Auf dem Pfad der Götter

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3. Liftar Masir

Der Sturm legte sich. Als Tibor den Hafen ansteuerte, begann die Abenddämmerung einzusetzen. Die Hände fest um das Steuer gelegt stand er da. Emilia, du wirst nicht glauben, was ich dir heute zu erzählen habe, dachte er. Nein, was ich getan habe, verbesserte er sich. Und da schloss der junge Mann die Augen, genoss das Schlagen der Wellen gegen den Schiffsrumpf, den landeinwärts treibenden Wind und die salzige Luft der See. So ähnlich musste sich sein Vater gefühlt haben, von dem er diesen Kutter erhalten hatte; das zumindest hatte ihm seine Mutter über ihren Mann erzählt.

Als er die Augen wieder öffnete, warf er einen Blick über die Schulter. Hinter dem Kutter sammelte sich der Nebel zu einer undurchsichtigen Wand. Ich muss mich beeilen, wurde Tibor klar, sonst holt mich die trübe Suppe noch ein. Er wollte sich gerade umwenden, da fiel ihm dieser Umriss auf, der ihn an die Saga um Siegfried erinnerte. Dort, inmitten des dichten Weiß ragte der Schatten eines Ungetüms in die Höhe. Ein sperriges, weit geöffnetes Maul mit langen, dolchartigen Zähnen, schob sich ihm und seinem Kutter entgegen. „Der Kopf eines Drachen“, rief Tibor aus. „Was hat das zu bedeuten?“ Sein Puls beschleunigte und Neugierde erwachte. Das Abenteurerherz schlug höher, im selben Takt wie der Wind an Stärke zunahm. Die NORDLICHT drohte zu kippen, neigte sich wie eine Waage immer weiter zur Seite. Tibor krallte sich mit den Fingern ans Steuerrad, dennoch wurde sein Körper unsanft herumgeworfen.

Immer weiter schob sich der Drache aus dem Nebel, sein Rachen wirkte wie in Stein gemauert. Fehlt nur noch, dass eine Feuerlohe auf mich zukommt, dachte Tibor. Er schallte sich im nächsten Moment einen Narr. Unsinn, in dieser Welt gibt es keine Drachen nur … Drachenschiffe! Natürlich, das musste es sein. An einem Sonntag war es durchaus möglich, dass die Stadt Schleswig-Holstein ein Museumsschiff zur See lies und dieses sogar für Besucher frei gab. Eine Schiffsführung der besonderen Art. Schade, dass er nicht der Kapitän war!

Aus dem Grau in Grau schälte sich ein bauchiger Rumpf, das geöffnete Maul mit den Zähnen wuchs immer weiter in die Höhe. Etwas seltsam fand er das goldene Wetterleuchten, dass vom Segel ausgehen musste.

Für einen Moment vergaß Tibor die Zeit und sein Vorhaben, den Ankerplatz zu erreichen. Als er sich in Fahrtrichtung drehte, baute sich das Bild des Hafens in voller Größe auf. Seine Anlegestelle kam in Sicht. Er sog die Lunge voll Luft, dann drehte er sich nochmals um und … atmete erleichtert, aber irgendwie auch enttäuscht auf. Das Drachenschiff blieb im Nebel zurück. Löste sich darin auf. Wie seltsam. Aber es war gut; Tibor wollte sich nicht weiter damit befassen. Denn er wurde das Gefühl nicht los, dass dieses Schiff von keinem Menschen gesteuert worden war. Wie das Geisterschiff aus dem Film Ghost Ship. „Unsinn! Genug.“, rief er laut aus. Da ging ein Ruck durch den Fischkutter und Tibor sprang vom Schiff auf dem Steg. Fast hätte er dabei sein Gleichgewicht verloren. Er schüttelte verwirrt den Kopf und strich im nächsten Moment behutsam über seine Hemdtasche. Dann sah er auf seine Hände, die stärker Zittern als es die Situation erforderte. Er zuckte mit den Schultern. Gut, dass er heute nichts Ausladen musste. So konnte er die NORDLICHT gleich festmachen, ohne noch den Umschlagplatz anzusteuern. Bis zur nächsten Ausfahrt, dachte er mit einem Lächeln und wand sich den Gebäudeblöcken der Stadt zu.

