Loe raamatut: «Nach Amerika», lehekülg 2

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Die berufliche Tätigkeit wurde ein Stück weit meine Heimat. Die fünfundzwanzig Jahre im Farben- und Chemikaliengeschäft – Geigy war diesbezüglich weltweit eine der führenden Unternehmungen – waren gekennzeichnet von zwei besonders herausfordernden Perioden, die ich als Leiter der Planung und Administration der US-Division intensiv miterlebte: 1970 die Fusion mit Ciba – Antitrust-Gesetze bedingten den Verkauf von Cibas Farbstoffgeschäft in den USA an eine Drittfirma – und 1973 die Verlegung der neu organisierten Ciba-Geigy Dyestuffs and Chemical Division von New York in den Süden nach North Carolina ins Zentrum der Textilindustrie. Anfangs hatten wichtige Spezialisten unter unseren Mitarbeitenden grosse Bedenken, mit ihren Familien nach Greensboro, dem gewählten Standort, zu ziehen. Es hiess, die Schulen seien dort schlecht. Überdies hatten sie Angst vor dem Ku-Klux-Klan, dem rassistischen Geheimbund in den Südstaaten, der sich vor allem die Unterdrückung der Schwarzen auf seine Fahne geschrieben hatte und seit der Integration in den Fünfzigerjahren wieder unerwarteten Aufschwung verzeichnete. Aber der Standort Greensboro wurde für Ciba-Geigy zum Erfolg. Ja, auch die grosse Agricultural Division von Ciba-Geigy entschloss sich zum Umzug nach Greensboro in die grosse Anlage, die wir dort erworben hatten. Schliesslich zogen vierhundert Familien hierher. Ich selber kam als Erster mit meiner Familie am 1. Januar 1973 – es war der Beginn einer spannenden und wichtigen Zeit in unserem Leben.

«It is very necessary to get a break» – ein amerikanisches Sprichwort. Es ist wichtig, im richtigen Moment an die richtigen Leute zu gelangen und dann zuzupacken. Das hat nichts mit Vetterliwirtschaft zu tun. Bis in die oberste Leitung der Firma habe ich es nicht geschafft. Und ich musste mich behaupten neben Harvard- und Princeton-Absolventen. Neben ihnen hatte ich es mit weniger Ausbildung und schlechterem Englisch nicht einfach. Ich brauchte oft mehr Zeit für meine Entscheidungen. Aber ich schaffte es ohne Universitätsstudium. Und ich wusste immer, wo mein Platz war. Als es einmal um einen höheren Posten ging, für den ich im Rennen war, sagte mir der Präsident, ein alter Kollege: «Du bist zu nahe bei den Leuten, darum kannst du sie nicht rauswerfen».

Ich verstand die Kritik. Ich musste mich wohlfühlen in meiner Haut und mir treu bleiben. In den Grossfirmen Amerikas ist es wichtig, beruflich immer höher zu steigen. Die Karriere zählt. Aber ich weiss, man kann sich auch verlieren, überschätzen und dann unweigerlich abstürzen.

1989 bin ich als Vice President und Direktor der Greensboro-Niederlassung von Ciba-Geigy zurückgetreten. Ich war 62 und fühlte: Man muss gehen, bevor der «burnout» einsetzt. Heute will man nicht mehr, dass die Leute jahrelang in derselben Firma bleiben und dann für die geleisteten Dienste eine Uhr bekommen. Sie wollen keine Sesseldrücker feiern. Der Gründer von Apple, Steve Jobs, suchte den ständigen Turnover – Leute mit neuen Gedanken und unbelastet von Vergangenem. Das ist Gedankengut des 21. Jahrhunderts. An der Abschiedsparty bei meinem Rücktritt staunten jüngere Mitarbeitende: «Wir können es nicht fassen, dass Sie so lange bei der gleichen Firma blieben.»

