, recht medienscheu war, wusste man in der Öffentlichkeit nicht viel über ihre privaten Verhältnisse.

Zum sichtbaren Besitz der Familie gehörte das große Areal im Norden von München, auf dem neben der Druckhalle auch das zehngeschossige Verlagsgebäude stand, in dessen Glasscheiben sich das Sonnenlicht so stark spiegelte, dass es einem in die Augen stechen konnte. Jeden Morgen füllte sich der große Parkplatz mit Limousinen, Mittelklassewagen, Schrottkisten und Fahrrädern, die am Abend in umgekehrter Reihenfolge wieder verschwanden.

Wenn es nichts Wichtigeres zu tun gab, beobachtete Viktor diese Fluktuation von seinem Bürozimmer im zehnten Stock aus. Er schaute sich die Dinge gern von oben an, weil er meinte, sie so besser verstehen zu können.

Vor dem Hintergrund seiner Herkunft war Viktors Freundschaft zu Ruben durchaus als unstandesgemäß zu bezeichnen, denn Ruben war nur ein gelernter Drucker aus einfachen Verhältnissen. Er hatte keine reichen Eltern, keinen Privatschulabschluss und keine nennenswerten Tischmanieren. Ihre Freundschaft war Arthur Ritter daher schon immer ein Dorn im Auge gewesen, denn er hatte große Pläne mit seinem Sohn und wollte jeden andersartigen Einfluss auf ihn vermeiden. Früher hatte er Viktor mit Kindern aus ähnlichen Kreisen zusammengebracht. Viktor erzählte mir, wie er in seinem großen Spielzimmer oft adrett gekleideten Gleichaltrigen gegenüber gestanden und fieberhaft nach einer Möglichkeit gesucht hatte, sie mit irgendetwas zu beschäftigen.

Sein Vater hätte nur allzu gern einen solchen ausgewählten Freund an Viktors Seite gesehen. Einen, der seine väterlichen Erziehungsziele mit freundschaftlichen Mitteln fortsetzte. Aber darauf nahmen Viktor und Ruben keine Rücksicht. Ruben war in kürzester Zeit Viktors engster Vertrauter geworden. Eine Stelle, die in Viktors Leben mangels geeigneten Personals bis dahin unbesetzt gewesen war.

Mit seiner unbekümmerten Art hatte Ruben Viktor einiges voraus: Er lebte konsequent in der Gegenwart und kostete das Leben im Rahmen seiner begrenzten Möglichkeiten voll aus, wobei ihm sein südländisches Temperament behilflich war. Ich glaube, was Viktor an seinem Freund so schätzte, war genau das, was sein Vater an ihm verabscheute: seine Herkunft und die daraus resultierende Unterschiedlichkeit.

Rubens Eltern waren kurz nach seiner Geburt mit ihm und seiner älteren Schwester aus Spanien nach Deutschland eingewandert, um sich hier, fernab der wirtschaftlichen Schwierigkeiten ihres Heimatlandes, ein besseres Leben aufzubauen. Obwohl Rubens Vater ein studierter Mann war, wurde er nirgends angestellt. Man akzeptiere seine Referenzen nicht.

Ich stelle mir diese Erfahrung entsetzlich ernüchternd vor. Gewiss hätten viele andere in dieser Lage recht bald das Handtuch geschmissen. Doch statt zu verzagen, spuckten Rubens Eltern in die Hände und eröffneten im Münchner Studentenviertel eine spanische Weinstube, die schon nach kurzer Zeit in allen Reiseführern wärmstens empfohlen wurde.

Man musste ein paar Steinstufen hinuntersteigen, um in das Lokal zu gelangen. Richtig hell wurde es dort unten nie. Dennoch verbreitete der Gastraum durch seine sonnig gelbe Wandfarbe eine warme, einladende Atmosphäre, die verstärkt wurde von den rustikalen Hängelampen und den zahlreichen Kerzen auf den Tischen. Die Stimmung in der Weinstube war meistens heiter, aber ich meine, sie war immer auch ein bisschen sehnsüchtig, erinnerte dieser Ort doch fortwährend daran, dass man sich in der Fremde befand und dass die Welt außerhalb dieses Raumes eine andere war.