Die Sonne war beinahe untergegangen, als er bei dem kleinen Häuschen seiner Mutter ankam. Seltsam, die Türe war gar nicht verschlossen. Hatte sie geahnt, dass er bald kommen würde? Oder war er gar so laut gewesen, dass Emilia ihn gehört hatte? Seinem Atem zufolge war das gar nicht so abwegig. „Mom“, sagte er. „Ich muss mich entschuldigen! Aus den ein bis zwei Fischen ist nicht einmal einer geworden. Aber du wirst mir nicht glauben, was-“

Tibor brach mitten im Satz ab. Diese Stille, sie kam ihm seltsam vor. Er betätigte den Lichtschalter. Gedimmte Helligkeit empfing ihn. Er spürte, wie sein Herz gegen die Brust schlug. Neben dem halbstündigen Fußmarsch lag das an der Ungewissheit. „Emilia? Mom?“, rief er nochmals, während er den Lichtschalter drehte und die Helligkeit zunahm. „Mom? Was ist denn nur los?“

Er hätte lieber nicht gesehen, was in sein Blickfeld geriet. Feuchtigkeit bildete sich in den Augenwinkeln. Die Knie wurden ihm weich, als er näher trat. Dort lag jemand mitten im Flur auf dem Boden und bewegte sich nicht. „Nein! Bitte. Wer, wer würde so etwas tun? Sag, dass das ein Scherz ist! Mom!“ Er schob sich langsam zu dem reglos vor ihm liegenden Leib, fühlte sich dabei schwer wie ein Stein und ungelenk wie jener. Der Körper lag in einer roten Lache, mit einem Tuch bis zum Kinn bedeckt. Tibor hob die Decke an, zog sie mit letzter Kraft weg und erstarrte. Da lag nicht seine Mutter. Da lag ein Unbekannter, ein Ungeheuer! Sein Körper war hünenhaft, das lange Haar silbergrau – nicht blond! Eine geflochtene Strähne hing dem Unbekannten ins Gesicht – nicht ihr wunderbarer Zopf! Die Decke hatte all das wunderbar verborgen gehalten, hatte die Gestalt kleiner gemacht, als sie tatsächlich war.

Tibor warf die Hände in einer Geste der Verzweiflung von sich. Durch den Tränenschleier, der jetzt durch Zorn und Wut in seinem Bauch entstand, suchte er die Umgebung ab, blickte in jeden Winkel des Zimmers. Wer hatte das getan? Wollte man ihm einen Mord anhängen? „Wo bist du? Zeig dich!“, schrie er.

Als keine Antwort kam, ballte er eine Faust und schwang sie über dem fremden Körper hin und her. Über dem Gesicht des schlafenden Toten hielt er inne. „Und wer bist du?“, fragte er, mit einer Stimme, die nur noch ein Flüstern war. Da hoben sich die Lider und ein Blick aus silbergrauen Augen traf ihn, ging ihm durch und durch.

Er lebt, sagt eine Stimme in seinem Geist und noch ehe er reagieren konnte, schob sich der kräftige Leib in die Höhe, als wäre nichts gewesen. Die Augen waren schmale Schlitze, die dichten Brauen lagen eng beieinander. Wild fuhren sie hin und her. Er sucht etwas, begriff Tibor. Etwas oder jemanden?

Der Mann überragte ihn um mehr als einen Kopf und dass, obwohl er selbst mit seinen 1,85 Metern nicht gerade klein war. Ein Mann wie ein Schrank. Tibor fragte sich, wie der Fremde durch die Tür gekommen war. Seine Füße steckten in schweren dunklen Stiefeln, eine olivgrüne Leinenhose erstreckte sich über den Rumpf und bändigte das weiße Hemd, welches er nicht einmal zugeknöpft hatte. Nein, nicht ganz richtig, es war gerissen, die Knöpfe fehlten und bei näherem Hinsehen waren die Spuren eines Kampfes sichtbar. Die Ärmel waren zerfetzt, darunter kamen raue, große Hände zum Vorschein. Am rechten Arm befand sich ein braunes, breites Armband. Tibors Blick blieb an der muskulösen Brust haften, die sich im raschen Tempo hob und wieder senkte. Dieser Fremde muss das Herz eines Stiers besitzen, schoss es Tibor durch den Kopf. Wenn dieser Kerl seiner Mutter auch nur irgendetwas getan hatte …. Verdammt! Er musste ihn zur Rede stellen.

Das Herz des jungen Mannes raste, als er sich breitbeinig hinstellte und die Arme vor seiner eigenen Brust verschränkte, was ihm beinahe lächerlich vorkam. Wie David gegen Goliath, dachte er, und versuchte seine Mimik zu beherrschen. Er durfte nicht zittern, noch Angst zeigen und den Blick nicht senken. Der Unbekannte musterte noch immer den Raum, dann endlich hielt er inne und ihre Blicke trafen sich.

