Usbekisches Reisetagebuch

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Usbekisches Reisetagebuch
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Vorbemerkung

Soll man in den Zeiten des islamistischen Terrors in ein islamisches Land fahren?

TASCHKENT

FERGHANA

KARAKALPAKSTAN

CHIWA

BUCHARA

SAMARKAND

Reisehinweise

Literaturhinweise und -nachweise

Foto- und Kartennachweis

Über den Autor

Weitere Veröffentlichungen

Ludwig Witzani

Usbekisches

Reisetagebuch

Ludwig Witzani

Usbekische Reisetagebuch

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Lektorat: Tilman Griebenow

epubli Verlag, Berlin, 2016

ISBN 978-3-7375-8733-4



Vorbemerkung

Das usbekische Reisetagebuch beschreibt eine Reise nach Usbekistan im Schatten des islamistischen Terrors. Ich habe diese Notizen und meine Vorbereitungen ohne große Änderungen übernommen und nur hier und da Ungenauigkeiten und Details korrigiert beziehungsweise ergänzt.

Reisenden, die sich nur eine überschaubare Zeit in einem Land aufhalten, gewinnen immer nur eine begrenzte, unvollständige Perspektive. Ihr Vorteil aber ist die Distanz, aus der heraus möglicherweise die Konturen klarer werden. Darum habe ich mich bemüht, soweit mir das möglich war. Gleichwohl bitte ich für eventuelle Fehler um Nachsicht. Für die Urteile und Positionen, die ich in diesem Reisetagebuch äußere, bin selbstverständlich nur ich verantwortlich.

Ich widme dieses Buch Bashorat Zardinova stellvertretend für die unzähligen Usbekinnen und Usbeken, die ihr Land und ihre Religion von Herzen lieben und doch die Welt mit offenen Augen sehen.

Bonn, im Februar 2016

Ludwig Witzani


Statue des islamischen Universalgelehrten

Al Chwarizmi vor den Stadttoren von Chiwa

Soll man in den Zeiten des islamistischen Terrors

in ein islamisches Land fahren?

Ich habe als noch relativ junger Mann die meisten moslemischen Länder bereist, ausnahmslos selbstorganisiert und in Eigenregie. Die Bekanntschaften und Erlebnisse, die ich auf diesen Reisen mit den Menschen vor Ort gemacht habe, gehören für mich zu den schönsten Erinnerungen meines Reiselebens. Zugegeben, überall besitzt die Welt eine besondere Färbung, jede Ecke unseres Planeten enthüllt dem Reisenden eine andere Facette des Menschseins, aber das, was der Orient zu bieten hat, ist doch einzigartig. Seiner Romantik, seinen Stimmungen und Geräuschen, seiner Musik und Architektur kommt nichts gleich, und auch wenn es sich übertrieben anhören mag, so war mir oft, als würde ich dem Leben in einer dichteren Konsistenz teilhaftig, wenn ich durch die Altstädte von Lahore, Isfahan oder Marrakesch lief. So habe ich es immer wieder empfunden, ganz egal, welche Provinz der islamischen Welt ich bereiste. Allerdings, das muss ich von heute aus hinzufügen, vollzogen sich die meisten dieser Reisen in einer Zeit, in der der Islam noch nicht die kampfbereite Abwehrstellung gegen alles Westliche eingenommen hatte, in der er sich heute oft gefällt. Damals war er mir erschienen wie ein romantischer Bruder meiner eigenen Kultur, der in seiner Zivilisation einen gemeinschaftlichen Zauber entfalten konnte, nachdem sich der individualistische Mensch des Westens insgeheim verzehrt.

