Kerker aus Licht und Schatten

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Kerker aus Licht und Schatten
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Marco Mukrasch

Kerker aus Licht und Schatten

Imprint

Kerker aus Licht und Schatten

Marco Mukrasch

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published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

Copyright: © 2013 Marco Mukrasch

ISBN 978-3-8442-6576-7

Lektorat: Erik Kinting / http://www.buchlektorat.net

Titelgestaltung: Erik Kinting unter Verwendung des Fotos Siena Il Palio Parade — Carabinieri Charge mit freundlicher Genehmigung von Scott Harmann

Auch als Book on Demand erhältlich: ISBN 978-1492252917

Inhalt

Imprint

Inhalt

Kapitel 1: Der Kaufmann

Kapitel 2: Die Prüfung

Kapitel 3: Das Schoßlos

Kapitel 4: Das Geschenk

Kapitel 5: Der Vertrag

Kapitel 6: Im Kloster

Kapitel 7: Palio in Siena

Kapitel 8: Der Sturz

Kapitel 9: Der Weg zum Kaiser

Kapitel 10: Plus Ultra

Kapitel 11: Der Krieg beginnt

Kapitel 12: Das Zerwürfnis

Kapitel 13: Schlacht um Tunis

Kapitel 14: Der Entschluss

Kapitel 15: Der Kriegszug

Kapitel 16: Katharina

Kapitel 17: Die Blätter welken

Kapitel 18: Die Blätter fallen

Nachwort

Literatur-/Quellenverzeichnis

Kapitel 1: Der Kaufmann

Im Laufe der Jahrhunderte büßte die Herrscherwürde, die ein Karl der Große einstmals getragen hatte, Glanz und Ansehen ein, sodass der Kaiser am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts im Spiel der Fürsten des Deutschen Reiches bestenfalls ein Erster unter Gleichen war. Er besaß nicht mehr die Stärke, den bunten Schwarm aus Territorien und Herrschaften zu bändigen, in welchen die Christenheit sich zersplittert hatte. Bald würde sich jedoch ein Mann erheben, um Stück für Stück eine Macht zusammenzuschmieden, deren Gipfel so weit emporragte, dass andere nicht umhinkommen würden sich an dieses neue Kraftzentrum zu binden oder es zu bekämpfen. So wurde er möglich: der Griff nach der Herrschaft über Europa und die Welt.

Diese hegemoniale Sintflut entsprang der Stadt, in der sich die einflussreichsten Fürsten des Reiches, die Kurfürsten, nach altem Brauch versammelten, um ihren Kaiser zu wählen: die freie Reichsstadt Frankfurt.

Frankfurt am Main, Januar 1487

Philipp schleppte sich durch die dunklen Straßen. Der eisige Wind schlug seine Krallen tief durch die Kleidung, in die Haut und das Fleisch des Mannes, sodass dieser glaubte, seine Knochen lägen bloß. Leider hatte der Wind noch nicht den morastigen Boden gefrieren lassen, weshalb der zweirädrige Holzkarren, den Philipp hinter sich herzog, quälend einsank. Es war eine Marter. In immer kürzeren Abständen hielt er eine seiner halb erfrorenen Hände vor den Mund, um sie zu beleben, aber sein warmer Hauch scheiterte an dem, was der Odem des Ewigen einst vollbracht hatte.

Der Wind, der sich in den Häusern fing, fauchte und jaulte ihn wie ein Raubtier an. Warum musste er zu solch einer Stunde nach Sonnenuntergang durch diese unbarmherzige Stadt wandern, die ihm fremd war? Warum musste er die unwürdige Arbeit eines Hausierers vollführen? Warum konnte er nicht eine ehrenhafte Anstellung als Kaufmann erhalten, wie er sie so lange in seiner niederländischen Heimat innegehabt hatte? Herrgott, warum strafst du mich so? Schwer atmend wandte er das von der Kälte gezeichnete Gesicht zu den Phalangen der Fachwerkhäuser, die ihn umzingelten und von den anderen Menschen ausschlossen. Nur schwach drangen Lichtstrahlen aus den Fensteraugen auf die unbeleuchtete Straße.

