Heimat der Greifen

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Heimat der Greifen
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Lina Lintu

Impressum

1. Auflage: Juni 2020

Text: Lina Lintu

Umschlaggestaltung: Lina Lintu,

mit Fotos von Steven Hylands und Francis Nie

Verlag: L. Thull

Planckstraße 44

42549 Velbert

Vertrieb: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

ISBN: 978-3-752965-31-5

www.twitter.com/lintu_lina

www.facebook.com/LinaLintuAutorin

Für Werner und Betti

Meine beiden Schutzengel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Epilog

Danksagung

1. Kapitel

Mit einem dumpfen Knall fiel die Autotür zu.

Nina Harper ließ die Hand noch an dem kühlen Metall und verharrte. Sie hatte das Gebäude lange genug durch die Frontscheibe betrachtet, bevor sie sich hatte überwinden können, überhaupt auszusteigen. Und jetzt, wo sie es endlich getan hatte, zögerte sie vor dem nächsten Schritt.

Wenn sie das alte Cottage direkt ansah – nicht auf Fotos, nicht durch eine schützende Autoscheibe – dann würde es beunruhigend real werden.

Innerlich lachte sie sich selbst aus, für solche unlogischen Gedanken, doch es kostete sie dennoch Überwindung, sich schließlich umzudrehen.

Vor ihr lag das Bailangryph Cottage. Es war kein hässliches Cottage. Aber leider auch kein schönes. Die Mauern bestanden hauptsächlich aus grauem Naturstein, die Fensterrahmen waren genauso schwarz wie die Tür und das reetgedeckte Dach hatte in seiner Anfangszeit sicher mal schön ausgesehen, doch nach etlichen Jahrzehnten voller Regenwetter sah es schmutzig aus und hatte einen leichten Grünschimmer. Ob von Unkraut oder Algen ließ sich von hier unten aus schwer sagen.

Alles hier wirkte so … alt und kühl.

Die Postkarten und Butterwerbungen malten ein sehr viel schöneres und vor allem grüneres Bild von Irland als das, was Nina bisher gesehen hatte. Gut, das lag wahrscheinlich hauptsächlich daran, dass es Anfang März war und das Land von eiskaltem Nieselregen in einen silbernen Schleier gehüllt wurde, der jeden Moment in Schneeregen umschlagen konnte.

Und genau dieses ungemütliche Wetter war es schließlich, was Nina dazu trieb, ihr Auto hinter sich zu lassen und die Tür des Cottages aufzuschließen.

Ihres Cottages.

„Hallo?“ Ninas Stimme hallte im Flur von den Wänden wider. Eine Antwort bekam sie nicht, dafür hörte sie Schritte, die eilig eine Treppe herunter trippelten.

Sie nutzte den kurzen Moment, um sich umzusehen. Von innen war das Bailangryph Cottage schöner als von außen. Honigfarbene Wände, helle Holzmöbel, lange Teppiche auf dunklem Parkett. Rechts zweigte ein weiterer Flur ab, daneben führte eine Treppe ins obere Stockwerk.

Für mehr reichte die Zeit nicht, denn von dort kam eine kleine ältere Dame und strahlte Nina mit einem Lächeln an, das alle Falten glatt zu ziehen schien.

„Hallo, Frau Flaherty.“ Nina ließ es wie eine halbe Frage klingen und hoffte, dass sie den Nachnamen der Haushälterin richtig ausgesprochen hatte.

„Nina! Bitte nenn mich doch Irena. Und bist du groß geworden!“ Irena Flaherty schien kurz zu überlegen, ob sie Nina umarmen sollte, entschied sich dann aber bei der ersten Begegnung für ein erstaunlich kräftiges Händeschütteln.

Nina lächelte verlegen. Sie hatte nicht erwartet, so herzlich begrüßt zu werden. Aber Josephine hatte sicher so oft von ihr erzählt, dass Irena das Gefühl haben musste, Nina schon lange zu kennen.