Auf der nach oben offenen Skala meines Fernwehs fehlten mir für den islamischen Kulturraum eigentlich nur noch drei Städte: Chiwa, Buchara und Samarkand, die Perlen Zentralasiens. Seit meiner Knabenzeit waren diese Städte für mich gleichbedeutend mit der Stimmung von Tausendundeiner Nacht, einer Ahnung von Karawanen und Kamelmärkten, Abenteuer und Orient - so weit weg, dass niemand wirklich wissen konnte, was dort vor sich ging und gerade deswegen wie eine große freie Leinwand der Fantasie, auf der ich malen konnte, was mir gefiel.

Schon mehrfach hatte ich angesetzt, nach Usbekistan zu reisen, aber immer war mir etwas dazwischengekommen. Ein Reisepartner, der woanders hinwollte, eine Scheidung, eine Erkrankung oder Ebbe in der Reisekasse. Im Jahre 2015 war es dann endlich soweit. Doch dann kam der Terror.

Über dem Sinai zerriss eine Bombe einen russischen Ferienflieger und brachte 221 unschuldigen Männern, Frauen und Kindern den Tod. In Tunesien landeten islamistische Mörder an einem Badestrand und begannen, Touristen mit ihren Schnellfeuergewehren zu erschießen. In Istanbul drängte sich ein Islamist in eine deutsche Reisegruppe und zündete seine Bombe. Zehn Tote, zahllose Verstümmelte.

Schlagzeilen aus einem Horrorfilm? Keineswegs, lauter blutige Tatsachen aus den letzten Monaten. Und ein Ende der Massaker war überhaupt noch nicht abzusehen. Fast täglich gingen neue Schreckensmeldungen über den Ticker, und es war, als hätten sich fundamentalistische Kräfte innerhalb des Islams dazu entschlossen, die Welt in einem Veitstanz ohnegleichen mit in den Abgrund zu reißen. Der islamistische Terrorismus hatte dem Tourismus den Krieg erklärt, daran konnte es keinen Zweifel mehr geben. Nicht mehr Geheimpolizisten oder Diktatoren waren nun ihre Angriffsziele, sondern Menschen, die sich gerade für die islamische Kultur interessierten und deren Ausgaben diesen Länder zugute kamen.


Dieser Krieg des islamistischen Terrorismus gegen den Tourismus zeigt inzwischen die ersten Erfolge. Der Tourismus in Ägypten und Tunesien ist praktisch zusammengebrochen, in der Türkei ist er schwer angeschlagen. Was aber ist mit Usbekistan? Usbekistan liegt in der Nähe von Pakistan, wo der Geheimdienst der Terrororganisation Al Qaida jahrelang Unterschlupf gewährt hatte. Usbekistan besitzt eine gemeinsame Grenze mit Afghanistan, wo die NATO einen völlig sinnfreien Krieg führt und die Taliban gerade dabei sind, die Macht zurückzugewinnen. Außerdem wurde Usbekistan von einer autoritären Regierung beherrscht, die zwar die Islamisten jagte, wo immer sie sich zeigten, aber zugleich das Ihre dazu beitrug, dass der Druck im Kessel ständig stieg.

Aber kein islamisch

es Land ist wie das andere, weder was seine Kulte, seine Menschen oder seine Regierung betrifft. Wenn man dem Auswärtigen Amt glauben durfte, war die Sicherheitslage in Usbekistan insgesamt zufriedenstellend, allenfalls im Ferghanatal oder an der Grenze zu Afghanistan war erhöhte Sorgfalt angebracht. Aber so etwas las man immer, bevor der erste Terroranschlag oder die erste Entführung stattfand. Was war also zu tun?

Zuerst verabschiedete ich mich von dem Gedanken, wie ursprünglich geplant, das Land selbstorganisiert zu bereisen. Als Individualtourist taucht man ein in Millionenstädte, ohne eine Spur zu hinterlassen, man fährt in Bussen und kein Hahn kräht nach einem, wenn er in eine Schlucht fällt - und wenn man krank wird und in einem einheimischen Hospital landet, dann gnade einem Gott. Alleine unterwegs zu sein, ist der Königsweg, den Menschen ganz nahe zu kommen, aber in Krisenregionen bedeutet es auch, das Schicksal herauszufordern.