Beim Gedanken, an eine der Türen anzuklopfen, schnitt Philipp eine Grimasse, als kaute er fauliges Fleisch. Wie ein Bettler soll ich mich aufdrängen, muss genug in dieser einen Nacht verkaufen. Die Stimme des Hauptbuchhalters Herr Lösser stach noch in Philipps Ohren: „Lieber Herr Jansen, Eure Erfahrung in Ehren, aber in Frankfurt müsst Ihr Euch erst beweisen, wenn Ihr in die Dienste des Meisters Brückfeld treten wollt. Darum nehmt diesen Karren mit Tuchen und verkauft heute so viel, dass ich einen Lehrling ein Jahr davon bezahlen könnte.“ Philipps Kinn sackte gegen die Brust. Der Wind verhöhnte ihn. Warum war in dieser Stadt alles dermaßen grausam? Aber es ist nicht nur hier so.

Wie viele Städte hatte er durchstreift, um eine Anstellung zu finden? Keiner hatte in dieser Zeit Geld im Überfluss. Kriege und Krisen konnten dem Handel rasch zusetzen. Gesellte sich noch Unglück hinzu — eine verhagelte Ernte, ein gesunkenes Schiff, ein abgebranntes Kontor — war der Bankrott nicht mehr abzuwenden. So war es ihm widerfahren. Ach Herr, hättest du mir nur Arbeit, Wohlstand, Ehre genommen. Aber warum auch mein Weib? Der Wind verwandelte Philipps Tränen sogleich in frostige Dornen, welche die Haut ritzten.

Er fühlte sich so leer, so ausgemergelt ohne Magdalena. Jedweder Sinn war erloschen; bleich. Tot. Verschwitzt und durch wochenlanges Fieber vollkommen verwittert, hatte sie ihre letzten Worte an Ihren Gatten gerichtet: „Bitte ... versprich mir bei deiner Seele, dass du für unsere drei Töchter sorgst und sie gut verheiratest. Schwör’ es mir!“ Er hatte es geschworen, er hätte alles geschworen, nur damit sie sanft einschlummern konnte, um in dieser Welt nie mehr zu erwachen. Was für eine fürchterliche Bürde musste er nun schultern. Er musste seinen Töchtern, die bei Verwandten untergekommen waren, ein standesgemäßes Leben schenken. Dies war seine Verantwortung, sein Versprechen, seine Pflicht. Wäre er doch nur ganz allein, dann könnte er einfach ... Nein! Er musste sich zusammennehmen.

Er atmete tief ein. Die Luft schmerzte in seiner Lunge. Ein weiterer Atemzug, und das Brennen flammte nicht mehr derart quälend auf. Beim dritten Einatmen hob er den Kopf. Es blieb ihm nur noch die Möglichkeit, sich gegenüber Meister Brückfeld — einem der größten Kaufleute der Stadt — zu bewähren. Sonst wäre das Empfehlungsschreiben eines Bekannten nutzlos gewesen. Er betrachtet die Häuser vor sich. Ja, Magda, ich weiß ...

Die folgenden finsteren Stunden bot Philipp seine Waren feil. Ein Füllhorn der Peinigungen: man ignorierte ihn, hetzte Hunde auf ihn, schüttete den Inhalt von Nachttöpfen nach ihm ... Was war dies nur für eine verdammte Stadt? Warum hatte es ihn nur hierher verschlagen? Wüsste er doch wenigstens, dass Magda in seiner Stube auf ihn wartete. Er blickte zu Boden, um nicht mehr die Häuser sehen zu müssen, die ihn ausschlossen und aus den Augenwinkeln grimmig musterten.

Bald kam er in eine Gegend, in der die Häuser nicht mehr derart reich waren wie zuvor, wo Holzhütten die Gassen bildeten, die mit Unrat übersät waren. Der sumpfige Boden saugte sich an seinen Schuhen fest, und der Wind lastete ihm mehr und mehr Gewicht an, das sich anschickte, jedwede seiner Bewegungen zu ersticken. Selbst das Heben des Brustkorbes war eine Tortur und es dauerte nicht lange, bis Philipp dermaßen geschwächt war, dass er den Karren nicht mehr ziehen konnte. Die Deichsel klatschte zu Boden und er durchfurchte mit der Hand seine schulterlangen braunen Haare. Keuchend schaute er sich um. Was soll ich hier? Hier werde ich nichts verkaufen. Die Gegend ist zu arm. Ich muss zurück. Doch er war gleich einem Schwimmer, welcher seine Kräfte überschätzt hatte und zu weit vom Ufer weggeschwommen war, nicht mehr in der Lage umzukehren. Es gab kein Zurück; er war am Ende. Er wehrte sich zwar, aber unaufhaltsam knickten seine Beine unter ihm weg. Er vollbrachte es gerade noch, sich mit dem Rücken an den Wagen zu lehnen.