Tibors blaue Augen trafen auf die grauen des Unbekannten. Tibor fühlte sich, als würde er von einem Sturm aufgesogen werden. Die Härte verschwand aus dem Blick, an ihre Stelle trat eine Mischung aus Wissen und Macht, als hätte der Anwesende Zeiten überdauert, die kein Sterblicher je erblicken würde und Welten gesehen, die kein Mensch je zuvor erblickt hatte.

„Wer bist du?“, wiederholte Tibor seine Frage. Diesmal mit fester Stimme und weniger von dieser Situation beherrscht als zuvor. Er hoffte, dass seine Angst und sein Staunen nicht bemerkt wurden. Das durfte einfach nicht sein, denn nur dieser Mann kannte die Wahrheit, wusste, was mit Emilia geschehen war, wusste, was hier geschehen war. Tibor würde ihn nicht gehen lassen, ehe er dies aus ihm herausbekommen hatte. Und wenn es seinen Tod bedeutete. Dann sehe ich eben meinen Vater wieder, dachte er und hoffte, dass es dazu noch nicht kommen musste.

Der bärtige Mund seines Gegenübers öffnete sich, verzog sich zu einem ironischen Grinsen. „Mutig, wirklich mutig bist du.“ Die Stimme war wie ein Donnerhall – rau, fest und von solcher Kraft, dass er meinte, das Haus würde über ihm einstürzen. Und er bildete sich ein, gegen diesen Mann eine Chance zu haben? Ja, sagte er sich, es kommt nicht nur auf Kraft und Donner in der Stimme an!

„Sag mir, wer du bist! Und dann sagst du mir, wo meine Mutter ist.“

„Mut und Wut. Nicht immer ist beides so gut. Aber manchmal lassen sie einen gemeinsam über sich selbst hinauswachsen – nicht wahr?“ Der Fremde ging leicht in die Knie.

„Halt! Bleib, wo du bist!“, rief Tibor und hob die zur Faust geballte Rechte. Mit dem rechten Fuß trat er im Gegenzug ein Schritt zurück. Immer stabil stehen, dachte Tibor. Immer ausgeglichen bleiben.

„Ja“, sagte der Fremde. „Du scheinst es in der Tat zu sein. Sie hat sich nicht geirrt. Und keine Sorge, ich bleibe.“

Tibor versuchte, sich sein Grübeln nicht anmerken zu lassen. Er durfte seinen Standpunkt nicht verlieren. Mit der Hoffnung, das „Sie“ im Satz des Fremden war auf Emilia bezogen, fragte er: „Wer ist sie? Meine … Mutter?“

Der Mann stieß ein Lachen aus, das mehr einem Gurgeln glich und bei dessen Lautstärke er sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte.

 

„Sie ist in gewisser Weise anders. Ihr werdet euch noch kennenlernen“, sagte der Fremde und betonte dabei das erste Wort besonders. Die Art der Selbstverständlichkeit, mit der der Fremde sprach, setze weitere Energien in Tibor frei. Jetzt brauchte er ein Ventil, Bewegung im Körper, denn das Warten wurde immer mehr zur Qual.

Sein Blick verschleierte sich noch im Laufen und als er die wenigen Schritte zu dem anderen getan hatte, prügelte er darauf los. „Was ist mit ihr? Wo ist sie? Sag es mir endlich!“

Der riesenhafte Fremde wich den Schlägen mühelos und mit einer Schnelligkeit aus, wie Tibor es seinem Gegenüber dem Körperbau nach nicht zugetraut hätte. Eines seiner Beine fuhr aus und zog im gleichen Zug Tibor das seinige weg. Mit einem lauten Krachen landete er auf dem Rücken. Vor Schmerz verzog er das Gesicht. „Verdammt!“

„Jetzt mal ganz mit der Ruhe“, sagte der uneingeladene Gast und hob beschwichtigenden die Hände. Er setze eine freundliche Miene auf. Willst du endlich Schluss mit Rätseln machen?“, fragte Tibor grimmig.

„Es geht um dich und deine Rettung!“, setzte sein Gegenüber an. „Deine Mutter ist höchstwahrscheinlich in Gefangenschaft geraten. Eben von jenen entführt worden, die mich so zugerichtet haben. Sie dachten wohl, mein Leben ist beendet. Aber so leicht ist ein Einherjer nicht zu schlagen, nein, so geht ein Krieger nicht in den Tod.“

Wie konnte er der Fremde wagen, von einer Entführung zu sprechen? Und welche Begriffe verwendete er? Zog der Unbekannte ein Spiel der Verwirrung auf, um ihn im Dunkeln zu lassen?