Wieder einmal meldeten sich die Gewissensbisse, dass sie ihre Oma nur so selten besucht hatte.

Und dennoch hatte sie ihrer einzigen Enkeltochter das Bailangryph Cottage vererbt. Mitsamt seiner Bewohner.

Mit jeder Minute schloss Nina ihr neues Zuhause mehr ins Herz. Nicht nur der Flur war in warmen Farben gehalten, auch die anderen Räume, die Irena ihr einen nach dem anderen zeigte. Links lag eine großzügige Küche, deren Herzstück ein Esstisch aus massivem Holz war, an dem gut und gerne acht Personen Platz hatten.

„Ich fahre einmal die Woche in den Ort zum Einkaufen. Wir haben viel Platz im Kühlschrank und in der Vorratskammer, da reicht das“, erklärte Irena fröhlich.

Am anderen Ende des Flurs, gegenüber der Eingangstür, befand sich ein Wohnzimmer, das sicher so groß war wie Ninas gesamte erste Wohnung. Außerdem hatte es bodentiefe Fenster, die zu einer gepflasterten Terrasse führten. Dahinter erstreckte sich ein Garten, der zum Grundstück gehörte. Ebenso wie der Wald weiter hinten und ein riesiges Freigehege für die Greifen, wenn Nina die Unterlagen über Josephines Nachlass richtig im Kopf hatte. Das Freigehege konnte man vom Wohnzimmer aus allerdings noch nicht sehen.

Irena ließ Nina aber kaum genug Zeit, diesen Blick auf sich wirken zu lassen.

Die restlichen Zimmer im Erdgeschoss waren ein Bad samt Dusche und Badewanne, Robins Zimmer – natürlich Robin Jackson, der Stallarbeiter – und ganz am Ende des Flurs Irenas eigenes Zimmer.

„Und diese Tür?“, fragte Nina, als Irena sich schon der Treppe nach oben zuwenden wollte.

„Ah, das ist die Hintertür. Man gelangt direkt in den Garten und zum Stall.“

Im oberen Geschoss befanden sich ein weiteres Bad, Josephines Schlafzimmer sowie ihr Büro und ein Gästezimmer für Besuch. Nach der Führung durch das Cottage setzten sie sich ins Wohnzimmer.

Den Außenbereich und den Stall hatten sie ausgelassen. Das sei Robins Aufgabe, sagte Irena. Nina störte das nicht. Sie war nie warm geworden mit Tieren, die größer als eine Katze waren. Dementsprechend froh war sie gewesen, dass ihre Oma jemanden in ihren Diensten hatte, der sich bisher um die Greifen gekümmert hatte und es auch weiterhin tun würde.

Bei einer Kanne Tee besprachen Nina und Irena dann erst einmal die formellen Sachen. Nina hatte zwar das Cottage geerbt, aber nur unter der Bedingung, dass die bisherigen Bewohner weiter dort wohnen bleiben durften. Die Greifenzucht hatte ein eigenes Firmenkonto, das rechtlich auch Nina gehörte, aber das für die nächsten 24 Monate nur dazu genutzt werden sollte, Irena und Robin weiterhin zu bezahlen.

„Ich glaube, deine Großmutter wusste, dass ihr nicht mehr viel Zeit bleibt. Sie hat alles so gewissenhaft geregelt.“ Irena lächelte traurig.

„Mein Beileid“, murmelte Nina, die nicht wusste, wie sie darauf reagieren sollte. Für Irena war es sicher ein größerer Verlust gewesen als für sie selbst.

„Versuchen wir uns lieber fröhlicheren Themen zu widmen.“ Irena schien zu merken, dass Nina die Situation unangenehm war. „Was ist dein Lieblingsessen? Und was magst du gar nicht? Ich muss mich in Zukunft beim Kochen ja auch nach dir richten.“

Es war schon später Nachmittag, als Nina endlich die Gelegenheit fand, ihre Koffer aus dem Auto zu holen. Zum Glück hatte der Nieselregen endlich aufgehört und die Wolkendecke bekam dunkelblaue Risse.