Aber auch eine organisierte Bildungsreise kam für mich nicht in Frage. Ohne irgend etwas gegen bildungsreisende Pauschalurlauber gesagt zu haben, geht mir einfach die Anpassungsfähigkeit ab, die mit einer Reisegruppe von zwanzig bis dreißig Personen notwendig verbunden ist. Das ist alleine mein Problem und spricht nicht gegen diese Reiseart als solcher.

Die Lösung war einfacher als gedacht. Nach einer kurzen Recherche im Netz nahm ich Kontakt mit einer usbekischen Agentur auf, die schon seit Jahren vorgeplante oder maßgeschneiderte Touren für Einzelreisende vermittelt, Hotels und Fahrzeuge organisiert und bei Bedarf auch Reiseführer vor Ort stellt. Und bequemer als eine Individualreise war es außerdem.

 

Die latente Bedrohung, die vom islamistischen Terror ausgeht, war mir trotzdem an jedem Punkt meiner Reise in Usbekistan bewusst. Sie war bei mir als eine diffuse Stimmung, wenn ich über die Märkte lief, in die Busse oder Züge stieg oder Sehenswürdigkeiten besichtigte. In meinem Fall jedoch war sie verbunden mit dem festen Entschluss, zwischen denen, die mich möglicherweise bedrohten, und denen, die mir in ihrem Land eine beglückende Gastfreundschaft entgegenbrachten, strikt zu unterscheiden.


Usbekische Mutter mit ihren Kindern im Ferghanatal


Timur- Emir von Transoxanien (1336-1405)/Taschkent

TASCHKENT


Um sieben Uhr in der Frühe ging ich in Bonn aus dem Haus, stieg in die Straßenbahn nach Siegburg und traf Wolfgang im ICE nach Frankfurt. Mit Wolfgang führe ich seit dreißig Jahren eine Reisefreundschaft der besonderen Art, aus der heraus sich alle paar Jahre ein neuer Reiseplan entwickelt, uns beide ergreift und begeistert, ehe wir uns auf die Socken machen. Wir waren in Marokko, Algerien, Vietnam, China, Alaska und Patagonien und sahen jetzt unserer letzten gemeinsamen Reise entgegen.


Nach einer dreiviertel Stunde hielt der ICE am Frankfurter Flughafen. Um 9.30 fuhren wir mit dem Shuttlebus zum Terminal 2. Der Bus war brechend voll, überall lagen unförmige Gepäckstücke herum. Keine Kontrolle, nirgends. Einen Augenblick dachte ich daran, wie leicht und unkontrolliert ein muslimischer Extremist in einem solchen Shuttlebus einen Bombe zünden könnte. Dann schämte ich mich für diesen Gedanken. Aber wieso? War ich so vollständig auf ein Gut-Wetter-Leben konditioniert, dass ich mich bei Ahnung von Gefahr nicht ängstige, sondern schämte?

Dann waren wir da, und nach nur wenigen Minuten hielten wir schon die Bordkarten in den Händen. Vor den Schaltern wuselten Russen, Usbeken, Kasachen, Thai und Philippinos durcheinander, vermummte Frauen hockten neben unglaublichen Bergen von Handgepäck.

Der Flieger startete verspätet, weil auf einige Nachkömmlinge gewartet wurde. Die Maschine von Usbekistan Airways war bei weitem nicht ausgebucht, und es war kein Problem, eine freie Reihe zum Schlafen zu finden. Der Service war rustikal. Viel dicker dürfen die Stewardessen nicht werden, sonst kommen sie nicht mehr durch die Zwischengänge.

