Dunkelsonne

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Dunkelsonne
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Dunkelsonne

Impressum

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Epilog

Quellenangaben

Die Autorin

Dunkelsonne

Ein Mallorca-Krimi

Marie Kastner

XOXO Verlag

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche

Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen

Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://www.d-nb.de abrufbar.

Print-ISBN: 978-3-96752-020-0

E-Book-ISBN: 978-3-96752-520-5

Copyright (2019) XOXO Verlag

Umschlaggestaltung:

© Ulrich Guse, Art Fine Grafic Design, Orihuela (Costa)

© Fotos/Grafiken: Lizenz von www.dreamstime.com

Buchsatz:

Alfons Th. Seeboth

Hergestellt in Bremen, Germany (EU)

XOXO Verlag

ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

Gröpelinger Heerstr. 149

28237 Bremen

Prolog

Das Mittelmeer glitzert im strahlenden Sonnenlicht. Sanfte Wellen umspülen meine nackten Füße. Sie locken mich, verführen zum Baden. Doch mir ist nicht danach, ganz im Gegenteil. In meiner Seele hockt ein schwarzer Felsblock, der den wolkenlosen Sonnenschein in eine gleißende Hölle, das azurblaue Meer in ein zerstörerisches Bassin aus Wasser verwandelt.

Touristen in Badekleidung rennen strahlend an mir vorbei. Sie freuen sich des Lebens und genießen ihren Urlaub im Paradies. Und ich, ich sitze mit angewinkelten Beinen, um die ich meine Arme geschlungen habe, mitten im Frohsinn und schiebe finstere Gedanken vor mir her. Niemals zuvor schien mir das Symbol der schwarzen Sonne passender, so als wäre es zu einer selbst erfüllenden Prophezeiung geworden.

Wie hat es nur so weit kommen können?

Alles begann im Spätsommer 2014 so vielversprechend. Hier auf Mallorca wollte ich ein neues Leben, eine lebenswerte Existenz aufbauen, und das mit einem tollen Mann an meiner Seite. Ich war damals total in ihn verknallt, muss trotz meiner fünfundvierzig Lebensjahre eine rosarote Brille getragen haben. Ohrfeigen könnte ich mich heute dafür!

Ich hasse ihn mit jeder Faser meines Herzens. Er muss weg. Nur – wie soll ich das bewerkstelligen? In meiner Gedankenwelt habe ich dieses versoffene, egoistische, kranke Arschloch schon tausendfach erwürgt, erstochen, in monströsen Wellen am Riff zerschellen lassen, von oben bis unten aufgeschlitzt …

Während ich all diese Gräueltaten wie einen morbiden Reigen der Mordlust genüsslich vor meinem inneren Auge Revue passieren lasse, trägt der laue Sommerwind die rüden Klänge des Klassikers Highway To Hell von AC/DC an meine Ohren. Ich wollte, ich könnte Kalle endlich auf diese rasante Reise in die Hölle schicken. Am liebsten mit meinen eigenen Händen.

Kapitel 1

Finstere Gesellen

Sonntag, 16. Februar 2014

00:38 Uhr. Stille lag über dem spärlich erleuchteten Gelände, das früher eine kleine Spedition beherbergt hatte. Noch vor ein paar Minuten war hier, am Rande des Nürnberger Industriegebiets, der Teufel los gewesen. Jetzt jaulte in der Ferne Sirenengeheul von mehreren Einsatzfahrzeugen, die kontinuierlich näher kamen. Der siebenundsechzig Jahre alte Nachtwächter eines benachbarten Gebrauchtwagenhändlers hatte die Polizei zu Hilfe gerufen.

Mit quietschenden Reifen bogen drei Einsatzfahrzeuge auf das asphaltierte Gelände ein. Die gut zwei Meter hohen Flügel eines Metalltors, das die Einfahrt auf das komplett umzäunte Grundstück normalerweise versperrte, hingen verbeult an ihren massiven Pfosten. Jemand musste das Tor gewaltsam aufgedrückt haben, vermutlich mit einem Lkw.