Was hatte er nur falsch gemacht im Leben, dass er nun in dieser schmutzigen Gosse sitzen musste? Er wusste es nicht. Warum wurde er derart gestraft? Oder war es nur ein Mangel an Barmherzigkeit; kümmerte sich Gott nicht um ihn; war es ihm gleich, ob er hier elendig zugrunde ging? Er hatte sich alles einmal völlig anders erträumt, damals, als er noch auf der Höhe seiner Kräfte und Lebensfreude gestanden hatte, als Magda noch bei ihm gewesen war. Jetzt war er am Ende. — Doch nein! Er durfte nicht einfach aufgeben, er musste ... Aber er konnte sich nicht mehr erheben. Sein Leib war so schwer, alles war so schwer ... Er wollte so gerne einfach nur schlafen, sich einmal ausruhen; endlich. Mit einem Mal schien ihm der Gedanke, hier liegen zu bleiben, nicht mehr so erschreckend. Selbst an den Wind gewöhnte er sich mehr und mehr, als habe dieser erkannt, dass Philipp seinen aussichtslosen Kampf endlich aufgegeben hatte. Er hatte niemals wegen des Todes seiner Frau geweint. Erst hatte ihm die Not keine Zeit gelassen — er musste stark sein für seine Kinder — und jetzt war er dafür zu entkräftet. Wie könnte Magdalena ihm nur vergeben, wenn ... ?

 

Ein Stich schoss durch sein Bewusstsein. Was war, wenn Gott ihn verstieß, weil er sich nicht genug gemüht, nicht aufopfernd genug gekämpft hatte? Kein Priester würde ihm das letzte Sakrament spenden. Würde er Magda jemals auf der anderen Seite wiedersehen? Herrgott, du musst doch gesehen haben, dass ich alles tat, was in meiner Macht stand. Ich bin nun mal kein Hiob, der jedwede Unbill des Lebens erträgt. Mich hat sie gebrochen. Magda, du musst es doch auch wissen. Ich gab mein Bestes. Bitte ... !

Was sollte er flehen? Sinnlos — er war selbst dazu zu schwach. Eine Woge kribbelte langsam von seinen Füßen und Händen zu seinem Rumpf empor. Wo sie ankam, verströmte sie ein kurzes Gefühl von Wärme und hinterließ letztlich nur köstliche Taubheit. — Einfach nichts mehr empfinden, keine Trauer, keine Angst, keinen Schmerz. Ja! Wie süß wäre dies. Er wünschte sich, endlich Ruhe zu finden; einfach nur Ruhe. Er wusste, was es bedeutete, wenn die Woge seine Brust erreichte, aber es war ihm gleich und so gab er sich ihr hin. Sie versprach ihm den Frieden, den er so begehrte. Seine Hände und Unterschenkel nahm er nicht mehr wahr — wie wundervoll. Er schloss die Augen. Bald würde er auch keinerlei Kraft mehr für das Atmen verschwenden; dann wäre er erlöst. So ließ er sich auf einem schwarzen Wasser dahintreiben, um den scharfen Kanten der Welt zu entfliehen. Kleine Wellen streichelten über seine Glieder und benetzten diese. Ganz allmählich sank er in die dunkle Flüssigkeit ein, verlor den Sinn für die Konturen seiner Umgebung, die zunehmend von Dunkelheit überlagert wurde. Bald würde er Erlösung finden, bald ...