Viktor stand seit über einer Stunde auf der Empore. Da er Ruben immer noch nicht erblicken konnte, schaute er sich die Mitarbeiter genauer an. Einige kamen ihm bekannt vor, weil sie einen gewissen Wiedererkennungswert besaßen. So wie der Kräftige mit dem eintätowierten Reptil, das ihm hinten aus dem Kragen seines Hemdes zu kriechen schien, als wollte es seinen fast kahlen Kopf erklimmen. Er war bei jeder Begegnung mit einem Kollegen zum Scherzen aufgelegt. Sein derbes Lachen schwappte dann jedes Mal wie eine donnernde Bugwelle durch die Halle und ließ die restliche Belegschaft kurz aufschauen und mitlachen.

Oder der dünne, blasse Kerl mit den tiefen Augenringen, der nie ein Wort mit den anderen wechselte. Viktor hatte ihn auch noch nie lachen oder wenigstens lächeln sehen. Wann immer der junge Mann Viktor erblickte, schickte er ihm einen missbilligenden Blick entgegen, als sei Viktor für seine betrübliche Gefühlslage höchstpersönlich verantwortlich. Niemand wusste, was ihn bedrückte.

Und nicht zu vergessen der ältere Herr mit dem wirren, grauen Haar, der schon kurz vor der Rente stehen musste. Er hatte immer einen bunten Bleistiftstummel hinter dem einen Ohr und eine selbstgedrehte Zigarette hinter dem anderen. Meistens suchte er eines von beidem leise fluchend.

Auch wenn Viktor ihn nicht sehen konnte, erkannte er ihn an seinem markanten Husten: einem rasselnden, verschleimten Raucherhusten. Manchmal war er kurz davor, den Notarzt zu rufen, wenn er den Mann so husten hörte. Doch es schüttelte den Alten nur für ein paar Sekunden kräftig und dann machte er weiter, als habe es ihn bloß kurz gejuckt. Wir haben zähe Kerle hier in der Druckerei, dachte Viktor, als er sie dort unten um diese Uhrzeit arbeiten sah. Sie schleppten wohl alle ihr Bündel Sorgen mit sich durch die Nacht, waren in Gedanken womöglich bei der letzten Mieterhöhung, der Ehekrise oder den schlechten Schulnoten ihrer Kinder, fragten sich vielleicht, welche Mühen das Leben wohl noch für sie bereit hielt – und arbeiteten trotzdem ohne Pause durch.

Obwohl Viktor dergleichen nicht laut sagen durfte, war ihm doch klar, dass er das nicht gekonnt hätte: auf diese Weise malochen, Tag und Nacht. Für einen Lohn, der vermutlich nur knapp bis zum Monatsende reichte. Und bei Aussichten, die mehr als unsicher waren, denn regelmäßig rollten die Kündigungswellen auch durch ihre Reihen.

Vielleicht hatte der dünne, blasse Kerl genau das im Hinterkopf, wenn er Viktor so ansah. Er hielt ihn womöglich für die ausführende Hand, wenn demnächst wieder Kündigungen ausgesprochen würden. Doch noch war Viktor weit davon entfernt, eigene Entscheidungen zu treffen. Noch lenkte sein Vater das Unternehmen, ohne sich reinreden zu lassen.

Hätte Viktor erst einmal das Sagen, so wollte er als erste Amtshandlung die Löhne erhöhen. Das sei ohne Weiteres möglich, sagte er, schließlich kannte er die Zahlen: Das Unternehmen war erfolgreich und fuhr Jahr für Jahr Millionengewinne ein. Die kamen aber nicht bei denen an, die sie mit ihrer Arbeitskraft erwirtschafteten. Das Geld war vorhanden, es könnte allen ein auskömmliches Einkommen bescheren, man müsste es nur anders verteilen wollen – und Viktor wollte das, er betonte es immer wieder.