Usbekistan ist Teil einer geografischen Großregion, die heute als Zentralasien und früher als Westturkestan bezeichnet wurde (im Unterschied zum chinesisch kontrollierten Ostturkestan mit der Provinz Xinjiang). Die Region wird im Norden begrenzt durch Südsibrien, im Süden durch den Iran und Afghanistan, im Westen durch das Kaspische Meer und im Osten durch das Karakorum-Gebirge. Sechs Staaten befinden sich in Westturkestan/Zentralasien. Der flächenmäßig größte ist Kasachstan mit 2,7 Millionen qkm und knapp 18 Millionen Einwohnern. Der bevölkerungsreichste ist Usbekistan mit etwa 450.000 qkm und dreißig Millionen Einwohnern. Etwas größer als Usbekistan ist Turkmenistan, das sich westlich von Usbekistan bis zu den Ufern des Kaspischen Meeres erstreckt, aber nur knapp 7 Millionen Einwohner zählt. Die flächenmäßig kleinsten Länder der Region sind Tadschikistan und Kirgisien. Auf ihrem überwiegend gebirgigen Territorium leben 8 bzw. 6 Millionen Menschen. Usbeken, Kasachen, Kirgisen und Turkmenen sind Mischvölker, in denen sich Mongolisches und Türkisches in unterschiedlichen Anteilen verbindet. Tadschiken sind Iraner, worauf sie sich eine Menge zugute halten. Im Unterschied aber zu den Iranern in der Islamischen Republik Iran sind die Tadschiken nicht Schiiten sondern Sunniten.

Ich konnte mich noch gut daran erinnern, wie im Geschichtsunterricht die Grenzen des persischen Achaimenidenreiches und des Alexanderreiches im Nordosten immer merkwürdig ausfransten. Die Ostgrenze war der Indus, klar. Die Südgrenze: das Arabische Meer und der Persische Golf. Aber der Nordosten? Was waren das für Gegenden und was trugen sie für eigenartige Namen? Sogdien, Choresmien? Transoxanien? Es waren jene Landschaften am heutigen Amu Darja und Syr Darja (die damals allerdings Oxus und Jaxartes hießen), die heute im Wesentlichen das Territorium Usbekistans bilden.

Geografische Basisdaten zum heutigen Usbekistan. Das Land liegt in der großen abflusslosen turanischen Senke und wird von zwei Wüsten (der schwarzen und der roten Wüste) bedeckt und von zwei großen Flüssen ( dem Amu Darja und dem Syr Darja, früher Oxus und Jaxartes ) und einem kleineren, dem Serafschan, durchflossen. Das Hauptproblem Usbekistans besteht in der Wasserversorgung, denn die Flüsse versickern entweder vor ihrer Mündung in den Aralsee, oder sie erreichen ihn nur als kümmerliche Rinnsale, weil ihnen unterwegs zu viel Wasser zur Bewässerung der Baumwoll- und Gemüsefelder abgezapft wird. Außerdem leidet das Land unter einer extrem hohen sommerlichen Verdunstung und einer entsprechenden Versalzung des Wassers. 250 Gramm Salz pro Liter machen das Grundwasser als Trinkwasser praktisch ungenießbar. Wo es aber aus dem Hahn kommt und man sich damit die Haare wäscht, braucht man keinen Föhn mehr, und die Frisur liegt, als hätte man ein Pfund Taft verwendet.

Islamische Städte besaßen früher eine Poesie, die das Herz erwärmte. Heute muss man sich in ihnen vor islamistischen Bombenlegern fürchten. Wie konnte es dazu kommen? Viele sagen: Das hat sich der Westen selbst zuzuschreiben. Er hat die Orientalen schon immer unterdrückt und bekommt nun ihren Zorn zu spüren. Meine Vermutung über die Radikalisierung des Islam geht in eine andere Richtung. Es handelt sich um die Kombination zweier Phänomen: der Verbindung einer Hochreligion, die unter bestimmten Umständen Gewalt tatsächlich rechtfertigt (ich weiß, das hört sich politisch inkorrekt an, entspricht aber der Wahrheit) und einem gigantischen „Youth Bulge“, d. h. einem noch nie dagewesenen Überschuss an jungen Männern, die in ihren Herkunftsländern zu wenig Perspektiven besitzen.