Sie hatte aus Respekt vor ihrer Oma ursprünglich das Gästezimmer wählen wollen, doch Irena hatte sie schnell überredet, Josephines altes Zimmer zu nehmen. Das hätte sie so gewollt.

Eine gute Entscheidung, wie Nina zugeben musste.

Es war das hellste Zimmer im Bailangryph Cottage; ein großes Doppelfenster öffnete sich nach Südwesten. Unten sah man den Parkplatz und die Zufahrt, doch schon nach wenigen Metern verschwand die Straße hinter einer Biegung und nichts trübte mehr den Blick auf die umliegende Landschaft. Im letzten Licht der untergehenden Sonne wirkten die Hügel mehr golden als grün, und die dunklen Wolken, die immer noch über den Himmel krochen, bekamen von unten rot-orange Farbtupfer.

Nina wollte schon ihr Handy aus der Tasche nehmen, um den Moment festzuhalten, doch dann entschied sie sich doch dagegen. Stattdessen genoss sie den Anblick nur für sich. Und nur wenige Augenblicke später zog eine Wolke vor die Sonne und die kräftigen Farben verblassten schlagartig.

 

Nina seufzte.

Sie packte ihre Kleidung aus dem einen Koffer in den leeren Kleiderschrank. Irena hatte Josephines Sachen schon in Kisten auf dem Dachboden verstaut. Bei Gelegenheit würde Nina sie durchsehen und dann entscheiden, was damit geschehen sollte. Doch für den Moment war sie dankbar, dass sie sich nicht darum kümmern musste.

Die Bilder hatte Irena allerdings nicht von den Wänden genommen. Eins davon war ein altes Foto von Josephine. Obwohl es mit der Zeit verblasst war, konnte man immer noch erkennen, dass sie die gleichen rotblonden Haare und Sommersprossen gehabt hatte wie Nina.

Bei den restlichen Bildern handelte es sich um Werke, die Josephine selbst gemalt hatte. Vor wenigen Minuten noch hätte Nina gesagt, dass die Farben der Landschaftszeichnungen künstlerisch verfremdet waren, doch sie hatte gerade selbst gesehen, wie farbenprächtig ein Sonnenuntergang hier in Irland sein konnte.

Nina setzte sich aufs Bett, das nach frisch gewaschener Wäsche roch, und ließ die Bilder auf sich wirken.

Sie versuchte sich vorzustellen, wie ihre Oma am Fenster gesessen hatte, genau in diesem Zimmer, und mit schwungvollen Strichen die Farbe auf der Leinwand verteilt hatte. Sie hatte Irland und seine Landschaft immer geliebt. Eine Liebe, die ihr Sohn nicht geerbt hatte.

So war Nina in Deutschland aufgewachsen und auch nach dem Tod ihrer Eltern dort geblieben. Wo hatte sie sonst auch hin sollen? Als Anfang des Jahres – nur zwei Jahre nach ihren Eltern – auch ihre Oma gestorben war, hatte sie es als Wink des Schicksals verstanden.

Statt das geerbte Cottage zu verkaufen, hatte sie ihre Wohnung in Duisburg zurückgelassen und war ohne Netz und doppelten Boden nach Ardara gezogen.

Zusammen mit dem Cottage hatte sie außerdem etwas Geld geerbt. Nicht viel, doch genug, dass sie die nächsten paar Monate überstehen konnte. Und bis dahin würde sie sicher in der Stadt einen Job gefunden haben.

Vertieft in Gedanken und Erinnerungen, und erschöpft von der langen Reise, schlief Nina einfach ein. Und Irena weckte sie auch nicht fürs Abendessen.

Erst am nächsten Morgen wachte sie orientierungslos wieder auf. Sie war in einem fremden Zimmer und trug noch ihre Straßenkleidung. Doch mit jedem verschlafenen Blinzeln kehrten mehr Erinnerungen zurück.