Sehnsüchtig wartete er auf den Tag, an dem er den Niedriglöhnern dort unten eine Freude machen könnte, denn seine Dankbarkeit war ehrlich und ernst gemeint. Viktors Wunsch hieß gegenseitige Loyalität. Er war sehr unzeitgemäß, das wusste er, aber er hielt dennoch daran fest. Dies war seine heimliche Mission, deren Erfüllung er mit wachsender Ungeduld entgegenfieberte.

Sein Vater war von den Ansichten seines Sohnes wenig begeistert. Hörte er Viktor auf diese Weise reden, so entgegnete er ihm oft mit einer Art Allzweckwaffe, das sei doch naiv und Viktor verstünde nichts von diesen Dingen. Eine Zeit lang dachte Viktor wirklich, sein Vater könnte Recht haben. Vielleicht war er naiv.

Doch eines Tages vollzog dieses Wort in seinem Kopf einen entscheidenden Bedeutungswandel: Er fasste es nicht mehr als Schimpfwort auf, sondern als Kompliment.

Ich habe Viktor nie für naiv gehalten, gleichwohl habe ich mich manchmal gefragt, ob man mit so unzeitgemäßen Erwartungen erfolgreich sein und glücklich werden kann, schließlich rennt man damit andauernd gegen Widerstände an. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das an Viktors Stelle ausgehalten hätte.

Doch Viktor war schon immer ungewöhnlich geradlinig, jemand, der sich nicht verbiegen ließ, egal welche Kräfte auf ihn einwirkten. Ich habe vor ihm noch keinen Menschen getroffen, dem ein so ausgeprägter Gerechtigkeitssinn in den Knochen steckte – außer vielleicht meine Schwester Ines. Wir kommen allerdings auch aus einem linksalternativen Lehrerhaushalt, da ist das nicht weiter überraschend. Aber Viktor wollte aus sich heraus und ohne ein Vorbild dafür zu haben, dass man in seinem Familienunternehmen stolz aufeinander ist: er auf die Leistungen seiner Mitarbeiter, sie auf sein Entgegenkommen. Er wollte, dass man zusammenhielt, in guten wie in schlechten Zeiten. Dass die Mitarbeiter kräftig mit anpackten, wenn es sein musste, und er sich im Gegenzug für sie einsetzte, wenn es hart auf hart kam.

Mit diesen Überzeugungen folgte er der Tradition seines Großvaters, der das Unternehmen gegründet hatte, als die Stadt noch in rauchenden Trümmern lag und es einen Mangel an allem gab, nur nicht an Herzblut. Für seine aufrichtige Art war der alte Herr Ritter in der ganzen Stadt bekannt gewesen. Vom Karlsplatz bis zum Viktualienmarkt hätten ihm die Menschen die Hand geschüttelt und ihren Respekt ausgesprochen, hieß es. In seiner Vorstellung sah Viktor seinen Großvater stolz und bescheiden zugleich in einem dunklen Dreiteiler flanieren, diesen großgewachsenen Mann aus einer anderen Epoche, den er nur von schwarz-weißen Fotografien kannte.

Doch Arthur Ritter war trotz direkter Abstammung aus einem anderen Holz geschnitzt. Er legte keinen erkennbaren Wert darauf, in der Stadt seiner Kundschaft zu begegnen. Tag für Tag ließ er sich in seiner verdunkelten Limousine von seiner Residenz am Starnberger See zum Verlagshaus fahren und wieder zurück. Vielleicht ahnte er, dass er auf der Straße nicht nur mit Komplimenten zu rechnen hätte. Das Unternehmen war seit den Nullerjahren immer stärker in die öffentliche Kritik geraten.