Da war das Klatschen bloßer Füße auf dem Boden. Die Schritte näherten sich und blieben dicht bei ihm stehen. Philipps Mundwinkel beschrieben ein zaghaftes Lächeln. Da sind sie also schon wegen meiner Sachen — die Aasgeier. Nur zu! Nehmt, was ihr kriegen könnt, aber lasst mir meine Ruhe. Ich will nichts mehr spüren. Eine Stimme drang an seine Ohren, aber er war schon zu tief hinabgesunken; das schwarze Wasser verwischte die Worte. Auf einmal merkte er, dass sich zwei Hände auf seine Wangen legten und sanft seinen Kopf rüttelten. Lass’ mich in Ruhe! Bestiehl mich, aber nimm deine Hände von mir! Doch die Hände ließen nicht ab von ihm, sondern klatschten auf seine Wangen. Da öffnete er seine Lider einen Spalt und sah ein Gesicht vor sich. Ein Junge! Gerade mal zwölf. Er hätte sich wenigstens waschen können. Meint er etwa, das kleine Lederband könne seine schwarze Mähne bändigen? Die Haare haben wohl noch niemals einen Kamm kennengelernt. Mein Gott, das soll das letzte Geschöpf sein, das ich in diesem Leben sehe? Er wollte wieder entgleiten, um gänzlich abzutauchen, aber etwas an den braunen Augen des Jungen hielt seine Lider offen, verhinderte, dass Philipp seinen Kopf wegdrehte. Was war es? Die Augen schienen weich, beinahe anschmiegsam. Er bemerkte tastende Blicke auf sich und auch ... in sich — liebkosend. Was ist das? Einen Moment lang verspürte Philipp Furcht. Ich kann nichts vor ihm verbergen. Alles in mir liegt vor ihm ausgebreitet. Was denkt er von mir? Was sieht er? Schließlich ergab er sich diesen Augen und plötzlich kam es ihm vor, als wäre er kurz vor dem Ersticken aus einem See aufgetaucht. Er tat einen berstenden Atemzug. Sein Rumpf war wie ein Triumphbogen gen Himmel gewölbt; sein hämmerndes Herz sandte gewaltige Stöße durch seinen Körper, verscheuchte die Taubheitswelle und brachte seine Arme und Beine dazu, vor Leben zu brennen. Warmes Licht; Licht — wo kam auf einmal dieses Licht her? Alles war anders, heller und milder.

Er setzte sich auf und betrachtete den Jungen. „Wie hältst du es im Winter mit dem dünnen Leinenhemd und den zu kurzen Hosen aus? Schuhe hast du auch keine. Das geht doch nicht!“

Der Junge hob erstaunt die Augenbrauen, legte den Kopf schräg und zeigte ein alabasternes Grinsen.

Warum frage ich ausgerechnet jetzt nach seiner Kleidung? Philipp strich sich über die Stirn. „Was hast du mit mir gemacht? Wie hast du ... ?“ Er kreiste vor sich unsicher mit offenen Händen.

Aber der Junge verstand. „Ich habe gesehen, dass es dir nicht gut ging. Da wollte ich dir helfen.“

„Aber was hast du mit mir getan?“

„Trauer hatte dich wie eine Schlingpflanze überwuchert und dich beinahe erstickt. Ich habe die Ranken weggerissen, dass wieder Licht an dich kam.“

Philipp nickte, als ob er verstünde. Ein Teil von ihm tat es zwar, aber sein Verstand war völlig verwirrt. „Wie hast du das vollbracht? Warum kannst du so etwas?“

Der Junge streckte die offenen Handflächen von sich und hob beinahe entschuldigend die Schultern.

„Ich weiß es nicht. Ich habe es einfach gemacht.“

„Hast du dies schon öfters getan?“

„Hmm, einige Male.“

„Vermagst du dies bei jedem zu vollbringen?“

„Nein. Nicht jeder kann dein Freund sein, so kann ich auch nicht jedem helfen … leider!“

„Aber ... aber, die Art, mit der du mich zu Anfang betrachtetest, ist dies bei allen möglich?“

Der Junge ließ den Atem hinausströmen. „Ja, ich kann in jeden hineinblicken, aber ich tue es nur selten, am besten nur in der Not.“

„Warum?“

„Weil die Menschen es spüren und es nicht mögen. Man will vor Blicken geschützt sein. Nur vor einem Geliebten oder Medikus zieht man sich aus.“

Das verstand Philipp. Ja, ich fühlte mich vor ihm entblößt, aber erkannte, dass er mir half. „Wie ist überhaupt dein Name?“

„Ich heiße Jeremias.“

„Wo wohnst du?“

„Im Waisenhaus, östlich von der Stadt, nicht weit von hier. Ich kam gerade von der Arbeit bei einem Bauern.“

Philipp wusste einige Atemzüge lang nicht, was er sagen sollte.

Da ergriff Jeremias erneut das Wort: „Es tut mir sehr leid, dass deine Frau nicht mehr lebt. Aber du würdest ihr keinen Gefallen tun, wenn du dich wegen dieser Tücher auf deinem Karren zermürbst.“

„Woher weißt du ... ?“ Doch Jeremias musste nichts sagen. „Aber ich habe keine Wahl, als möglichst viel von den Tuchen zu verkaufen, sonst ... “

„ ... sonst bekommst du keine Anstellung bei Meister Brückfeld, bleibst mittellos und kannst die Aussteuer für deine Töchter nicht bezahlen.“

Eine sanfte Faust bohrte sich in Philipps Magengrube. Der Junge wusste einfach alles. „Kennst du Meister Brückfeld?“