Autotüren klappten, Beamte stiegen im Blaulichtgewitter aus, sicherten sich gegenseitig. Aber alles blieb ruhig, vielleicht sogar zu ruhig. Die Szenerie wirkte fast schon gespenstisch.

»Da kommt ihr ja endlich! Die Galgenvögel sind ausgeflogen, ihr seid viel zu spät dran!«

Vorsichtig näherte sich der offenbar einzige Ohrenzeuge der Schießerei der Polizistengruppe, blieb mit verschränkten Armen unter einer Straßenlaterne nahe dem zerstörten Tor stehen. Er trat von einem Fuß auf den anderen, vermutlich fror er. Einer der Beamten nahm sich seiner an, während die restlichen das quadratische Steingebäude umstellten, das inmitten des Geländes stand.

»Sie hatten die Notrufnummer angerufen? Dann bräuchte ich jetzt als allererstes bitte Ihre vollständigen Personalien«, sagte der Polizist routiniert. Er zückte Kugelschreiber und Block.

Der ältere Herr fummelte umständlich seinen Personalausweis aus dem abgegriffenen Ledergeldbeutel.

»Sie haben sich zum Zeitpunkt der Schießerei da drüben beim Autohändler aufgehalten, Herr … Schilling?«, fragte der Beamte, während er die Daten mit klammen Fingern auf seinem Notizblock notierte.

»Jawohl, ich saß in dem kleinen Verkaufscontainer, den man schemenhaft von hier aus erkennen kann. Ich bessere mit dem Nachtwächterjob meine beschissen geringe Rente auf. Wissen Sie, ich bin ja schon einiges gewohnt. Die gottverdammten Rocker machen einen Höllenlärm mit ihrer Musik, und die Motorräder hört man natürlich auch ständig anund abfahren. Aber sowas wie heute … ! Und das ausgerechnet in unserem beschaulichen Nürnberg. Franken ist auch nicht mehr das, was es einmal war. Wir sind hier doch nicht in Berlin oder Hamburg!«

»Was ist denn passiert, und wann genau?«

Der Zeuge kratzte sich unter seiner schwarzen Wollmütze, auf der ein aufgenähtes Emblem des Fußballvereins Greuther Fürth prangte. Mutig, damit in Nürnberg herumzulaufen.

»Mal überlegen. Meinen letzten Rundgang auf dem Hof habe ich kurz vor ein Uhr beendet. Danach brauchte ich dringend eine Tasse Tee aus der Thermoskanne, um mich aufzuwärmen. Ich denke mal, so um fünf nach eins hörte ich die Motorräder kommen. Was ich ungewöhnlich fand, weil das wilde Treiben im Clubhaus sonst um diese Uhrzeit längst voll im Gange ist. Zehn Minuten später hörte ich den ersten Schuss, gefolgt von einer wilden Schießerei und Gebrüll. Es hörte sich an, als würde eine ganze Gruppe das Gebäude stürmen wollen.«

»Aha. Also ist da wohl ein rivalisierendes Charter angekommen, oder? Waren die Hausherren überhaupt anwesend?«

»Bevor die Meute anrückte, war es drüben relativ ruhig. Vielleicht so zwei oder drei Rocker könnten sich im Haus befunden haben. Genau weiß ich es aber nicht. Ich habe besseres zu tun, als dauernd diese Verbrecher zu beobachten«, meinte Schilling achselzuckend.

Inzwischen waren die Kollegen des vernehmenden Polizisten bis zum Clubheim vorgerückt und hatten festgestellt, dass sich in der Fassade etliche Einschusslöcher befanden. Scheiben waren zerborsten. Die ebenfalls von Kugeln durchsiebte Tür stand sperrangelweit offen. Innen stellten sie wenig später fest, dass sämtliche Insignien des berüchtigten Rockerklubs entweder zerstört oder zumindest mit schwarzer Sprühfarbe besudelt worden waren. In diesen Kreisen war sowas mit einer Kriegserklärung gleichzusetzen.