Sie nahm sich frische Kleidung aus dem Schrank und ging dann in das Bad am Ende des Flurs. Frisch geduscht und mit nicht zerknitterter Kleidung traute sie sich dann nach unten ins Erdgeschoss, wo Irena, den Geräuschen und den Gerüchen nach zu urteilen, schon das Frühstück vorbereitete.

„Kann ich dir helfen?“, bot Nina an, als sie sah, wie die kleine alte Frau mit einer Hand das Rührei vorm Anbrennen bewahrte und mit der anderen losen Tee in eine Kanne gab.

„Nein, nein, ich brauche keine Hilfe, Schätzchen. Ich mach das seit vier Jahrzehnten so. Deine Oma konnte auch nie dabei zusehen. Aber entgegen ihrer Befürchtungen ist nie etwas kaputt gegangen und nie etwas angebrannt!“

Nina lachte und setzte sich an den Esstisch. Bei genauem Hinsehen hatten Irenas Vorbereitungen tatsächlich etwas von einer jahrelang einstudierten Choreografie. Jeder Handgriff saß, alles stand genau so bereit, dass Irena nicht einmal hinschauen musste.

Erst als sie den fertigen Tee – duftender Earl Grey – einschenkte, bemerkte Nina, dass drei Tassen auf dem Tisch standen. Und auch drei Teller sowie dreimal Besteck. Wahrscheinlich für Robin, doch von ihm fehlte noch jede Spur.

Ob er es Nina übel nahm, dass sie sich ihm nicht gleich am ersten Tag vorgestellt hatte?

Allerdings hatte er selbst auch keine Anstalten gemacht, sie kennenzulernen.

Hoffentlich war Robin nicht die Art von Mann, der eine Frau als Chefin – was Nina ja nun mal war – nicht respektierte. Oder zumindest keine Frau respektierte, die jünger war als er selbst.

Fotos von den Bewohnern des Bailangryph Cottage hatten bei den Unterlagen nicht beigelegen, doch in Ninas Kopf entstand auf einmal ein klares Bild von Robin: ein bäuerlicher Typ Mitte vierzig, mit Holzfällerhemd, schwieligen Händen und beginnenden Geheimratsecken.

Und mit jeder Sekunde hatte Nina weniger Lust, diesen Robin kennenzulernen.

Nein, das war unfair ihm gegenüber. Sie sollte bei der ersten Begegnung unvoreingenommen sein. So früh morgens war sie wohl noch etwas misanthropisch veranlagt. Zeit für etwas Koffein.

Nina zog ihre Tasse zu sich, nippte vorsichtig an dem heißen Tee und verbrannte sich trotzdem die Lippe.

„Wann kommt Robin normalerweise zum Frühstück?“, fragte Nina so höflich wie möglich.

„Sobald die Greifen fertig sind. Mal früher, mal später. Wir müssen aber nicht warten“, erklärte Irena und lud Nina eine ordentliche Portion Rührei auf den Teller. „Hier. Du hast sicher Hunger, wenn du kein Abendessen hattest.“

„Danke.“ Sie nutzte die Gelegenheit, als Irena sich selbst Rührei nahm, um sich am Bacon zu bedienen. So konnte sie immerhin sichergehen, dass die Portion nicht zu riesig wurde.

Normalerweise frühstückte Nina nur am Wochenende, aber dieser Dienstag hier fühlte sich ziemlich nach Wochenende an. Zudem wäre es unhöflich – und töricht – ein so leckeres Frühstück auszuschlagen. Und Ninas Magen knurrte schon verräterisch.

Sie war gerade dabei, sich die dritte Scheibe Toast mit Rührei in den Mund zu schieben, als sie die Hintertür hörte. Kurz darauf betrat Robin mit einem fröhlichen „Guten Morgen!“ die Küche und Nina verschluckte sich an ihrem Frühstück.