„Zweimal sah ich ihn bei den Messen. Er ist stets am buntesten gekleidet.“

„Morgen werde ich vor seinem Buchhalter Lösser mit leeren Händen dastehen. Ich habe noch nichts verkauft und bald ist tiefe Nacht.“

Jeremias schürzte erstaunt die Lippen. „Aber noch ist doch genug Zeit.“

„Zeit?“ Philipp schüttelte den Kopf. „Ich laufe bereits seit Stunden durch die Stadt. Kein Fetzen ging weg.“

„Du hast es einfach nur falsch angepackt, das ist alles.“

„Ach, ich habe es falsch angepackt, ja? Seit frühester Jugend bin ich Händler. Und nun kommst du ... ohne Erfahrung in meinem Metier ... “ Er verschränkte die Arme vor der Brust.

Jeremias grinste und ging zu dem Wagen. „Ich kenne einige Leute hier. Komm’ einfach mit.“

„Nein, Junge, der Wagen ist doch viel zu schwer für dich. Ich werde ihn ziehen, dann kannst du ... “

Doch Jeremias warf sich gegen die Deichsel, krallte sich mit seinen Zehen in den erdigen Untergrund und alsbald löste sich das Gefährt mit einem schmatzenden Geräusch. „Ich weiß, wo du am besten etwas verkaufen kannst. Folge mir einfach.“

Nun erlebte Philipp sprachlos, was der Junge meinte. Jeremias kannte viele der Frankfurter Bürger und diese waren ihm wohlgesonnen. Kaum hatte er an eine Tür geklopft, begann er ein munteres Gespräch und hatte bald etwas von den Tuchen verkauft. Nachbarn kamen herbei, der Wagen leerte sich — noch vor Mitternacht war alles verkauft. Philipp konnte es nicht glauben. Die an ihn gestellten Erwartungen waren mehr als erfüllt. Das erste Mal seit Monaten vernahm er so etwas wie Zuversicht; ein fremd anmutender Geschmack auf seiner Seelenzunge.

Kapitel 2: Die Prüfung

Noch bevor die Sonne aufging, holte Philipp — zur nicht geringen Überraschung der Leiterin — Jeremias aus dem Waisenhaus. Er eilte sich geeignete Kleidung für den Jungen zu finden und ging daraufhin zusammen mit ihm ins Kontor zu Herrn Lösser, der wie stets sehr beschäftigt war. Als sich endlich der rechte Moment bot, trat Philipp vor den Buchhalter hin und reichte ihm mit einigem Stolz den am vorigen Abend erwirtschafteten Erlös. Philipp blinzelte, als Herr Lösser ungerührt das Geld einstrich und seine kleinen Dolchaugen, die durch Gläser unnatürlich verzerrt wurden, auf Jeremias richtete.

„Was soll der Knabe hier?“

„Er soll mein Lehrjunge sein.“

„Wozu braucht Ihr schon einen Lehrjungen? Ihr solltet lieber erst selbst festen Boden unter die Füße bekommen.“

Philipp verneigte sich leicht. „Mit Verlaub. Ich bin mir sicher, dass dieser Junge, Jeremias ist sein Name, dem Hause Brückfeld und auch meiner Wenigkeit gute Dienste erweisen wird. Er kann gut mit Leuten umgehen, kennt die Stadt und hat einen schnellen Verstand.“

„Den wird er auch brauchen!“ Der Ton war scharf wie Kalk auf der Zunge. Herr Lösser kratzte sich mit der Schreibfeder auf seiner Glatze. „Dann kommt mit. Vielleicht gewährt Euch Meister Brückfeld eine Audienz. Achtet auf Eure Haltung, kann ich Euch nur raten. Der Meister schätzt es nicht, mangelndem Respekt in Form von Schlaffheit zu begegnen.“

„Selbstverständlich!“

Philipp wandte sich zu Jeremias, der heftig nickte. Dem Jungen war in seiner neuen Kleidung nicht wohl. Sie kniff und juckte. Außerdem war er nicht an Schuhe gewöhnt und fühlte sich beim Gehen unsicher.

Herr Lösser schloss eine Tür auf, die zu der Beletage führte, welche der Familie Brückfeld vorbehalten war. Er führte sie in die große Empfangshalle. Der weite, mit Fresken und Schnitzereien verzierte Raum erinnerte Jeremias an ein Blätterdach im Wald, da das Sonnenlicht durch grüne Fenster fiel. Der Buchhalter führte sie an das Kopfende des Saales, wo Jeremias Meister Brückfeld erkannte, der in einem mit bunten Ornamenten versehenen Stuhl thronte. Jeremias war beeindruckt von der Körperfülle des Kaufmanns, die noch durch wallende Gewänder aus Samt aufgebläht wurde. An den Fingern, die an Schweinepenisse denken ließen, trug Brückfeld edelsteinbesetzte Ringe, wie farbenfrohe Geschwüre.