Von Zuhause aus erzogen, Verantwortung im öffentlichen Leben zu tragen, war ich während der nächsten zehn bis fünfzehn Jahre – bis zu meinem 77. Geburtstag – weiter in verschiedenen lokalen und regionalen Organisationen tätig, so unter anderem im Vorstand einer Gruppe von Spitälern der Region und im Aufsichtsrat für Kinderhorte und Tagesheime. Daneben hatte ich ein Mandat als Vorsitzender der Stadtund Bezirkskommission für Planung und Wirtschaftsentwicklung der Region. Ciba-Geigy unterstützte mich in dieser Tätigkeit fürs Gemeinwohl und überliess mir grosszügig ein Büro. Meine grosse Befriedigung ist, dass heute Dinge in Greensboro und Umgebung wahr geworden sind, die wir damals angedacht und geplant haben.

Jetzt ist mein Leben mit Joe ruhiger geworden. Ihre und meine Kinder besuchen uns, oder wir sind zu ihnen und unseren achtzehn Grosskindern unterwegs nach New York, Washington, Boston, Rhode Island und Arkansas. Die Reisen in die Schweiz werden seltener. Aber Heimweh nach Basel, nach dem Münsterplatz und nach den Bergen habe ich immer wieder. Und wenn ich ans Hotel Edelweiss in Mürren mit direktem Blick auf Eiger, Mönch und Jungfrau denke, wird mir warm ums Herz. Doch zurück in die Schweiz, um dort zu leben, das könnte ich nicht mehr. Ich fühle mich heute zuerst als stolzer Amerikaner, aber gleichzeitig auch als treuer Auslandschweizer und Basler. Das ist alles vereinbar.


Donald Tritt, 1931

Von Columbus, Ohio, nach Granville, Ohio

«ICH TRAGE DEN ROTEN SCHWEIZER PASS IM HERZEN.»

Donald Tritt bedauert, nicht auf Schweizerdeutsch erzählen zu können. Er ist in den USA geboren, als Kind von Schweizer «Secondos», und hat es verpasst, Deutsch zu lernen. Aber seine Liebe zur Schweiz und zum Simmental, wo seine Vorfahren herkommen, ist gross: «I am American, but I feel Swiss very, very much», sagt er mit ruhiger, angenehmer Stimme und zeigt stolz auf seine fünfhundert neuen Schweiz-USA-Pins, die er auf eigene Kosten anfertigen liess. Quadratisch und nicht rechteckig, wie üblich, sollte dabei das Schweizer Wappen auf dem Pin sein – das Schweizer Kreuz sei ja schliesslich so.

Mein Bild von der Schweiz ist nicht realistisch, sondern idealistisch. Schweizer Freunde hier in Amerika weisen mich gelegentlich schmunzelnd darauf hin, wenn ich mal wieder in den höchsten Tönen von diesem Land schwärme. Ich möchte das Land meiner Vorfahren wirklich kennen. Und schön wäre es, ich hätte den Schweizer Pass. Vater war es damals als Einwanderer der ersten Generation nicht bewusst, dass er für meinen Bruder und mich die Doppelbürgerschaft hätte beantragen sollen. Und trotz intensiver Bemühungen scheint es unmöglich, dass ich noch Schweizer werden darf. Das ist und bleibt für mich eine herbe Enttäuschung.

Zum Trost trag ich den roten Schweizer Pass in meinem Herzen und versuche, so viel wie möglich für die Schweizer Belange in den Vereinigten Staaten zu tun. Ausserdem kann ich jederzeit aus meiner Bibliothek ein Buch über die Schweiz hervorholen. Dann fühl ich mich irgendwo dort – in ihrer Geschichte, in ihren Geschichten aber auch in ihrer Kunst oder in ihren Gegenwartsfragen. Und wenn ich hier am Waldrand in mein Haus eintrete, sehe ich als Erstes die markante Kapelle von St. Stephan und fühle mich ins Simmental versetzt, wo meine Ursprungsfamilie herkommt. Ich habe die Gegend um den Weiler St. Stephan über mehrere Meter hinweg an die Zimmerwände malen lassen – das kleine Dörfchen mit den Wiesen, Feldern und dem Wald.