Tote oder Verletzte fanden sich bei der Durchsuchung nicht. Jedenfalls noch nicht. Die Beamten wussten: Wenn eine Fehde zwischen zwei verfeindeten Clubs erst einmal eröffnet ist, kann man jeden Tag mit einer Eskalation rechnen.

Eine Anzeige wegen Sachbeschädigung würde trotz des hohen Schadens bei den Behörden hingegen wohl nie eingehen. Man pflegte solche Dinge in Rockerkreisen lieber unter sich zu regeln, meist mit Waffengewalt.

Die Beamten fotografierten prophylaktisch den Tatort und zogen wieder ab.

Montag, 17. März 2014

Kapitel 2

Im Hamsterrad

»Greta, kommst du mal bitte? Du hast Kundschaft!«

Na klar. Kaum ging man kurz in die Teeküche, um sich einen Pott Kaffee zu holen, musste auch schon die liebe Kollegin Auerbach nerven. Und das, obwohl sie inzwischen durchaus in der Lage hätte sein sollen, eine simple Kleinanzeige entgegen zu nehmen.

Seit drei Monaten arbeitete das wasserstoffblonde Biest in derselben Abteilung der örtlichen Tageszeitung, doch außer Fingernägel lackieren, ständig Facebook checken und privat im Web surfen hatte sie scheinbar wenig gelernt. Greta Lindenhardt konnte sich durchaus denken, welche triftigen ›Argumente‹ beim Personalchef zu ihrer Einstellung geführt hatten. Selbige waren unübersehbar, drohten den Knopf am Ausschnitt ihrer hautengen Bluse weg zu sprengen. Abteilungsleiter Müller dachte leider allzu gerne mit dem Schwanz, was sich insbesondere bei der alljährlichen Weihnachtsfeier zeigte.

 

»Ich bin gleich vorne!«, brüllte die Lindenhardt zurück, während sie eine Taste des Kaffeevollautomaten drückte und gleichzeitig zwei Süßstofftabletten in den Becher fallen ließ.

Eine Minute später stellte sie das dampfende Getränk neben dem polierten Marmortresen ab, der den Publikumsverkehr von ihrem überfüllten Schreibtisch trennte.

Zwei ältere Damen, von denen eine in der Handtasche wühlte. Aha. Todesanzeige oder entlaufene Katze, dachte sie angewidert. Immer dasselbe. Hierher in die Geschäftsstelle kamen, von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, sowieso nur diejenigen Kunden, welche nicht in der Lage waren, ihre Anzeige online aufzugeben. Also zumeist alte Leute, unterbelichtete Hausfrauen oder Loser, die gegen Technik allergisch waren. Und genau dieses Klientel hatte sie jetzt, nach fünfzehn Jahren bei der Mittelfränkischen Rundschau, sowas von satt.

Tür auf, Tür zu. Tagaus, tagein. Acht Stunden am Tag, fünf Tage die Woche. Ohne Aussicht auf Entkommen, denn das Reihenhaus in der Vorstadt musste noch abbezahlt werden. Die Arbeitslosenquote in Nürnberg war hoch, und mit fünfundvierzig wurde man nicht mehr überall mit offenen Armen genommen. Klar, Dirk verdiente als Finanzbeamter ganz gut – dafür betäubte er seinen Frust über diesen öden Beruf aber mit teuren Belohnungen. Ein nagelneuer BMW, exklusive Uhren und kostspielige Urlaube gehörten für ihn untrennbar zum Beamtenleben. Im Grunde genommen war er in beruflicher Hinsicht ein mindestens genauso armes Schwein wie sie selbst. Gefangen in der Ödnis eines ungeliebten Berufs, was noch gut zwanzig Jahre so weitergehen würde.

Nastasia Auerbach wackelte gemächlich heran, reckte ihren schlanken Hals und sah ihr über die Schulter. Schwerer Parfümduft kitzelte Gretas Nase. Wie konnte man tagsüber nur Opium tragen? Routiniert nahm sie den Anzeigentext auf, zeigte den schwarz gekleideten Krähen verschiedene Designs für die Traueranzeige. Kreuz mit Rose, Rose mit Gebetsbuch, verschnörkeltes Kreuz – und so weiter. Stinklangweilig.