„Dass ist nicht wahr!“, rief er. „Emilia ist hier! Sie muss hier sein und du wirst mich zu ihr führen“, ereiferte sich Tibor. „Los jetzt, zeig mir, wo du sie hingebracht hast.“

Das Haar des Fremden flog wie ein Bündel giftige Schlangen umher, als dieser den Kopf schüttelte und dabei wieder zu reden begann. „Ich kenne deine Mutter nicht, ich habe sie nicht gesehen. Dafür kenne ich den Gegner, ihnen bin ich nach Abschluss ihrer Tat begegnet. Ich konnte diese Hütte davor bewahren, weiter verwüstet zu werden.“

„Und was ist mit denen, die Emilia mit sich genommen haben? Wohin gehen sie? Wohin bringen sie Emilia?“, fragte Tibor.

„Die Entführer sind längst über alle Wasser. Ihnen kannst du nicht auf herkömmlichen Weg folgen.“

„Aber, was wollten sie hier?“, fragte Tibor. „Was wollen sie mit meiner Mutter?“

„Die Wahrheit ist“, brummte der Fremde, „sie wollten dich! Sie dachten, dich beim Abendmahl zu erwischen.“

„Warum mich? Wollen sie mein Schiff, mein weniges Geld, kostenlosen Eintritt ins Museum?“

Der Fremde überging seine Fragen. „Du hast noch die Wahl deinen Weg selbst zu bestimmen“, sagte der riesenhafte Mann. „Dazu musst du nur eines tun: Komm mit mir! Folge mir und es wird dir anders ergehen. Zumindest wirst du nicht ohne Vorbereitung sein, wie deine Mutter.“

Tibor spürte, dass dem anderen die Kraft ausging. Vermutlich war er nicht gewohnt, so viel zu sprechen. Oder der vorausgegangene Kampf hatte ihn mehr mitgenommen, als er zugab. Ein Lächeln glitt über Tibors Lippen. Vielleicht hatte er noch eine Chance, obwohl der Andere ein Kraftpaket und geschickt im Kampf war. Ja, er konnte ihn schlagen – mit Worten. „Du hast mir noch nicht einmal deinen Namen verraten. Dir soll ich vertrauen, einem Namenlosen? Einem Durchgeknalltem, der bei meiner Mutter einbricht, sich tot stellt und für sie ausgibt? Einem Mann, der sich als Krieger bezeichnet und Begriffe wie Einherjer in den Mund nimmt?“ Er wartete auf die Antwort, doch nur ein schwer zu überhörendes Keuchen antwortete ihm. Wahrscheinlich versuchte der Fremde, sich zu bändigen, seine Gefühle im Zaum zu halten. Gut so. „Du willst mich mit dir nehmen, ja? Warum wartest du dann nicht in meiner Wohnung auf mich, ja, warum hier?“ Und dann versetzte Tibor ihm noch einen Dämpfer, sagte betont langsam: „Mut und Wut … keine sonderlich guten Ratgeber.“ Im selben Moment bemerkte der junge Mann, dass er einen Schritt zu weit gegangen war. Mit zwei Sätzen war der Fremde bei ihm, packten ihn mit solcher Wucht an den Schultern, dass sie beide quer durch den Raum taumelten. Erst die Wand in seinem Rücken stoppte den schmerzhaften Tanz. Nur kurz und nur, um noch gewaltvoller weiterzugehen: Tibors Körper hob es einige Zentimeter in die Luft und gegen die Wand, dass ihm der letzte Atem aus dem Körper gepresst wurde. An dieser Stelle kam er zur Ruhe. Doch diese war trügerisch. Sein Körper drängte nach unten, aber die Hände nagelten ihn an Ort und Stelle fest. Der Atem des Angreifers blies ihm wie eine Bö ins Gesicht, die Schweißperlen des anderen tropften in sein Gesicht, zudem kitzelten ihn dessen Haarsträhnen. Er verzog angewidert das Gesicht und schloss die Augen.

„Ich bin Liftar Masir. Und ich bin gekommen, um dir zu helfen! Ich wollte die Angreifen aufhalten, aber das ist mir nicht gelungen. Wie du siehst, haben sie mich bewusstlos geschlagen und hier liegen gelassen.“

„Als Zeichen, als eine Warnung an mich?“, fragte Tibor.

„So könnte man es nennen“, stimmte Liftar zu.