Vor über dreissig Jahren begann ich mit Bekannten am Küchentisch mit der Familien- und Ahnenforschung der Tritt oder Tritten. Wann immer ich in einer neuen US-Stadt war, stöberte ich in den Telefonbüchern nach Leuten, die so hiessen. Schliesslich hatte ich auf meiner Adressliste etwa zweihundert mit meinem Namen in den Vereinigten Staaten. In einer fünfzehnköpfigen Forschergruppe tasteten wir uns Schritt für Schritt vorwärts, um mehr über unsere Wurzeln zu erfahren. Auf einer Studienreise ins Berner Oberland stiessen wir auf Zivilstandsämtern und in alten Pfarreibüchern im Simmental auf Quellen, die unsere Familie bereits 1562 erwähnen. Stolz sind wir auf die beiden Familienbücher, die unsere Gruppe aus den Forschungsergebnissen geschaffen hat; weitere werden folgen. Wir sind uns nun sicher: Wer Tritt oder Tritten heisst, kommt definitiv aus St. Stephan im Simmental. Als Hobbyhistoriker interessiert mich auch die Geschichte unserer in Amerika weit verzweigten Familien, die ab 1739 aus dem Berner Oberland ausgewandert sind. Wir haben rund 21 000 Namens- und Lebensdaten. Aber über ihre Schicksale, wo sie wohnten und was sie in ihrem Leben taten, wissen wir erst bruchstückweise Bescheid.


Donald Tritt als Einjähriger mit seinen Eltern in Columbus, Ohio.

Mein Schweizer Urgrossvater liess sich 1864 in Columbus am Scioto-Fluss nieder. Er war Mitbegründer des Helvetia Unterstützungsvereins, und meine Urgrossmutter gründete die Ladies Aid Alpenrösli Gruppe – beides Organisationen, die bis heute existieren.

Ich bin es nicht gewohnt, so viel von mir zu reden. Meist höre ich in meinem Beruf als Psychotherapeut anderen Menschen zu und helfe ihnen, durch Nachdenken über die eigene Situation sich in ihrem Leben besser zurechtzufinden.

Meine ersten Lebensjahre waren nicht eben leicht. Ich bin am 2. Juni 1931 in Columbus im Staate Ohio geboren. Als ältester Sohn von Gustav Jakob und Ruth Weaver Tritt. Mein Bruder Paul kam zwei Jahre später auf die Welt. Ich war ein einsames Kind, und meine Mutter kannte ich nur als kranke Frau. Sie litt an Tuberkulose, war oft in Sanatorien und wenig daheim bei uns. Und wenn sie da war, durften wir Kinder jeweils nur bis an ihre Zimmertür. Es war nie heimelig mit ihr, kuscheln oder sie umarmen war wegen der Ansteckungsgefahr verboten.

Im Alter von 29 Jahren verstarb Mutter. Paul war fünf, ich sieben Jahre alt. Ich weiss noch genau, wo ich stand, als ich meinem Bruder sagen musste, dass Mutter gestorben war. Was es bedeutete, verstand ich nicht. Ich wusste nur, es war sehr schlimm. Mutter würde nie mehr zu uns zurückkehren. Ich fühlte mich innerlich leer und allein-gelassen.


Als Achtjähriger mit seinem kleinen Bruder Paul und seiner Schweizer Tante aus Beggingen, Schaffhausen.

Ein Gefühl von Familienliebe und Geborgenheit spürte ich beim Besuch bei unseren älteren Schweizer Verwandten, meine Schweizer Tanten waren ein beglückendes Bindeglied zur Schweiz. Ich erinnere mich, dass ich sie als Kind vor dem Einschlafen bis weit in die Nacht hinein auf Schweizerdeutsch Geschichten erzählen hörte. Sie redeten von einem weit entfernten Land, über das frühere Bauernleben dort und über zahme Hasen, die sich in der Scheune tummelten; über die heimatliche Geschichte auch, das Alltagsleben und über die schweizerische Verbundenheit mit der Neuen Welt. Und die Grosseltern sagten «Buebe» zu uns. Als Kind war mir nicht bewusst, wie unglaublich wichtig der Schweizer Hintergrund einmal für mich sein würde.

Vater verdiente als Handsetzer in einer Buchdruckerei mehr schlecht als recht und kam als Witwer mit uns Buben und der ganzen Situation nicht zurecht. Schlechtmachen will ich ihn nicht. Er wusste es nicht besser. Er hatte seine eigene Mutter schon mit vier Jahren verloren und fühlte sich unsicher und überfordert mit der Erziehung seiner beiden Söhne. Wenn mein Bruder und ich herumtollten und es laut zu und her ging, schimpfte er mit mir, dem Älteren, ich sei ein schlechter Mensch. Und ich glaubte ihm. Das hat tiefe Narben hinterlassen.