Nachdem die Kundinnen gegangen waren, drehte Greta sich zu Nastasia um, die mit kuhdummen Augen in die Gegend blinzelte.

»Die nächste Anzeige nimmst ausnahmsweise du auf, ist das klar?«, verfügte sie resolut.

Die Blondine schmollte indigniert. Na klasse. Und der Kaffee war mittlerweile auch nur noch lauwarm.

17:00 Uhr. Endlich. Greta Lindenhardt raffte die Papiere auf ihrem Schreibtisch zu einem Stapel zusammen, versendete noch zwei E-Mails, legte sich den schwarzen Daunenmantel über den Arm und griff nach ihrer Handtasche.

»Bis morgen dann!« Eine Antwort der auf dem Smartphone tippenden Auerbach wartete sie gar nicht erst ab, sondern glitt aus der Glastür und sperrte ab.

Es graupelte leicht, und das Mitte März, wo jeder schon sehnsüchtig auf den Frühling wartete. Mist, Dirk hatte letztes Wochenende auf ihrem uralten Opel Tigra twintop die Sommerreifen montiert! Sie liebte ihren metallicgelben Renner über alles, auch wenn ihr Mann sie ständig ermahnte, die anfällige Rostlaube Baujahr 1999 schleunigst loszuwerden.

Schnellen Schrittes eilte Greta in das benachbarte Einkaufszentrum, um noch ein paar frische Zutaten für das Abendessen zu besorgen. Sie kam an den Schaufenstern eines Textildiscounters vorbei, betrachtete sich im Vorübergehen. Sie konnte sich sehen lassen, kein Zweifel. Schulterlanges, glattes braunes Haar mit blonden Strähnchen, ein ebenmäßiges Gesicht mit gerader, nicht zu großer Nase, schlanke Figur, dezentes Makeup, schicke Stiefeletten … sie sah blendend für ihr Alter aus, wenn auch bei weitem nicht so aufgetakelt und künstlich wie die blöde Auerbach.

Greta blieb kurz stehen, betrachtete die Auslagen. Die leichten Sommerkleider in Royalblau wollten weder zu ihrer Stimmung noch zur Außentemperatur passen. Trotzdem, eine ausgedehnte Shoppingtour musste demnächst sein. Vorfreude war Trumpf. Am besten gleich am Freitag, wenn sie dank der Nachhilfestunden ihrer beiden Kinder etwas mehr Zeit zur Verfügung hatte.

*

Der Opel Tigra mühte sich durch den dichten Berufsverkehr. Um diese Uhrzeit war auf Nordwestring und Frankenschnellweg kein Vorwärtskommen, Greta war das bereits gewohnt. Es gehörte zum täglichen Trott. In Höhe der U-Bahnstation Rothenburger Straße würgte sie versehentlich an einer Ampel den Motor ab, brachte ihn nicht wieder in Gang. Schwitzend versuchte sie wieder und wieder, den Wagen zu starten, während um sie herum ein Hupkonzert aufbrandete.

Jemand klopfte an die Scheibe der Fahrerseite. Greta kurbelte sie hektisch herunter, wirkte aufgelöst.

»Na, streikt Ihr Auto?«, fragte eine angenehm tiefe Stimme in typisch fränkischem Dialekt. Ein breitschultriger Motorradfahrer nahm den mattschwarzen Helm ab und steckte seinen massigen Schädel herein.

Greta nickte voller Nervosität.

»Er springt nicht mehr an.«

»Vielleicht ist der Motor nur abgesoffen, das kommt bei älteren Autos gelegentlich vor. Dürfte ich mal probieren?«

Sie stieg aus, kramte in ihrer Manteltasche und zündete sich fahrig eine Zigarette an. Der Fremde drückte das Gaspedal für eine Weile komplett durch, betätigte mehrmals den Zündschlüssel und schüttelte den Kopf.