Der erste Usbeke, dem ich auf dem Flughafen von Taschkent begegnete, war Islamov Karimov. Natürlich nicht persönlich, sondern in Gestalt eines eingerahmten Bildes vor der Passkontrolle. Man sah sofort: mit ihm war nicht zu spaßen. Seit 25 Jahren beherrscht er sein Land mit eiserner Hand und verfolgte jede Art von Widerstand mit gnadenloser Härte, ganz gleich, ob es sich um die demokratische Opposition oder um islamistische Terroristen handelte.

Die Einreise in Usbekistan war völlig problemlos, wenn man davon absah, dass kaum englischsprachige Zollformulare aufzutreiben waren. Viele Einreisende mussten russischsprachige Formulare ausfüllen und hoffen, dass sie ihre Informationen in die richtige Spalte eingetragen hatten. Machte aber nichts, denn der Passbeamte warf kaum einen Blick darauf. An touristischen Besuchern schien es trotz der angespannten Weltlage nicht zu mangeln. Vor allem ältere Menschen wollten am Abend ihres Lebens noch einmal den Orient als Gruppenreisende erleben.


Der Syr Darja im Ferghanatal


Der Amu Darja zwischen Chiwa und Buchara

Die Stadt Taschkent zählt 2,7 Millionen Einwohner. Obwohl die Umgebung der Stadt seit ewigen Zeiten bewohnt ist, entstammt sie selbst der Shaibanidenzeit, d. h. dem 16. Jahrhundert. Eine Zeitlang gehörte sie zum Khanat von Kokand, dann zum Reich der Dzungaren, ehe die Russen kamen und mit ihnen die demografische Expansion (nicht zuletzt durch massive russische Zuwanderung und die Verbesserung der Gesundheitsfürsorge).

Unser usbekischer Guide Amir war ein gutgelaunter Mensch mit einem Bauch wie ein Fass und einem Entengesicht. Er sprach ein ausgezeichnetes Deutsch und war angenehm in seinen Umgangsformen. Waren das die Moslems, die wir uns wünschen? Auf den Propheten hält er große Stücke, findet aber nichts dabei, Schweinefleisch zu essen und Wodka zu trinken. Für uns tauschte er usbekische Som zum Kurs von 1 zu 3.500. Da freuten wir uns, denn der offizielle Kurs in der Bank lag nur bei 1 zu 3.000 Som. Erst später sollten wir erfahren, dass er uns übers Ohr gehauen hatte, denn der wirkliche Schwarzmarktkurs lag bei 1 zu 5.000.

Als wir vom Flughafen in die Stadt fuhren, passierten wir unübersehbar weite Plätze, breite Straßen, ein sauberes Novosibirsk in Zentralasien. Zu meiner Überraschung waren die meisten Fahrzeuge weiße Chevrolets. Wie Amir erklärte, betrieb die usbekische Regierung ein Joint-venture mit General Motors, nach dem in Asaka, im äußersten Osten des Ferghanatals, Jahr für Jahr Hunderttausende Chevrolets hergestellt werden. Dass sie weiß sind, meinte Mischa, sei einfach eine Kostenfrage. Vielleicht wollte der usbekische Mann das Privileg der Farbe auch seiner Gattin vorbehalten.

Das Hotel war gut, auch das Bad und die Betten waren super. Wir aßen einen Salat zur Nacht, gönnten uns dazu ein großes Bier. Der junge Ober, der uns bediente, verstand kein Wort, ging aber einher mit dem Gesichtsausdruck eines beleidigten Kriegers.