Gute Stunden mit Vater hatten Paul und ich im schweizerischen Schützenverein in Columbus. An diesen Treffen und bei den gelegentlichen Tanzanlässen mit reichen Essgelagen an langen Tischen fühlte ich mich wohl. Es gab Gebäck und Süsses für uns Kinder. Und ich hab den Bierduft und die klebrigen Holztische, an denen gejasst wurde, in guter Erinnerung.

Ansatzweise Unterstützung erhielt ich auch in der evangelischreformierten Kirche und bei den Pfadfindern. Da wurde ich ernst genommen, konnte mich beweisen und mit den anderen Buben um Auszeichnungen kämpfen. Vor allem aber bekam ich dort Anerkennung. Auch die Schule wurde für mich eine wunderbare Möglichkeit, aus dem tristen Zuhause auszubrechen. Ich erinnere mich an eine Lehrerin, die mir als etwa Zehnjährigem sagte: «Don, du hast ein schönes Lächeln.» Wie war ich glücklich! So etwas Persönliches hatte bis dahin nie jemand zu mir gesagt.

Es hätte viel schiefgehen können damals. Ich war ein unsicherer, scheuer und introvertierter Bub und hätte leicht auf die schiefe Bahn geraten, verbittert und sogar gewalttätig werden können. Um etwas Geld zu verdienen, trug ich als Jugendlicher in aller Frühe auf drei Routen Zeitungen aus und züchtete Kaninchen, die ich an Ausstellungen zeigte und entweder als Zuchttiere oder als Hasenpfeffer verkaufte. An Ostern, Muttertag und Weihnachten trug ich Blumen aus für 25 Cents pro Strauss überall in Columbus.

Als ich vierzehn Jahre alt war, fragte ich mich: Was mache ich jetzt mit meinem Leben? Austauschen konnte ich mich mit niemandem, und ich nahm an, ich hätte meine Lebensprobleme alleine zu bewältigen. Mein Bruder nahm die Dinge eher, wie sie waren. Ich wusste, es wäre ein Leichtes, über mein Schicksal zu klagen. Aber was würde es ändern? Als Schüler lag ich in der Klasse etwas über dem Durchschnitt. Ein besonders auffälliger Junge war ich nie, weil ich scheu und zurückgezogen blieb. Wer weiss, vielleicht erbte ich von meinen Schweizer Vorfahren dennoch ein gewisses Verantwortungsbewusstsein. Und ich war irgendwie neugierig aufs Leben und wusste instinktiv: Das Leben muss mehr sein und Grösseres bieten! Ich wollte Lernen und Neues erfahren.

Vater fühlte sich anfänglich durch meinen Lerneifer bedroht. «Reicht es nicht, wenn du Drucker wirst wie ich? Warum willst du denn studieren?» Mein Unbehagen und meine Angst vor Vaters Wutausbrüchen war gross, und da ich damals mager war, reizte mich sein beständiger Druck, mich zum Essen zu zwingen, zum Äussersten. Eines Abends beim Essen, als er mich wieder einmal bedrängte, nahm ich einen Stuhl in die Hand und schwang ihn über seinem Kopf. Vater verklagte mich umgehend beim Jugendgericht. Und das Erstaunliche geschah: Der Bewährungshelfer redete ruhig und respektvoll mit mir. Er riet mir, von daheim wegzuziehen und eine höhere Schule zu besuchen.

Er fragte mich tatsächlich: «Was möchtest du jetzt tun?» So etwas war ich noch nie gefragt worden. Dass es etwas wie ein Ich gab, von dem aus man antworten konnte, war mir völlig fremd. War das ein Erlebnis! Es brach damals Erstaunliches in mir auf. Erst später wurde mir bewusst, dass dies der erste Mensch in meinem Leben gewesen war, der mir zugehört hatte und mich ernst nahm. Und alles, was in den Jahren vorher geschehen war, wurde für mich bedeutungslos. Es lag nun an mir, meine Zukunft zu gestalten.