»Die Batterie ist es jedenfalls nicht, die Anzeigen funktionieren einwandfrei. Wenn Sie mich fragen, ist der Anlasser hinüber. Da kann man nix machen. Wir müssen den Wagen an den Straßenrand schieben. Ich erledige das schon, setzen Sie sich hinein und steuern.«

Erstaunlich behände bugsierte er seinen wuchtigen, in schwarzes Leder gekleideten Körper wieder ins Freie.

Fünf Minuten später stand das defekte Fahrzeug auf einem der breiten Gehsteige an der Rothenburger Straße. Der Biker hatte ihn vereinbarungsgemäß um die Ecke geschoben. Greta bedankte sich höflich, packte ihre Taschen und wollte in Richtung der UBahnstation davon gehen, um mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach Hause zu fahren.

»Halt, nicht so schnell, Lady. Ich kenne eine Opel-Werkstatt an der Siegelsdorfer Straße, das ist gar nicht weit von hier. Ein Stück Richtung Fürth und dann links. Ich könnte Sie schnell auf dem Sozius mitnehmen. Die Mechaniker schleppen Ihr Auto bestimmt gleich in die Halle, während Sie dort in Ruhe warten – und schon sind Sie alle Sorgen los. Hier kann es sowieso nicht auf Dauer stehen bleiben.«

»Auf dem Motorrad? Aber ich habe doch keinen Helm!« Der Typ grinste wie ein Honigkuchenpferd.

»Aber ich. Den setzen Sie auf. Für die paar Meter können wir riskieren, dass ich oben ohne fahre.«

Er zog die dunkle Kapuze seines Sweatshirts unter der Lederjacke hervor und streifte sie über.

»Sehen Sie? Fällt kaum auf.«

Greta Lindenhardt überlegte einen Augenblick, dann stellte sie spontan ihre Einkaufstüte in den Tigra zurück und hängte sich die Handtasche quer über den Oberkörper.

»Okay, vielen Dank, das ist sehr nett von Ihnen. Wissen Sie, ich hatte heute echt schon genügend Stress. Vielleicht können die Mechaniker in der Werkstatt den Anlasser sogar gleich austauschen, sodass ich morgen ganz normal zur Arbeit fahren kann.«

»Bingo. Bitte Helm aufsetzen, aufsteigen und gut festhalten.«

Zu ihrem eigenen Erstaunen genoss Greta die kurze Fahrt, fühlte sich glatt ein wenig wie eine verruchte Rockerbraut. Mit leicht zitternden Knien stieg sie auf dem Gelände des Opelhändlers vom Motorrad.

Sie reichte ihm den Helm.

»Wie soll ich Ihnen bloß danken? Man trifft heutzutage so selten auf hilfsbereite Menschen.«

Weichgespülter Dackelblick aus dunkelbraunen Augen.

»Ich wüsste da schon was. Gehen Sie mit mir einen Kaffee trinken.«

»Jetzt? Aber … aber ich muss mich doch um den Abtransport des Autos kümmern, und … !«

»Ach was! Morgen, wenn Sie mehr Zeit haben. Ich schreibe Ihnen einfach meine Telefonnummer auf. Abgemacht?«

Er zog einen Kugelschreiber aus der Innentasche seiner Jacke. Noch ehe sie antworten konnte, hatte er ihre linke Hand ergriffen und den Ärmel ihres Mantels ein Stück zurückgestreift. Er kritzelte ein paar Buchstaben und Zahlen auf die Haut an ihrem Gelenk.

Seine chromglänzende Harley Davidson blubberte gemächlich vom Parkplatz. Er winkte zum Abschied. Greta stand wie vom Donner gerührt vor dem Autohaus und schaute hinterher. So ein frecher Kerl, hielt sich wohl für total unwiderstehlich! Klar, er hatte ihr geholfen. Aber schließlich hatte sie sich dafür ordnungsgemäß bedankt. Wenn der meinte, dass sie ihm dafür jetzt auch morgen noch nachlaufen würde, täuschte er sich aber gewaltig.

Sie überprüfte ihr Gelenk. Tatsächlich. Er hatte seine Mobilnummer und den Namen Kalle verewigt. Noch immer weich in den Knien, ordnete sie ihre Frisur und begab sich zur Reparaturannahme.