Ines hat Viktor, wie es so ihre Art ist, einmal ganz offensiv darauf angesprochen. „Ich sage es ungern“, stellte Viktor daraufhin klar, „aber für meinen Vater ist nur entscheidend, dass er am Ende des Jahres vor den richtigen Leuten die richtigen Zahlen präsentieren kann. Dass sein Ansehen dabei im Rest des Landes rapide abnimmt, bemerkt er gar nicht. Er sieht Fehler nur, wenn sie sich in Zahlenwerten ausdrücken lassen.“

 

Einmal titelte das größte Nachrichtenmagazin des Landes – das einem anderen Verlag zugehörig ist – in großen Lettern: „Traditionsverlag Ritter – wie viele Sparrunden sind eigentlich möglich?“ Man konnte als Beobachter in der Tat den Eindruck gewinnen, dass die Führung des Unternehmens dieser Frage empirisch nachgehen wollte.

Kurz vor dem Ende der Nachtschicht, als Viktor bereits von der Empore herabgestiegen war, hatte er Ruben doch noch entdeckt: Er stand mit einigen Kollegen in einem Nebenzimmer um den Kaffeeautomaten, ohne den es die Lebensform des Nachtarbeiters wohl nicht geben könnte. Viktor zog sich auch einen Becher, wohlwissend, dass der Kaffee ihm nicht schmecken würde.

Der Rheinländer mit dem Reptil ulkte: „Wenn Sie auch davon trinken, dann kann die Brühe ja nicht giftig sein!“ Viktor war sich da nicht so sicher. Gewiss waren versierte Lebensmitteldesigner längst in der Lage, aus Industrieabfällen braunes Pulver mit Kaffeegeschmack herzustellen und die toxischen Nebenwirkungen so weit herabzusenken, dass man außer einem kurzen Aufstoßen nichts bemerkte. Die Männer prosteten sich im kalten Schein des Neonlichts zu, für einen Augenblick wie eine verschworene Schicksalsgemeinschaft. Wie die Besatzung einer Raumkapsel, die im Schlingerkurs einer ungewissen Zukunft entgegensteuert und deshalb noch im geringsten Standard einen Genuss empfindet, denn wer weiß, was morgen ist. Und ob es überhaupt ein Morgen gibt.

Draußen auf dem Parkplatz stand die Sonne schon fast auf Augenhöhe, als Ruben und Viktor mit kleinen Augen aus der Druckerei traten. Ein neuer, rosiger Tag entkleidete sich zögerlich über den ziegelroten Dächern Münchens. Irgendwo in der Ferne läuteten Kirchenglocken, untermalt von dumpfem Motorenbrummen, denn der morgendliche Berufsverkehr kam bereits langsam ins Rollen. In der Luft lag ein leichter Hochnebel, den die Sonne in wenigen Stunden weggebrannt haben würde, um für den Rest des Tages das Firmament zu beherrschen.

Ruben stieg, ohne viele Worte zu verlieren, in seinen altersschwachen Golf, den er immer dreimal starten musste, bis er sich in Bewegung setzte, und Viktor in das völlig überzogene Geburtstagsgeschenk seines Vaters, das auf Knopfdruck fahrbereit war. Die Freunde fuhren getrennter Wege nach Hause. Ruben in unsere Wohngemeinschaft im Studentenviertel und Viktor in einen Neubau in der Schwedenstraße, direkt neben dem Englischen Garten gelegen. Schneeweiß gestrichen, mit Balkon und Terrasse zu der Parkanlage hinaus – ein kleines Paradies, das im Sommer vor lauter Blüten und Blattwerk nicht von außen einzusehen war. Während in der Wohngemeinschaft fast jeden Abend die Türen für Freunde und Bekannte offen standen, verkehrte in der Schwedenstraße spät abends ein privater Sicherheitsdienst mit starken Taschenlampen, der ungebetenen Besuch fernhalten sollte.