Nach dem Abschluss an der High School im Südosten von Columbus, 1949, immatrikulierte ich mich an der Ohio State University. Ich war glücklich. Während einer Routineuntersuchung stellte man fest, dass ich infolge von Tuberkulose weisse Zellen in meinem Urin hatte. Der Entscheid war bald gefallen: Mir musste eine Niere entfernt werden.

Im Jahre 1952 entschied ich mich, Psychologie zu studieren. Das Gebiet rund um das menschliche Innenleben zog mich magisch an; diese Studienwahl hatte sicher auch einiges mit meiner eigenen Lebensgeschichte zu tun. In Amerika gab es damals noch kaum Psychologen, und als Forschungsgebiet war es wenig bekannt. Ich erhielt ein Stipendium und eine Einladung an die Universität von Chicago. Noch nie hatte jemand aus unserer Familie ein College besucht, geschweige denn an einer Universität studiert. Jeder universitäre Kurs war spannend, oft auch beängstigend, aber immer faszinierend. Ich studierte klinische Psychologie – erfuhr unendlich viel über unser Handeln, Denken, Fühlen und Begreifen. Für mich war alles äusserst interessant. Psychologie war kein populäres Studium. Aber es kümmerte mich wenig, wenn es etwa hiess: «Verrückt, dass er so etwas studiert!»

Ich durchlief während meines Studium natürlich auch selber eine Therapie, was mir viel Klarheit und Versöhnung mit meinem eigenen Leben gab. Eine Metapher besagt: «Man kann eine Pflanze nicht wachsen machen. Aber man kann Bedingungen schaffen, die sie wachsen lassen – guter Boden, Wärme, Licht, Sonnenlicht.» So lernt man, so strebt man danach, die Bedingungen für mögliches Wachsen zu schaffen. Es geht auch im psychotherapeutischen Prozess darum, für Klienten gute Bedingungen zu schaffen. Die Person selbst muss den Weg gehen, man kann sie nicht dazu zwingen. Jeder Mensch ist einzigartig und hat das Recht auf seinen eigenen Weg. In meiner Tätigkeit war es entscheidend, genau hinzuhören, wonach meine Klienten strebten. Ich nenne mein Gegenüber Klient, nicht Patient. Patient tönt zu passiv, zu hierarchisch. Ich finde, der Austausch muss auf gleicher Ebene stattfinden. 1959 schloss ich mit dem Doktorat ab. Und mein Beruf wurde zu meiner Berufung.


Als Achtzehnjähriger in der Pfadfinderbewegung (Mitte hinten).

An der Universität in Chicago lernte ich Carl Rogers kennen, den weltberühmten Psychologen und Begründer der Humanistischen Psychologie. Ich spürte, seine und meine Denkweise waren sehr ähnlich; ich hatte das Gefühl, einen verwandten Geist gefunden zu haben. Obwohl er war 29 Jahre älter war als ich, arbeiteten wir viel zusammen und wurden gute Freunde. Er lud mich später ein, mit ihm an die Universität Wisconsin zu ziehen und dort weiter zu forschen. Ich entschied mich dann aber, meinen eigenen Weg zu gehen, und nahm einen Ruf hierher an die Denison University in Granville, Ohio, an, in der Doppelfunktion als Fakultätsmitglied und Direktor des Psychologischen Diensts. Rogers war damals sehr einflussreich, und er verhalf mir zu meiner beruflichen Position. Er war zeitlebens mein Mentor und Kollege, und er nominierte mich später sogar für die Akademie der amerikanischen Psychotherapeuten.

Und die Liebe meines Lebens wurde auf Umwegen meine Frau. Marilyn, die Tochter eines Arztes aus Columbus, lernte ich in einer Tanzschule kennen. Sie war vierzehn und ich achtzehn Jahre alt. Wir gingen miteinander aus, dann aber trennten sich unsere Wege. Sie hatte sich später mit einem anderen verlobt. Ihre Mutter war es, die uns nach sieben Jahren wieder zusammenbrachte. Sie ahnte, schwerkrank, wie sie war, dass wir einfach zusammengehörten. Neun Tage nach unserer Hochzeit starb sie an ihrer Krebskrankheit. Marilyn und ich waren seelenverwandt, und ich liebte sie innig. Nach fünf Jahren adoptierten wir zwei Kinder; Barbara kam zu uns, als sie sieben Tage, und Stephen, als er sieben Monate alt war. Und dreieinhalb Jahre später kam Jeffrey zur Welt. Barbara hat einen Master in Pädagogik und arbeitet als Lehrerin für behinderte Kinder, Stephen ist Finanzvorstand in einer internationalen Unternehmung und Jeffrey hat einen Master in Organisationsentwicklung und ist Vizepräsident in einer internationalen Werbeagentur.