Immerhin mit dem Holzfällerhemd hatte sie Recht gehabt. Alle anderen Vermutungen lagen meilenweit daneben.

Robin war in ihrem Alter, vielleicht sogar ein oder zwei Jahre jünger, schlank, mit kurzen schwarzen Haaren und leuchtend grünen Augen, und hatte absolut nichts Bäuerliches an sich, abgesehen von einem leichten Stallgeruch.

Und Robin war weiblich.

Sie betrachtete die immer noch hustende Nina mit einem schiefen Grinsen. Um etwas dagegen zu tun, schnappte Nina sich ihre Teetasse und nahm einen großen Schluck. Der Tee war allerdings immer noch unangenehm heiß und zusammen mit dem Hustenanfall tränten Ninas Augen jetzt noch mehr. Ein wundervoller erster Eindruck.

Zu einem ähnlichen Ergebnis kam wohl auch Robin, denn sie setzte sich Nina gegenüber und lud ihren Teller voller, als Irena es getan hätte, bevor sie etwas sagte.

„Sieh an, das ist also unsere neue … Chefin.“ Das letzte Wort betonte sie so abschätzig, dass das Rührei in Ninas Magen sich in Stein zu verwandeln schien.

„Na, na, ein bisschen höflicher bitte“, mischte sich Irena ein. „Ja, sie hat das Cottage geerbt, aber sie ist immer noch Josephines Enkeltochter und ich bin mir sicher, sie wird eine ähnlich entspannte Chefin sein und wir werden gut miteinander auskommen.“

Nina schenkte Irena ein dankbares Lächeln – sie traute ihrer Stimme gerade noch nicht – doch insgeheim hatte sie das Gefühl, dass es doch nicht so einfach werden würde, wie sie sich das vorgestellt hatte. Robins Blick war immer noch misstrauisch.

Das Schlimmste war, dass Robin ihr sympathisch gewesen war. Sie hatte etwas an sich, das Nina auf den ersten Blick faszinierte. Aber die fehlende Gegenseitigkeit dämpfte dieses Gefühl.

Sie nahm noch einen Schluck Tee, räusperte sich und versuchte dann die Stimmung zu lockern. Vielleicht taute Robin etwas auf, wenn Nina Interesse für ihre Arbeit zeigte.

„Du kümmerst dich um die Greifen, nicht wahr? Darf ich mir den Stall nach dem Frühstück ansehen? Gestern bin ich leider nicht mehr dazu gekommen.“ Nina legte so viel Freundlichkeit in ihre Stimme, wie sie sich traute, ohne es geheuchelt klingen zu lassen. Es brachte nicht viel.

„Es ist dein Cottage, also gehört auch der Stall dir. Ich kann dir schlecht verbieten, dort hinzugehen.“

Einen Moment lang lag Nina eine patzige Antwort auf der Zunge, doch dann entschied sie sich für Diplomatie.

„Ja, es ist mein Stall, aber wenn dich meine Anwesenheit dort stört, dann verschiebe ich es auf einen passenderen Zeitpunkt.“

Robin verdrehte genervt die Augen. Ohne Nina zu antworten, schaufelte sie das Frühstück in Rekordgeschwindigkeit in sich rein. Sobald Teller und Tasse leer waren, stand sie auf, bedankte sich kurz bei Irena und war dann wieder verschwunden.

Nina ließ die Schultern hängen.

„Nimm es nicht persönlich, Kindchen. Robin kann manchmal etwas schwierig sein. Sie ist auf dem Land aufgewachsen und hat, nun ja … Vorbehalte gegenüber Menschen, die aus großen Städten kommen. Ich bin mir sicher, ihr werdet euch schon noch verstehen, sobald ihr euch ein bisschen besser kennenlernt.“

Sie zwinkerte Nina zu.

„Ich werde mir Mühe geben“, versicherte Nina und fügte dann leise hinzu: „Wenn sie es auch tut.“

Irena lachte.