„Sie wollen verhindern, dass ich dir vertraue. Mich vor dir warnen. Aber warum? Sie hätten genauso gut mit mir sprechen können. Vielleicht hätten wir eine andere als diese Lösung gefunden“, sagte Tibor.

„Bei den Göttern, du brauchst keine Angst vor mir zu haben“, sagte Liftar. „Ich bin auf deiner Seite. Aber um etwas ausrichten zu können, um deine Mutter wieder zu finden, musst du mit mir kommen!“

Die kräftigen Arme Liftars entließen ihn aus ihrem Griff.

Alle seine Knochen schmerzten und Tibor fühlte sich, als hätte man ihn durch den Fleischwolf gedreht. Sein Leib, so vermeinte er, wäre nur noch Brei.

„Ich gebe dir Zeit bis morgen Abend, wenn der Nebel kommt. Dann verschwinden wir von hier. Du musst mir noch nicht wie einem Freund vertrauen, aber du könntest zumindest anfangen, Vertrauen zu gewinnen“, sagte Liftar ruhig und betont. Er schnaufte kaum mehr.

„Welcher Nebel soll kommen?“, wollte Tibor noch fragen, doch da war die Gestalt Liftar Masirs schon durch die Haustüre verschwunden. Nebel, sagte er sich, nicht schon wieder Nebel! Für heute waren das genug nebulöse Aussagen und Ereignisse. Tibor beschloss, nicht weiter darüber nachzudenken. Er musste erst einmal schlafen und das würde er hier tun. Sein Körper brauchte das dringender als alles andere. Ihm fehlte die Kraft, noch zu sich nach Hause zu gehen, und irgendwie fühlte er sich, als wäre ihm sein Zuhause geraubt worden. Zeit, mir Gedanken zu machen, habe ich auch morgen noch – bis der Nebel kommt …. Dann besteht zumindest die Chance, dass Brauchbares herauskommt.

Emilia, so schien es, war mit Liftar Masir verschwunden. Doch nicht hoffnungslos. Mit Liftar könnte er ihren Spuren folgen, welche Spuren das auch immer sein würden. Tibor würde es herausfinden, das versprach er sich. Und um schlafen zu können, dachte er an die schönen Momente mit seiner Mutter zurück. Tief im Herzen glaubte er, sie nur finden und lebend wieder zu sehen.

4. Die Norne

Liftar Masir war zurück auf seinem Schiff. So schwer hatte er sich seine Aufgabe nicht ausgemalt. Und ebenso wenig, dass der erste Kontakt so verlief: Nämlich ganz und gar aus dem Ruder lief! Das war aber auch der Entführung von Tibors Mutter zu verdanken, die alles über den Haufen geworfen hatte. Etwas rüde war daher die nachfolgende Begegnung verlaufen. Aber konnte er seine Herkunft verleugnen? Sein Leben und seine Erziehung verbergen? Kaum … und doch hatte der junge Mann nicht erkannt, wer er war. „Bei den Göttern, ich bin ein Wikinger der alten Zeit“, murmelte Liftar zu sich. Und genau so hatte er gehandelt. Obwohl beeindruckt von der Kraft und Entschlossenheit des Gesuchten, konnte er ihn nicht so behandeln. Dass es dennoch geschehen war, lag an vorausgegangen Kampf! Bei Odin, er hätte früher reagieren müssen, die Zeichen erkennen sollen und sich nicht von dieser dunkelhaarigen Frau mit dem blassen Teint verwirren lassen dürfen. Aber wie, fragte sich Liftar, wie hätte ich das tun sollen, wenn da plötzlich eine Göttin vor mir steht? Eine, die aussieht wie die Herrscherin des damaligen Totenreiches Hel?

Ein Zittern durchlief seinen Körper. „Es ist erst der Anfang. Die Schlacht hat noch längst nicht begonnen,“ schwor er sich. „Ich werde dich finden, Göttin des Todes.“ Dann so wusste er, würde auch Tibor seine Mutter wieder finden. Liftars Augen glitten über die im Glanz der Sterne leuchtende See. Silbern war die wogende Oberfläche und darauf spiegelte sich ein riesiges Schiff mit Drachenkopf.

Mein Liebstes aller Schiffe, die HAITHABU, dachte der Einherjer und konnte sich eines Flämmchens Stolzes nicht erwehren. Das einzige Wikingerschiff mit zwei Masten, was so in der Geschichte nie erwähnt wurde.