Nach Abschluss meiner Studien zogen Marilyn und ich hierher nach Granville Ohio. Es ist ein wundervoller Ort zum Leben und Arbeiten und etwa dreiviertel Stunden von Columbus entfernt. Neben meiner Universitätstätigkeit eröffnete ich eine Privatpraxis und war Berater an der Mental Health Klinik des Bezirks. Ich hatte Glück in meinem Beruf. Ich war einfach zur rechten Zeit am rechten Ort. An der Denison-Universität, einer Schule, die Leute von weither anzieht und an der Studierende aus mehr als zwanzig Nationen immatrikuliert waren, konnte ich experimentieren und kreativ lehren. Anstatt die üblichen Vorlesungen zu halten, bei der die Studierenden im hinteren Teil des Raums schlafen, arrangierte ich die Sitze im Raum kreisförmig. Das war damals völlig unorthodox. «Veranstaltest du eine Séance, eine spiritistische Sitzung?», wurde ich belächelt. Mir war einfach wichtig, so zu lehren, wie ich es für richtig hielt und wie es für die Studierenden attraktiv war. Ich darf sagen, für meine Kurse gab es oft Wartelisten; der am meisten nachgefragte war jener über die «Theorien der Persönlichkeit». Darin zeigte ich die verschiedenen Wege auf, wie Jung und Freud und all die anderen europäischen Psychiater und Psychologen arbeiteten und forschten. Ich arrangierte mit den Studierenden auch Studienreisen und viele Diskussionen, teils sehr persönliche. Mir war wichtig, dass diese jungen Leute lernten, selber zu denken und Fragestellungen schöpferisch anzugehen, statt nur auswendig zu lernen. Da die Psychologie als Universitätsfach damals in Amerika noch in den Kinderschuhen steckte, war viel Entwicklungspotenzial für mich vorhanden, was mich sehr beglückte. Einer meiner Kurse befasste sich mit kulturübergreifender Psychologie; ich legte den Studierenden die unbewusst wirksamen kulturellen Einflüsse auf das menschliche Tun dar. Die erste Lehrveranstaltung, die ich 1973 anbot, stand unter dem Titel «Encounters with Switzerland». Wen wunderts!

Im Jahre 1976 kauften meine Frau und ich eine fünfundzwanzig Hektar grosse Farm ausserhalb der Stadt, auf der eine aus Zedernholz gebaute Blockhütte stand. Wir bauten sie als Sonnenenergie-Haus mit nach Süden gerichteten Fenstern um und nutzten das Grundwasser für die Wärmegewinnung. Bald galten wir mit unserem Projekt weit herum als Beispiel für alternative Energiebauweise – damals ein Novum in Amerika. Für uns war es immer wichtig, in der Natur draussen zu sein. Unsere Kinder wuchsen im Grünen auf, inmitten von Vieh, Schafen und Hühnern, die wir selber aufzogen und pflegten. Das Leben auf dem Land war ein herrlicher Kontrast zu meiner akademischen Tätigkeit an der Universität. Meine Frau war eine so wunderbare Partnerin und im sozialen Umgang viel spontaner als ich. Sie lud Menschen ein, liebte es, Gäste auf unserer Farm zu bewirten.