Nachdem die Küche aufgeräumt war – dieses Mal hatte Nina zumindest dabei helfen dürfen, das Geschirr in die Spülmaschine zu räumen – machte sie sich auf den Weg nach draußen.

Der Tag war eisig grau. Es regnete nicht, doch die Sonne hatte trotzdem keine Chance gegen die geschlossene Wolkendecke und das Gras knirschte unter Ninas Füßen.

Der Stall war nicht zu übersehen. Sobald man zur Hintertür hinausging, sah man ihn auf der rechten Seite. Er war noch größer als das Cottage, mit ziegelrotem Anstrich und einem ebenfalls reetgedeckten Dach. Die Stalltür war nur angelehnt; hoffentlich ein Friedensangebot von Robin.

Dennoch zögerte Nina, den Stall einfach zu betreten. Stattdessen spähte sie von draußen in das Halbdunkel.

Bevor sich ihre Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnten, nahm sie den Geruch wahr. Es war nicht nur der Stallgeruch, den sie schon bei Robin bemerkt hatte. Es roch nach Zoo, nach Großkatzen.

Schließlich überwog die Neugier und Nina machte einen Schritt hinein in den Stall.

Zwei Gänge führten durch den Stall. In der Mitte sowie an den Wänden befanden sich je sieben Boxen für die Greifen. Platz für 21 Tiere.

Die einzelnen Boxen waren nicht nur breiter, sondern auch insgesamt größer als in einem Pferdestall. Nina konnte nicht sagen, ob alle Boxen auch belegt waren, denn die Greifen waren im Moment offenbar draußen im Freigehege.

Die einzige, die noch im Stall war, war Robin, auch wenn Nina sie nicht sah, sondern nur hörte.

„Hallo?“

„Hier bin ich.“ Robin trat aus der hintersten Box im rechten Gang, eine Mistgabel in der Hand.

„Störe ich gerade?“

Robin zögerte kurz, dann schüttelte sie den Kopf und lehnte die Mistgabel an die Wand.

„Jedenfalls bei nichts Dringendem. Komm mit, ich zeige dir deine Greifen.“

Auf der hinteren Seite des Stalls, dort wo die beiden Gänge wieder zusammentrafen, war ein weiteres Tor. Robin öffnete es und ließ einen Schwall eiskalter Luft in den Stall. Dann betrat sie das Freigehege.

Nina folgte ihr langsam, auch wenn sie noch keine Greifen entdecken konnte.

Der Abstand zu Robin erwies sich aber auch aus anderen Gründen als praktisch, denn im nächsten Moment stieß Robin einen lauten Pfiff aus.

Einige Sekunden lang passierte nichts, dann kamen mehrere Greifen aus dem Wald getrottet. Vier Stück zählte Nina, plus einen weiteren, der schon vorher unbemerkt auf der Wiese gelegen hatte und bei Robins Pfiff aufgestanden war.

Die letzten Meter kamen sie nur zögerlich näher, als wäre die fremde Person ihnen nicht geheuer. Fünf goldene Augenpaare musterten sie argwöhnisch. Ein Greif scharrte unruhig.

„Kein Blickkontakt!“, ermahnte Robin sie. Nina senkte sofort den Blick und fixierte stattdessen die Pranken der Greifen.

„Tut mir leid. Ich habe nicht oft mit Greifen zu tun.“

„Merkt man.“

Der vorderste Greif in der Gruppe war ein ungewöhnlich dunkles Tier. Alle Instinkte rieten Nina, bloß auf Abstand zu bleiben, doch Robin näherte sich dem Greifen unbefangen und fing an, das Tier zu streicheln.

Der Greif schloss entspannt die Augen und ließ ein Geräusch vernehmen, das wie eine Mischung aus Gurren und Schnurren klang.

So erschien er weniger bedrohlich und Nina nutzte die Gelegenheit, ihn genauer zu betrachten.