Am nächsten Morgen schafften wir es gerade noch, einen Kaffee im Bett einzunehmen, dann mussten wir uns schon zum Frühstück sputen. Uns erwartete ein weitgehend abgegrastes Buffet mit Käse und Wurstresten, aber sehr dünnem Kaffee. Punkt 9.00 Uhr wartete Amir mit dem Wagen vor dem Hotel. Er wurde von einem Chauffeur gesteuert, der den ganzen Tag ein mürrisches Gesicht zog, das sich erst aufheiterte, als ich ihm am Abend das Trinkgeld gab.

Taschkent als Stadt bietet Gelegenheit, sich an die usbekische Wesensart zu gewöhnen. Sensationelle Sehenswürdigkeiten wird man eher in Chiwa, Buchara und Samarkand suchen müssen. Immerhin waren im Nordosten der Stadt im Jahre 2007 einige Medresen und Moscheen so aufwändig restauriert worden, dass bei einem Besuch Taschkents kein Weg an ihnen vorbeiführte. Im Entengang marschierte Amir mit uns durch das Kaffat Shashi Mausoleum und die Medrese Barak Khan, erzählte dieses und jenes und erwies sich als kenntnisreicher Cicerone. Manchmal, wenn er etwas besonders Wichtiges vortragen wollte, stoppte er abrupt, blinzelte in die Sonne und begann mit der Einleitung „Sehr verehrte Herrschaften“ eine Ansprache in einem Stil, als hätte er einhundert Personen vor sich. Wie sich bald herausstellte, waren Rückfragen von unserer Seite willkommen, denn dann straffte sich Amir und setzte mit „Sehr verehrte Herrschaften“ noch einen drauf. In der Medrese Barak Chan führte er uns zu den Wohnzellen der Studenten, die eben hier an der „Hochschule Al Biruni“ studierten. „Sehr verehrte Herrschaften,“ begann er erneut, „Wer war Al Biruni?“- was natürlich nur eine rhetorische Frage war, um ihm Gelegenheit zu geben, seine Kenntnisse zu zeigen. Wie sich herausstellte, war Al Biruni ein Universalgelehrter, der um das Jahr 1000 lebte, jede Menge Sprachen beherrscht hatte und besonders als Sammler von Hadhiten berühmt geworden war. „Sehr geehrte Herrschaften“, setzte Amir nach „Was ist ein Hadhit?“ Hadhiten sind autorisierte Aussagen und Geschichten aus dem Leben des Propheten, die neben dem Koran eine wichtige Quelle der muslimischen Überlieferung darstellen. erklärte Amir. Danach war erst einmal Pause angesagt, und wir setzten uns auf eine Wiese, um den Anblick der Moschee und der Medrese auf uns wirken zu lassen.

Das ästhetische Erlebnis der Medresen und Moscheen war fantastisch. Wie schon im Iran konnte ich mich nicht sattsehen an der Harmonie der Raumaufteilung, dem Schwung der Iwane und der wuchtigen Kraft der Türben. Ich setzte mich in den Schatten eines Baumes und versuchte zu ergründen, warum mich der Anblick der iranisch-zentralasiatischen Architektur so begeisterte. Wahrscheinlich beruhte sie auf einem Mehrfachen: Dem Nebeneinander dreier architektonischer Formen: erstens der großen iranischen Iwane, zweitens der runden Türben und drittens auf den Minaretten, die die Usbeken in ihrer besonderen Bauweise als „Leuchttürme“ verstehen wollen, die in meiner Wahrnehmung aber eher Schornsteinen glichen. Die Medresen war an ihren Frontseiten mit wundervollen Fayencen, meist in Blau- und Grüntönen, „den Farben des Paradieses“ gestaltet und sie waren mit sicherem Geschmack über Raumaufteilung und Proportionalität auf großen Plätzen voneinander getrennt bzw. aufeinander bezogen worden.