Als wir aufs Land zogen, absolvierte Marilyn an der Ohio State University das Masterprogramm in Psychiatrischer Pflege. Und sie wurde wenig später mit dem Aufbau einer Krankenschwesternschule am Central Ohio Technical Collage beauftragt. Sie stieg in die Schulleitung auf und wurde Dekanin der akademischen Abteilung. Bis bei ihr 1990 Brustkrebs diagnostiziert wurde. In den nächsten fünf Jahren kämpften wir alle um ihr Leben. Es war traumatisch. Ich liess mich frühpensionieren, um mehr Zeit mit ihr verbringen zu können. Ihr Tod, 1995, war unglaublich hart für mich – ich glaubte, nicht mehr weiterleben zu können. Marilyn vermisse ich heute noch genauso stark wie vor siebzehn Jahren. Sie wollte unbedingt, dass ich gut weiterlebe. Und ich musste mit meinem Schicksal irgendwie fertig werden.


Mit 41 Jahren auf seinem 28-Tage Marsch durch die Schweiz – von Montreux nach Sargans.

Es ist schon so, ab und zu fühle ich mich einsam im Haus hier am Waldrand, das ich mir später kaufte. Glücklicherweise habe ich meine Familie, Freunde, Bücher, diverse Forschungs- und Schreibprojekte, meine Begeisterung an langen Wanderungen und meine Leidenschaft für die Schweiz.

Ja, die Liebe zum Land meiner Vorfahren ist ungebrochen. Meine erste Reise dorthin konnte ich mir erst leisten, als ich dreissig Jahre alt war. Ich wollte alles sehen. Ich erinnere mich an die unglaubliche Schönheit, jede Strassenecke brachte neue Entdeckungen, jeder Wanderweg eine neue Szenerie. Durch all jene Dörfer und Landschaften wollte ich wandern, von denen ich gehört oder die ich auf Bildern gesehen hatte. Später kam oft auch meine Familie mit. Um die Welt meiner Familie aber wirklich hautnah kennenzulernen, wanderte ich 1972 allein quer durch die Schweiz. Mein Freund Hugo Lüscher aus dem Kanton Aargau half mir mit topografischen Karten, die Route zu planen. Nach sechsmonatigem Training begann ich mein Abenteuer in Montreux und erreichte nach 13 Bergpässen und 26 Wandertagen Sargans, an der Schweizer Grenze zu Liechtenstein. Diese Wanderung wurde zu einer einmaligen Pilgerreise für mich.

Mehr aus Spass habe ich vor ein paar Jahren die Umrisse der Schweiz auf eine US-Landkarte gelegt. Dieses Fleckchen Land ist verschwindend auf unserem Kontinent, aber die Leistungen der Schweizer hier sind gross, die Geschichte der Einwanderer aus der Schweiz ist eine unglaubliche. Ich bin seit über fünfundzwanzig Jahren Mitglied und jetzt auch Treuhänder der Columbus Swiss Home Association. Und auch die Sammlung alter Dokumente, Fotografien und Protokolle von Schweizer Einwanderern, oft in schlechtem Zustand, liegt mir am Herzen, deren Übersetzung und Sicherstellung. Ich habe mit recht vielen Schweizern, die in Amerika leben, Kontakt, nicht zuletzt durch mein Engagement bei der Swiss American Historical Society. Und obwohl ich anfänglich aus verschiedensten Kreisen ziemlich Gegenwind hatte und viele skeptisch reagierten, war ich von der Idee eines Swiss Center of North America, eines Dokumentations- und Informationszentrums für die Schweiz in Amerika, überzeugt. Ich engagierte mich für dessen Errichtung und Finanzierung. Diese Institution ist mittlerweile in New Glarus, der wohl authentischsten Schweizer Gemeinde in den USA, eingerichtet. Es ist wichtig, dass die Dokumente der Auswanderer aller Epochen an einem Ort gesichert und archiviert werden. Meine persönliche Bibliothek, die inzwischen etwa viertausend Schweizer Bücher und siebzehntausend Schweizer Postkarten umfasst, werde ich dem Swiss Center of North America schenken.

Ich kann es nicht leugnen, dass ich mich schweizerischer fühle als mancher Schweizer, der in den USA lebt. Ich bin Amerikaner, aber der Reiz ist für mich gross, einmal für längere Zeit dort leben zu dürfen, wo meine Vorfahren herkommen – etwa auf dem abgelegenen Hof «Schürgut», das meinen Vielfach-Ur-Ur-Ur-Ur-Grosseltern Christina Griessen und Hans Tritten Mitte des 17. Jahrhunderts gehörte.