Aus der Nähe wirkte er beeindruckend groß, sein Kopf war auf Augenhöhe mit Nina. Kopf, Brust und Flügel waren mit schwarzem Gefieder bedeckt, darunter ging es in kurzes, glänzend schwarzes Fell über. Während der Kopf – abgesehen von den spitzen Ohren – dem eines Adlers glich, hatte der restliche Körper Ähnlichkeit mit einer Raubkatze. Oft wurden Löwen als Vergleich herangezogen, doch der Greif war weniger massig. Gerade bei diesem schwarzen Tier musste Nina eher an einen Panther denken.

 

Es war nicht der erste Greif, den sie sah, nur der erste aus solcher Nähe. Auch in Duisburg gab es einige Menschen, die sich den Luxus leisten konnten, einen Greifen zu halten. Doch in der Stadt selbst sah man sie ähnlich selten wie Pferde. Wenn man also nicht zu den Leuten gehörte, die ein besonderes Interesse dafür hatten, hatte man mit beiden Tierarten wenig zu tun.

„Wie heißt dieser Greif?“ Nina versuchte mit unverfänglichen Themen die Stille zu durchbrechen.

„Shadow.“ Robin suchte Ninas Blick, wie um ihre Reaktion zu sehen. „Nicht sehr kreativ, ich weiß. Ich habe diesen Namen ausgesucht, als ich noch deutlich jünger war.“

„Aber es passt.“

„Die anderen hier sind Glen, Akira, Madame und Wren.“ Nacheinander deutete Robin auf einen honiggoldenen, einen kupferfarbenen und zwei braune Greifen.

Nina machte einen vorsichtigen Schritt nach vorne. Näher zu dem schwarzen Greifen.

„Ist Shadow ein er oder eine sie?“

„Shadow ist männlich. Die Männchen haben einen etwas dunkleren Schnabel als die Weibchen.“ Robin deutete auf die anderen Greifen. Doch Nina erkannte ehrlich gesagt keinen nennenswerten Unterschied. Sie traute sich aber auch nicht, den Greifen länger als nötig ins Gesicht zu schauen. Kein Blickkontakt.

„Wie lange arbeitest du schon hier im Bail… hier im Cottage?“, fragte sie stattdessen. Robin wirkte entspannter als vorher und das wollte Nina gleich ausnutzen.

Robin sah nicht von Shadows Gefieder auf. „Wird das jetzt ein Interview oder was?“

Das war der Moment, wo Ninas Diplomatie ein Ende fand. „Da wo ich herkomme, nennt man das Smalltalk. Oder einfach nur ehrliches Interesse.“ Ihr Tonfall war spitz genug, dass Shadow unruhig mit den Flügeln raschelte.

Robin drehte sich zu ihr um. Nina erwartete jetzt erst recht eine unfreundliche Antwort, doch stattdessen sah sie ein Grinsen in Robins Gesicht.

„Vielleicht hast du ja doch was von dem Temperament deiner Oma geerbt.“

Nina erwiderte das Grinsen vorsichtig. „Vielleicht?“

„Wenn du es wirklich wissen willst: Ich arbeite hier, seit ich vierzehn bin. Also seit acht Jahren schon. Und es heißt Bailangryph Cottage.“

Sie sprach Bailangryph wie Beil-an-Griff aus.

„Bailangryph“, wiederholte Nina langsam. „Ist das Gälisch?“

„Ja, genau. Eigentlich hieß es ursprünglich Baile an gryph, hat mir Josephine mal erzählt. Das heiß so viel wie Heim oder Heimat der Greifen. Daraus ist dann mit der Zeit Bailangryph geworden. Und ohne das e kann man es mit Sammle den Greifen ein übersetzen, was auch gut passt, weil manche Greifen gerade im Sommer lieber draußen bleiben wollen und sich im Wald verstecken, wenn ich sie rufe.“

Da war sie wieder. Diese Faszination, die Nina schon im ersten Augenblick gespürt hatte. Es brauchte also nur ein Thema, für das Robin sich begeistern konnte.