 

Usbekisch-zentralasiatisches Minarett


Osmanisches (türkisches) iranisches und marokkanisches

Minarett

Im Koran-Museum besichtigen wir den sogenannten „ältesten Koran der Welt“. Die Usbeken behaupten, es handele sich um eine der sieben Urabschriften des ersten Korans aus dem 7. Jahrhundert, den der Mongolenfürst Timur bei seinem Raubzug nach Bagdad erbeutet und nach Usbekistan gebracht hatte. Es soll sich um den Koran Kalif Othmans handeln, der bei der Lektüre dieses Buches ermordet worden sein soll. Auf meine Nachfrage hin erklärte Amir, dass ein gewisser Al-Farsi, der zuerst Zoroastrier, Buddhist und dann Christ gewesen sei, um am Ende Mohammed als dem Vollender aller Offenbarung zu folgen, an der Erstellung des Korans maßgeblichen Anteil gehabt hatte. Alles, was der Erzengel Gabriel dem Propheten erzählt habe, sei anschließend dem Al-Farsi in die Feder diktiert worden. Die 114 Suren, die auf diese Weise das Licht der Welt erblickten, so Amir, seien das endgültige, unveränderbare und für alle Zeiten geoffenbarte Wort Gottes, fuhr Amir fort, und ich fragte mich, ob ihm wirklich klar war, was er da sagte, denn es gab zahlreiche Suren, die sich widersprachen oder die unverblümt zu Täuschung und Gewalt gegen Ungläubige aufriefen. Sollte das wirklich unabänderlich sein? Außerdem war es natürlich Unsinn, daß der Koran als eine autorisierte Schrift bereits zu Lebzeiten des Propheten entstanden sein sollte. Es gab mindestens vier unterschiedliche Fassungen, die erst im 10. Jahrhundert vereinheitlicht wurden. Sollte ich das einwenden? Natürlich nicht. Schließlich waren wir im Ausland, da wollte ich kein Klugscheißer sein.


Kaffat Sashi Mausoleum in Taschkent

In einer Medrese, in der die fünf Uhrzeiten des Gebetes dargestellt wurden, erläuterte Amir die fünf Voraussetzungen der Gebete: Sauberkeit des Körpers, der Kleidung, des Platzes, die Richtung gen Mekka und die rechte Verhüllung (bei den Frauen selbstverständlich ausgeprägter als bei den Männern) – und eben die Uhrzeit.

Nachdem Amir uns diese Geschichte erzählt hatte, berichtet er und noch einmal, wie gerne er Schweinefleisch äße und Wodka trinke. Darin konnte er keinen Widerspruch zum Koran erkennen. Mich brachte diese Äußerung auf zwei Gedanken. Erstens: Amir war hungrig. Zweitens: Max Webers Diktum vom Nebeneinander widerstreitender Werte im Alltagsleben fiel mir ein, jenes opportunistische Wertegewurschtel, ohne das ein erträgliches soziales Leben überhaupt nicht möglich ist. Fundamentalist sein, hieß wahrscheinlich, die obersten Werte zu einhundert Prozent in sein Alltagsleben zu übertragen. Liberal sein hieß, den lieben Gott einen guten Mann sein zu lassen, Schweinefleisch zu essen, wenn ich hungrig war und zu Allah beten, wenn ich Beistand brauchte.

Auf dem Bazar von Taschkent liefen uns die Schwarzmarkthändler hinterher, doch noch ehe ich hören konnte, welche Kurse sie uns anboten, drängte uns Amir weiter. „Das sind Halunken und Räuber, die betrügen die Touristen“, sagte er mit besorgter Miene. Der Halunke war er, weil er auf diese Weise verhinderte, dass wir den wirklichen Schwarzmarktkurs erfuhren.