„Meister Brückfeld“, sagte Herr Lösser, „erinnert Ihr Euch noch an den niederländischen Kaufmann Jansen, der wünschte, in Eure Dienste zu treten?“

„Möglich!“

„Wie vortrefflich. Nun, um Eure werte Zeit zu schonen: Herr Jansen hat die Menge an Geld, die Ihr verlangtet, verdient. Ich denke, dass wir ihn ein Jahr auf Probe einstellen können.“

Philipp und Jeremias verneigten sich tief. Jeremias erkannte keine Regung auf Brückfelds Zügen. Konnten die Gesichtsmuskeln den Antlitzbrei nicht bewegen?

Brückfelds Penisfinger strichen nachdenklich durch den Bart. „Nun denn, setzt einen Vertrag mit ihm auf, Lösser. Salär wie üblich. Aber was will der kleine Straßenköter an seiner Seite in meinem Haus?“

Der Buchhalter wandte sich mit strenger Miene zu Philipp und bedeutete ihm selbst zu antworten.

Der Niederländer reckte sich: „Mit Verlaub, ähm ... verehrter Meister. Der Name des Jungen ist Jeremias. Er ist Waise und ich traf ihn gestern. Ich war sehr angetan davon, wie er mir zur Hand ging und ich ... ja, ich bin davon überzeugt, dass er uns allen gute Dienste leisten wird.“

Jeremias schaute, wie Philipp es ihm geraten hatte, demütig zu Boden und hielt die Luft an, während seine Hände sich zusammenballten. Brückfelds Stimme traf ihn wie eine Ohrfeige.

 

„Es interessiert mich nicht, wovon Ihr überzeugt seid, Jansen. Und auch nicht, warum Ihr diesen Streuner aufnahmt. Den habt Ihr wohl erst heute Morgen entlaust und in diese lächerlich zu kleinen Klamotten gesteckt.“

Philipp wankte einen Schritt zurück und sog zischend die Luft ein. „Gewiss ... gewiss, Meister, Ihr ... habt vollkommen recht, wenn Ihr Euch noch etwas Bedenkzeit ... “

„Kann er lesen oder schreiben oder rechnen?“

Philipps Augen zuckten zu Jeremias und nahmen einen traurigen Ausdruck an, als der Junge nur zögerlich seinen Kopf schüttelte.

Brückfelds Gesichtsfett verzog sich hämisch, er lachte. „Ha, das ist ja wohl ... “

„Papa? Papa!“

Der Kaufmann verstummte und sein Kopf schwenkte zu einer Tür, durch die ein Mädchen mit einer älteren Dame hinter sich hereingeschritten kam. Jeremias war verwundert, weil sich das Kosewort für Vater bei Brückfelds Tochter anhörte, als hätte ein kleiner Vogel beide Silben in einem trillernden Staccato gezwitschert. Die Laute schienen aus ihrem Mund hervorzublitzen.

„Papa, ich habe mit Louise ein neues Stück einstudiert. Du musst es dir sogleich anhören. Kommst du? D’accord?“

Meister Brückfeld leuchtete und dies lag nicht nur an dem öligen Schweiß, der aus seinen Poren strömte.

„Judith, mein kleiner Schatz. Wie schön, dass du hier bist. Ein neues Stück? Wunderbar! Sobald ich kann, komme ich in dein Gemach.“

„Aber du musst sofort kommen. Tout de suite. Jetzt ist das Licht besonders exquisit, was die Wirkung der Musique nur noch mehr unterstützt.“

Es waren nicht die kostbaren golddurchwirkten Kleidungsstücke, die Jeremias in ihren Bann schlugen; auch nicht das kupferfarbene Haar, welches Judiths Schneegesicht umflammte, aus dem zwei kleine Gletscher blitzten; es war ihr Inneres, ihre Seelenlandschaft, welche seinen Blick gefangen hielt. Obwohl eine dichte Hecke die Sicht abschirmte und dem Betrachter nur gelegentlich einige Sichttupfer erlaubte, kündeten diese funkelnden Teilstücke von etwas, was Jeremias niemals zuvor gesehen hatte. Er schaute auf die Holzdielen zu seinen Füßen. Hitze kroch in seinen Körper.