Sein Stolz verflog und Sehnsucht legte sich darüber, als er sie sah. Sie, ein Mädchen, so schien es, im zarten Alter von achtzehn Jahren. Aber das kann täuschen. Bei diesem Gedanken warf er einen zu kurzen Blick auf sein Spiegelbild.

Die Nacht begann in diesen Stunden ihr Tor zu öffnen und mit ihr brach die Flut herein. Mitten in ihr schritt dieses Mädchen in die Höhe, als würde sie einen Thron besteigen, um schließlich mit dem nassen Element im Verbund weiter zu gleiten wie eine Prinzessin. Ihr Gang war geschmeidig, ihre Gestalt nackt und aufrecht, und sie hatte nur ein Ziel vor Augen: das Eiland voraus. Denn dort befand sich Tibor, der junge Mann, der auf diesem Flecken Erde geboren worden war.

Liftar wusste von diesem Ziel, schließlich hatte er die Norne auserwählt und auf den Weg geschickt. Er hatte seine Schildjungfer Kyrija gebeten, diesen Schritt einleiten zu dürfen, um Tibor nochmals die Wichtigkeit des Aufbruchs zu verdeutlichen. Sie wird sein und unser Schicksal lenken, wird schaffen, was ich noch nicht vermochte, zu unser aller Gunsten. Die Weberin des Schicksals wird Vertrauen schaffen, dachte er. Das musste sein, denn der Junge war ihrer aller Schicksal und dies der Grund, warum er die Norne zu ihm schickte. Bei diesen Gedanken hob sein Herzschlag an und eine unsichtbare Kraft strömte in ihn.

„Geh und hol den Jungen“, sagte Liftar. „Geh und überbring ihm meine Botschaft. Lass dich dabei nicht von seinem selbstsicheren, unerschrockenen Eindruck vernebeln. Er trägt eben dasselbe Blut wie ich.“ Den letzten Satz sprach er leise.

Liftar sah der Schicksalsweberin nach, wie sie über das Meer Richtung Ufer schritt und wusste, was es bedeutete sie loszuschicken. Er wusste um ihre Kraft und als er sie mit den endlosen Beinen und dem im Mondlicht gelb leuchtendem Schopf über das Wasser gleiten sah – denn nicht anders konnte man es sagen – war er sich sicher: Sie würde es schaffen. Er lächelte. Ob Tibor bei ihrem Anblick standhaft bleiben würde?

Und konnte man Gleiches von der Norne behaupten? Oder verfiel sie Tibor, denn auch er, das hatte Liftar vom ersten Moment an gespürt, besaß eine für Menschen ungewöhnliche Aura. Charisma nennt man es wohl. Davon würden sie auf ihrer anstehenden Reise mehr brauchen als Tibor jetzt ahnte. So, wie noch viele Dinge mehr, gepaart mit einer guten Portion Glück. Ansonsten war ihre Mission zur Erfolglosigkeit verdammt.

„Mit einem Mann wie ihm, einem Freund wie mir und einer Schicksalhaften wie ihr, sollten wir die Schlacht beginnen können“, murmelte der Einherjer. „Und mit vielen anderen werden wir sie beenden“, fügte er wie in Trance an. Dabei war ihm klar, wie wichtig die Anderen noch werden würden und von welcher Bedeutung ihr Finden war. Wieder sah Liftar der goldenen Schicksalsweberin nach, deren Abbild immer kleiner wurde und dennoch strahlte wie eine zweite Sonne. Seine Überlegungen verschwanden bei diesem Anblick und er fragte sich, welchen Zweck die Schicksalsweberin verfolgte, dass sie sich ihm so zeigte. Denn normalerweise blieben Nornen für ihren Absender unsichtbar. Sie sind nur sichtbar für die, von denen sie gesehen werden wollen. Warum also gerade er? Wollte sie ihm zeigen, dass sie die Botschaft wirklich überbrachte und er ihr trauen konnte? Aber er hätte doch niemals an ihrer Loyalität gezweifelt! Nicht er.

Wollte sie also vielleicht einfach, dass er ihre Schönheit wahrnahm – weil sie sich gerne zeigte und Sehnsucht wecken wollte?

Sollte ihm bewusst werden, welch kostbaren Diamanten er hier aus den Tiefen gehoben hatte?

 

Liftar schüttelte den Kopf. Keineswegs. Diese Wesen würden solche Gefühle niemals wecken wollen. Nornen erledigten ihre Aufgabe am liebsten still und ohne Wissen Zweiter und Dritter. Eines kam ihm dann doch in den Sinn, was sie zum Ausdruck bringen wollen könnte: Vielleicht wollte sie ihm bildlich mitteilen, was alles auf dem Spiel stand und noch einmal klar machen, was alles verloren ginge, wenn er versagte. Vermutlich, denn was wusste er schon über eine Norne, außer dem, was in der Vergangenheit über sie gesprochen worden war und sich in die Geschichtsbücher und Geschichten von heute übertragen hatte.