Der Bazar von Taschkent fand in einer großen überdachten Halle statt Alles war sauber und geordnet, bunt waren nur die Gewänder der Frauen. Unangenehm war die Bettelei der Zigeunerinnen, die plötzlich an einen herantraten, einen am Arm ergriffen und mit Nachdruck ein Backschisch forderten. Ihre Gesichter waren hart und verschlagen, Zurückweisungen nahmen sie nicht ernst und setzten einem weiter zu, bis man sich von ihnen losriss. In der ganzen Welt hatte ich immer wieder solche Erfahrungen mit Zigeunern gemacht, aber wehe, man erwähnte sie, dann drohte ein Shitstorm sondergleichen. In einer Unterführung saß ein kleines Mädchen, vielleicht acht oder neun Jahre alt und schrie wie am Spieß, welche Not sie leide. Es war eine Zigeunerin, und man hatte ihr zur Optimierung ihres Auftritts ein Zigeuner-Baby in den Arm gelegt, das wohl nur mit Betäubung das stundenlange Gekreische des Mädchens ertragen konnte. „Zigeuner sind faul“, sagte Amir. „Außer Timur hat sie niemals jemand zum Arbeiten gebracht, noch nicht einmal die Kommunisten.“

Mittagessen im Al-Aziz, einem der schönsten Lokale von Taschkent. Wir orderten je eine Portion Lagnam, ein usbekisches Nudelgericht, das es als Suppe wie als Spaghetti gab, tranken den schmackhaften grünen Tee und genossen den strahlend blauer Himmel. Die Temperaturen waren frühlingshaft, was aber beileibe nicht immer so sei, wie Amir anmerkte. Im Winter fiele das Thermometer auf minus 60 Grad, und im Sommer seien es fünfzig Grad plus. Hitzefrei gäbe es bei 40 Grad plus, was aber praktisch niemals vorkäme, weil die Medien immer nur 39 Grad meldeten. Ähnlich hätten sich die Medien 1966 beim großen Erdbeben in Taschkent verhalten. Obwohl Tausende dem Beben zum Opfer gefallen waren, wurde offiziell nur ein Toter gemeldet. Aber das sei letztlich alles bedeutungslos, fuhr Amir fort, denn ganz egal wie heiß es im Sommer werde oder wie oft die Erde bebe, alles in allem seien die Usbeken mit dem Regiment von Präsident Karimov zufrieden, denn er garantiere das Wichtigste von allem: Stabilität und Frieden. Amir selbst profitierte sogar in besonderer Weise vom Karimov-System, denn jeden Herbst hatte er als Deutsch-Lehrer einen ganzen Monat frei, weil in dieser Zeit die Jugend zur Baumwollernte zwangsverpflichtet wurde.

Nicht weit vom Al Aziz Restaurant befand sich das Erdbebenmonument, eine Skulpturengruppe im Stil des sozialistischen Realismus. Auf einem aufbrechenden Boden bäumen sich ein Mann, eine Frau und ein Kind auf, erschrocken, heldisch und zugleich hilflos, die Hände vorgestreckt, als sich die Erde öffnet.

Peter Scholl Latour kommt in seinem Buch „Schlachtfeld der Zukunft“ auf den Beginn der usbekisch-russischen Konflikte zu sprechen, die am Ende der Sowjetzeit immer virulenter wurden. Seiner Ansicht nach hätten Russen und Usbeken lange Zeit relativ friedlich nebeneinander hergelebt, weil sie räumlich getrennt waren. Es existierten zwei Parallelgesellschaften ohne intensivere Berührungspunkte, so dass die tagtäglichen Konflikte ausblieben. Das änderte sich durch das große Erdbeben des Jahres 1966 in Taschkent. Die nach der Zerstörung der Stadt massenhaft neu erbauten Wohnungen wurden an Russen und Usbeken gleichermaßen vergeben, so dass die beiden Ethnien nun viel enger zusammenrückten. Fremdheit, Aversion und schließlich Mord und Totschlag waren die Folge. Was bedeutete dieses Faktum für das Konfliktpotenzial in heterogenen Gesellschaften? Nicht die Aufhebung von Parallelgesellschaften, sondern ihre räumlich separierte Existenz garantierte ein Mindestmaß an sozialem Frieden.

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