Brückfeld streichelte Judiths Wange. „Ich möchte doch auch sehr gerne zuhören, aber ein Kaufmann muss auch seiner Arbeit die nötige Zeit widmen. Das verstehst du doch, Matscherie?“

Judith vollbrachte es, ihr Haupt und ihr Kinn noch ein Stück weiter zu heben. „Das heißt ma Chérie, Papa. Du betonst es falsch: Ma Chérie!“

„Aber gewiss doch.“ Nun wandte er sich an die drei männlichen Zuhörer: „Hört ihr, wie schön mein kleines Engelchen Französisch spricht? Seit dem frühen Tod ihrer Mutter ist unsere Zofe Louise an ihrer Seite und unterrichtet sie. Na, hört sie sich nicht an wie eine richtige Edelfrau, eine kleine Dütschess?“

Judith holte kurz Luft, unterließ es jedoch ihren Vater erneut zu verbessern. Stattdessen fragte sie: „Wer sind diese Leute, Papa?“

„Dies ist Herr Jansen aus Amsterdam.“

„Très joli, Monsieur Jansen“, sagte sie.

Philipp verbeugte sich. „Enchanté, Mademoiselle Brückfeld. Euer Französisch klingt, als käme es direkt aus Paris.“

Ein leichtes Schmunzeln umspielte die Züge des Mädchens. „Merci, Monsieur. Und wer ist der ... Junge hier?“

Jeremias’ Schultern schmerzten, als sich diese noch mehr verkrampften. Er wagte es nicht emporzublicken, obwohl er sich nach Judiths Anblick sehnte. Die Spannung zerquetsche ihn.

Sie kicherte leise. „Er scheint sehr schüchtern zu sein.“

Philipp eilte sich zu antworten: „Sein Name ist Jeremias. Er kommt auch aus dieser Stadt. Vielleicht habt Ihr ihn schon einmal ... “

„Wohl kaum!“ Meister Brückfelds Stimme glich dem Schnauben eines Pferdes. „In die Gegend um das Waisenhaus herum würde meine Tochter keinen Fuß setzen — schmutzig und verkommen. Pah!“ Nun richtete der Kaufmann seinen Zeigepenis auf Jeremias. „Er ist so alt wie du, mein Liebling, aber nicht in der Lage, seinen eigenen Namen zu Papier zu bringen. Siehst du, wahrer Stand zeichnet sich stets durch Verstand aus. Auf dich wird einmal ein Prinz warten.“

Jeremias hoffte, dass niemand bemerkte, wie das Blut in seinem Gesicht kochte. Warum muss er mich ausgerechnet vor ihr derart herabsetzen? Scham bohrte sich in sein Fleisch, wütete in seinen Adern, bis es sich in seinen Eingeweiden verfing und diese hinab zerrte. In seiner Not wollte er instinktiv die Hecke um Judiths Seelenlandschaft mit seinem inneren Auge durchdringen. Was dachte sie über ihn? Doch stets waren Zweige im Weg.

Judiths Stimme war plötzlich schrill: „Papa, er ... er sieht mich an. Sage ihm, dass er dies unterlassen soll. Es ist mir ... unheimlich.“

Brückfeld blinzelte irritiert. „Aber er guckt doch die ganze Zeit nur zu Boden.“

„Nein, Papa, er betrachtet mich. Horrible!“

Kalter Schweiß plätscherte über Jeremias’ Nacken. Er konnte sich nicht von der Hecke lösen. Etwas Wunderbares musste auf der anderen Seite liegen, er konnte nicht aufhören. Warum gaben die Zweige nicht nach?

Meister Brückfeld erhob sich. „Mein Engel, ich komme sofort mit dir mit. Dieser Umgang ist nichts für dich.“

Philipp räusperte sich, aber der Meister kam ihm zuvor.

„Jansen, der Bengel kann die nächsten drei Monate für mich arbeiten, aber ohne Bezahlung — Ihr müsst ihn verpflegen. In dieser Zeit soll er alles lernen, was man als Kaufmann beherrschen muss. Gelingt es ihm, stelle ich ihn ein; wenn nicht, will ich ihn nie mehr wiedersehen. Haben wir uns verstanden? Bis dahin soll er zeigen, dass er zupacken kann. Lösser wird ihm Arbeit zuweisen.“ Daraufhin folgte Brückfeld seiner Tochter zur Tür, die in die Familiengemächer führte.