Sie, die Schicksalsweberin Skuld, ging über das Meer wie über festen Grund. Ihre Gedanken waren das Rauschen der See, unendlich, tiefgründig und weitreichend. Sie kannte die Zukunft, und mit ihren Schwestern Urd, welche für die Vergangenheit stand und Verdandi, die für die Gegenwart stand, hatten sie das Gefüge der Alten Welt zusammengehalten, hatten im Brunnen unter dem Weltenbaum die Schicksale einzelner gesteuert. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, dass alles zusammen war, wofür sie standen. Gemeinsam malten sie ein Bild, spannten bald einen Bogen und ergaben schließlich den Weg, der die Zukunft spiegelte. So wurde von den Nornen das Schicksal gesponnen. Einst, als auch die Väter und Mütter der Götterkinder noch unter den Lebenden waren und ihre alte Welt vollkommen gewesen war, vor Ragnarök, da war ihnen diese Gabe gewiss und von Bestand gewesen. Dann aber, als alles sein Ende fand, war auch das Stricken der Zukunft immer schwächer geworden. Sie, die Nornen wurden zu Wesen, die waren wie ein Mensch ohne Augen und die umherirrten wie wirre, geistig umnebelte Menschen in ihrer dunkelsten Nacht. Irgendwann fanden sie in den Tiefen der Meere einen Anker, und dieser half ihnen die Zeit bis heute zu überstehen. Denn wie ein Mensch so brauchten auch sie im Jetzt eine Aufgabe, um sich nicht zu verlieren. Sich und den Bezug zur Neuen Welt, die aus der alten entstanden war. Sie, Skuld, wusste davon, denn sie hatte gesehen, dass der Wikinger aus Walhall und dieser junge Mann der Schlüssel waren. Die Möglichkeit, ihre Gabe wiederzuerlangen. Zumindest zu einem großen Teil. Auf die Nornen würde wieder Verlass sein und ihr Dasein einen Sinn haben. Sie, die Weberinnen des Schicksals, würden wieder in der Unendlichkeit schweben können. Und dafür würde Skuld mit allen Kräften einstehen, die ihr zur Verfügung standen.

Die Schicksalsweberin schritt immer weiter. Ohne Halt, ohne Rast aber mit einer Ruhe, als säße sie noch immer am Rad der Zeit.

Dann war sie fast da. Steiniger Grund kitzelte ihre zarten Fußsohlen. Letzte Wellen umspülten ihre Knöchel und als auch diese verschwunden waren wie letzte Fesseln, da erstarb das Rauschen des Meeres. Stattdessen schwoll ein Flüstern an. Das elfenhafte Flüstern der Norne. Und es würde geistern durch die Stadt, geistern durch die Nacht und die Träume der Menschen, um bei ihm zu landen, um ihn zu finden. Ihn, jenen Einen, zu dem sie bereits persönlich auf dem Weg war. Um ihren Körper flirrte die Luft, bildete sich zum einen goldbraunen Funkenkleid. So konnte sie ihm gegenüber treten.

Der junge Mann selbst führte sie zu ihm, er wusste es nur noch nicht. Das Flüstern hatte den Geist des Gesuchten erreicht und das Echo trug seinen Namen zu ihr: Tibor.

Und so flüsterte sie seinen Namen, einen Namen, dem sie längst ein Schicksal gegeben hatte.

Wusste Tibor, was ihn erwartete? Eine göttliche Aufgabe, denn letztlich ging es um die Zukunft. Nicht nur seine, sondern auch die vieler anderer. Und er würde über sie bestimmen – durch sein Tun oder Unterlassen, durch sein Handeln oder Nichthandeln. Durch seine Entscheidungen und Kommandos, so wie es ihm bestimmt war.

Und dann war sie da, angezogen von seinem Geist, seiner Aura. Der Mann vom Schiff hatte nicht zu wenig versprochen. Ein verruchter Gedanke machte sich in der Norne breit, den sie nicht verscheuchen konnte: Wenn sie unter ihrem Flimmerkleid nicht schon nackt wäre, für ihn hätte sie sich nackt gemacht. Gut, dass sie die Macht der Weberin verloren hatte, denn sonst hätte sich dieser Gedanke eingepflanzt und wäre ausgetrieben wie ein dorniger Rosenbusch aus einem Samen. Und sein Schicksal wäre ein ganz anderes geworden ....