„Gut zu wissen.“ Nina hätte gerne noch mehr gefragt, aber sie wollte weder ungebildet noch übermäßig neugierig wirken. Also biss sie sich auf die Lippe.

Doch Robin erzählte auch von sich aus mehr. Als sie mit den Streicheleinheiten bei Shadows Flügeln ankam, erklärte sie Nina deren Anatomie. Wie Vögel hatten auch Greifen Röhrenknochen und unterschiedliche Arten von Federn.

Shadow schien zu begreifen, dass er gerade als Anschauungsmaterial benutzt wurde, denn er spreizte seinen Flügel und plusterte stolz das Brustgefieder auf.

Dabei fiel Nina auf, dass er nur einen Flügel frei bewegen konnte. Der andere war mit einem breiten Ledergurt an seinen Körper gebunden. Das sah nicht sonderlich bequem aus, aber zu dem Thema erklärte Robin leider nichts. Und Nina ahnte, dass eine Nachfrage ihr wahrscheinlich wieder einen genervten Blick einhandeln würde, also schwieg sie.

Zum Abschluss streichelte Robin Shadow behutsam über den Schnabel. Das eigentümliche Schnurren wurde lauter.

Zu gerne hätte Nina ihn auch gestreichelt, vor allem das Gefieder am Hals, das so schön weich aussah. Aber wenn Robin das nicht von sich aus anbot, würde sie auch nicht danach fragen. Denn so viel wusste sie inzwischen sowohl über Greifen als auch über Robin: Man musste erst mit ihnen warm werden.

Auch wenn Shadow Robins Streicheln genossen hatte, wollten die Greifen ihre Zeit im Freigehege offenbar lieber mit ihren Artgenossen verbringen. Deshalb entfernten sie sich langsam, aber sicher von den beiden Frauen am Tor und diese nahmen es als Anlass, die Tiere in Ruhe zu lassen.

Außerdem hatte Robin auch noch Arbeit vor sich.

„Kann ich dir irgendwie helfen?“, fragte Nina als sie wieder im Stall waren. Jetzt bestand die Möglichkeit, dass Nina sich tatsächlich nützlich machen und Pluspunkte bei Robin sammeln konnte. Doch Robin schüttelte den Kopf.

„Die meiste Arbeit ist schon erledigt. Erst heute Abend, wenn ich die Greifen in den Stall bringe, gibt es wieder was zu tun. Außer du hast so viel Langeweile, dass du mir beim Ausmisten der Boxen helfen willst.“ Robins Blick war herausfordernd und Nina wusste, dass sie gerade geprüft wurde.

„Natürlich. Ich brauche nur eine zweite Mistgabel.“

Wieder grinste Robin. „Erstaunlich mutig für ein Stadtkind“, neckte sie. „Aber du musst mir wirklich nicht helfen. Mach dich lieber bei Irena nützlich. Sie sagt immer, dass sie noch alles kann, aber ihre Knie sind nicht mehr die besten. Wenn sie also was vom Dachboden holen will, übernimm du das bitte.“

„Mach ich.“

Das mit dem Dachboden war ein guter Hinweis, schließlich lagen Josephines Sachen noch dort oben. Doch vorher wollte Nina noch in die Stadt.

Sobald sie das Bailangryph Cottage wieder betrat, war Irena allerdings schon zur Stelle, um ihr eine Tasse Tee hinzuhalten. „Hier, wärm dich erst mal wieder auf.“

Zuerst wollte Nina protestieren, doch mit der heißen Tasse in den Händen wurde ihr bewusst, wie kalt und taub ihre Finger waren. Im Stall war es zwar wärmer als draußen, weil die Körper der Tiere die Luft aufgeheizt hatten, aber die Kälte war ihr trotzdem unbemerkt in die Knochen gekrochen.

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