Philipps Rumpf klappte ergeben nach vorne. „Habt Dank, Meister, für Eure Großzügigkeit.“ Seine Worte erstarben wie mattes Laub im Herbst.

Jeremias konnte wieder freier atmen. Mit einer Hand wischte er sich das kühle Salz aus dem Genick.

Lösser war sogleich bei ihm: „Heute ist neue Ware gekommen, die eingelagert werden muss. Sag’ dem Vorarbeiter bei unserem Magazin, dass ich dich schicke!“

So machte sich Jeremias auf den Weg.

Der Vorarbeiter verzog angewidert das Gesicht: „Was willst du halbe Portion hier? Ich kann keinen gebrauchen, der meinen Männern zwischen den Beinen herumläuft. Die Säcke müssen schnell abgeladen und in den Keller gebracht werden.“

„Lasst mich nur machen. Ich zeige Euch, dass ich arbeiten kann.“ Er musste diese Möglichkeit nutzen: Lehrjunge bei einem Kaufmann — dies hatte er sich noch nicht einmal erträumt. Er würde nicht an ein paar dummen Säcken scheitern.

Der Vorarbeiter spuckte aus. „Mal sehen, was in dir steckt, Kleiner.“

Der Mann grinste breit, doch bald formte sein Mund ein großes Loch, als der Junge geschwind einen Sack emporhob und sich zu den anderen Männern gesellte — für Jeremias war der Sack nicht schwer, er hatte schon härter gearbeitet.

Im Magazin klaffte vor ihm eine steile Steintreppe, die nach unten führte. Er füllte seine Lungen, als tauchte er sogleich unter Wasser; er hasste unterirdische Gewölbe. Mit jeder Stufe, die er nahm, wurde sein Herz mehr zu einer panischen Pauke. Jeremias musste sich überwinden, den Männern vor ihm zu folgen. Jetzt erst holte er erneut Luft, wieder, noch einmal, aber es half nichts; die Steinwände um ihn herum kamen auf ihn zu und drückten auf seine Brust. Eine Hand schien seine Kehle zuzupressen, sodass er kaum schlucken konnte. Ein leises Zittern durchbrach mehr und mehr die Stärke in seinen Beinen. Bleib’ ruhig, ruhig. Du darfst nicht aufgeben. Du darfst es nicht verderben. Philipp hat so viel für mich gewagt ... Fackeln dort vorne ... Licht ... Endlich hatte Jeremias die Lagerstatt erreicht, wo er den Sack ablegen konnte.

Als er mit dem zweiten Sack beladen war, wusste er bereits, was auf ihn zukam. Er konzentrierte sich auf das Licht der Fackeln, die Freiheit versprachen. Sie durften niemals ausgehen, ansonsten ... nein, daran durfte er nicht denken. Der Keller wurde erträglicher.

Mit der Zeit erkannte er, dass sein Vordermann immer stärker hinkte. Bald konnte Jeremias nicht mehr mit ansehen, wie sich der andere schund. Dessen Schmerz schwappte verstärkt zu ihm hinüber.

„Warum ruhst du dich nicht aus? So kannst du nicht mehr lange weitermachen.“

„Was du Rotzlöffel nicht sagst!“ Sollte die Antwort rau klingen, so machte ein Keuchen diesen Versuch zunichte. „Falle ich jetzt aus, ist mein Lohn dahin.“

Jeremias atmete lange durch die Nase aus. „Jemand anderes könnte deine Arbeit mitmachen.“

„Wer soll das denn für mich machen?“

Bei einem der Wagen rief Jeremias zum Vorarbeiter: „Herr, lasst bitte zu, dass sich dieser Mann ausruht. Er hat ein schlimmes Bein und könnte stürzen“

Der Vorarbeiter spuckte erneut aus. „Und wer soll dann seine Arbeit machen? Wir müssen schnell ausladen, es regnet immer stärker.“

„Ich werde seine Säcke tragen. Meine Beine sind gesund.“

„Jetzt fang’ nicht an zu spinnen!“, sagte der Vorarbeiter. „Wie willst du das ... “

Jeremias hob einen Sack auf seine Schulter, ging in die Knie, griff nach einem zweiten, atmete ein und wuchtete das ganze Gewicht nach oben — schwer, aber es ging. Nicht nur der Vorarbeiter war sprachlos, auch die anderen Männer blieben stumm stehen und beäugten Jeremias.

Eine Stunde später war alles erledigt. Jeremias wollte gehen, doch da legte der verletzte Arbeiter die Hand auf seine Schulter.