Dunkelheit umhüllte Tibor. Plötzlich aber irrlichterte die Umgebung in den Farben und Formen eines Feuerwerks. Bald fanden Farben und Formen zusammen und ergaben ein Bild. Es musste das Bild eines Traumes sein. Was sonst, wenn er so etwas sah? Etwas oder jemand wie sie. „Wer bist du?“ Er stellte die Frage und sie stand im Raum ohne Antwort. Dieses feminine Wesen, sie sah ihn nur an, aus Augen die blaugrün leuchteten wie der Ozean und einem Gesicht, dessen Haut in zartem Weiß, so rein und zart schien wie eine Schneeflocke. Ihr Haar strahlte goldgelb wie der Mond. Ob sie der Himmel geschickt hat?, fragte er sich. Oder die Sterne selbst?

Nein, eher schien es ihm, als wäre sie dem Ozean entstiegen, ja als wäre sie das oder ein Kind des Ozeans. Aber was dachte er da?

Plötzlich sah er wie sich Flüssigkeit in ihren großen, weiten Augen sammelte und ihr Blick glasig wurde. Im nächsten Augenblick liefen Tränen ihre Wange herab. Tibors Magen hüpfte und krampfte sich zusammen, er konnte diesen Anblick nicht ertragen. „Warum weinst du?“, hauchte er.

Als Antwort stieg ihm der salzige Duft rauer See in die Nase, vermischt mit Tang, Sand und Muscheln. Er fühlte sich wie auf den Grund der See gezogen. Wind schien durch sein Haar zu fegen und ihn fror. Er kreuzte die Arme und rieb sich über die Schultern, wartete noch immer auf eine Antwort. Und dann endlich vernahm er sie. Ihre Stimme war wie der Schall einer Glocke und ebenso der Hall. Tibor wusste endgültig, dass er in einem Traum gefangen war.

„Ich sehe, was du nicht sehen kannst“, sagte sie. „Und jetzt, da ich vor dir stehe, sehe ich etwas, das selbst ich bis zu diesem Moment nicht wissen und erfassen konnte.“

„Was, was siehst du?“, fragte Tibor.

„Das darf ich dir nicht sagen. Es … tut mir leid.“ Sie senkte den Blick, doch der Hauch des Überirdischen blieb. Tibor war, als wären sie beide auf dem letzten warmen Flecken Erde und um sie herum der größte Sturm des Jahrhunderts. Er konnte ihn fühlen. Alles drehte sich, alles rumorte und dieser Orkan, er war gekommen um sie zu verschlingen – sie beide!

„Wer bist du?“, wiederholte Tibor die Frage vom Anfang. Und endlich antwortete sie ihm, jedoch anders als er es erwartet oder gedacht hätte: „Ich bin dein Schicksal, mein Freund.“ Und dann sagte sie in den Sturm hinein: „Du musst und wirst eine Reise antreten. Ein Mann wird wieder kommen, ihm folge, denn er wird dein Gefährte und Meister sein. Vertraue ihm, folge ihm und beschütze ihn. Denn auch er wird deine Hilfe einmal für sich benötigen, er weiß es nur noch nicht.“ Die letzten Worte waren leise gesprochen, ganz als hätte die Unbekannte sie eben erst erfahren.

Tibor drohte sich im Sturm zu verlieren, er selbst schien sich nun ebenfalls zu drehen. Ihm wurde schlecht. Der einzige Punkt im Chaos, der blieb und ihm half, noch bei Verstand zu bleiben, war sie. Dieses feminine Überwesen. „Du bist so schön“, sagte er, ohne auf ihre Worte einzugehen und um sich abzulenken. „Wirst du bei mir bleiben? Wirst du mich auf meiner Reise begleiten?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Aber ich werde dich wieder sehen?“, hakte Tibor nach und spürte, wie sein Herz schneller schlug.

Wasser schwamm in ihren Augen. War sie traurig? Er sagte: „Was ist mit dir? Was wird geschehen? Sag es mir!“ Tibor trat an sie heran, den Sturm ignorierend. Er schüttelte sie. Und da traf es ihn mit der Wucht eines Hammers: Kälte erfasste ihn, eisige Kälte und sein Atem gefror. Als er stocksteif stand und zu keiner Regung mehr fähig war, wich sie zurück. „Es … tut mir leid. Aber es ist deine Bestimmung. Dein Schicksal ist unausweichlich. Füge dich!“

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