*

Dienstag, 18. März 2014

Der düstere Vormittag wollte nicht vergehen. So sehr die Kundschaft auch manchmal nervte – wenn gar keiner hereinkam, war der Job noch viel schwerer zu ertragen. Greta blickte aus dem Schaufenster. Draußen in der Fußgängerzone am Weißen Turm regnete es seit Stunden in Strömen. Hin und wieder hasteten vereinzelte Passanten mit Regenschirmen vorbei, die sie gegen stürmische Windböen schräg vor die Oberkörper stemmten.

Im Raum Nürnberg herrschte das typische Erkältungswetter. Die Auerbach hatte sich am Morgen auch prompt krank gemeldet, was diese Schnepfe allerdings wegen jedem kleinen Schnupfen tat. Wahrscheinlich weil sich eine rote Nase schlecht wegschminken ließ.

Greta tippte Abrechnungen in den PC, ertappte sich jedoch immer wieder dabei, wie ihre Gedanken abschweiften. Sie betrachtete verträumt ihr linkes Handgelenk. Obwohl sie vor dem Schlafengehen ausgiebig geduscht hatte, war die blaue Tinte von Kalles Kugelschreiber noch schemenhaft zu erkennen. Wieso, um alles in der Welt, ging er ihr partout nicht aus dem Kopf? Sie war glücklich verheiratet und Mutter zweier Kinder, da verbot sich eigentlich der Gedanke an fremde Männer. Eigentlich …

Mehr als einmal hatte sie seit dem gestrigen Abend elektrisiert mit dem Gedanken gespielt, diesen Kalle anzurufen. Und was wäre schon dabei? Ein Kaffee, ein wenig Abwechslung im Alltagsgrau konnte kaum schaden. Sie würde ihm eben schon eingangs eröffnen, dass sie verheiratet sei, damit er sich keine falschen Hoffnungen machte. Aber wieso beeindruckte sie diese flüchtige Begegnung dermaßen nachhaltig? Sein Blick … irgendetwas Fremdartiges, Wildes hatte sie in diesen braunen Bärenaugen gesehen, und das machte sie ganz kirre.

Vier Stunden noch bis Dienstschluss. Bis dahin musste sie eine Entscheidung treffen, das war die ultimative Deadline.

15:00 Uhr. Noch immer keine Kundschaft. Inzwischen klebte ein gelbes Post-It neben der Tastatur auf ihrem Schreibtisch. Der Notizzettel zog ständig ihren Blick an. Greta hatte Kalles Telefonnummer vorsichtshalber abgeschrieben, weil sonst die Gefahr bestanden hätte, dass sie unleserlich geworden wäre. Wer so etwas tut, der hat sich im Grunde doch schon entschieden, dachte sie kurz entschlossen und griff nach ihrem Smartphone.

»Manz«, meldete sich seine tiefe Stimme am anderen Ende der Leitung.

»Ja hallo, hier ist Greta Lindenhardt … Sie erinnern sich vielleicht, die Frau mit dem Opel, der Sie gestern freundlicherweise geholfen haben … ich könnte mich kurz nach 17 Uhr für ein halbes Stündchen abseilen und Ihnen den wohlverdienten Kaffee spendieren. Also, wie wäre es mit der Cafébar Black Bean am Ludwigsplatz?«, sprudelte sie heraus.

Kalle wirkte überrascht – und erfreut.

»Ja, logisch. Ich weiß, wo das ist. Muss nur zusehen, wo ich bei diesem Sauwetter das Bike parken kann. Alles klar, dann treffen wir uns kurz nach fünf. Bin schon mächtig gespannt, ob meine Fahrzeugdiagnose gepasst hat.«

Damit legte er auf.

Greta ärgerte sich zwar maßlos darüber, dass sie ihre Aufregung schlecht hatte verbergen können, fühlte sich aber quicklebendig. Von neuer Tatkraft beseelt, stellte sie die restlichen Abrechnungen in Windeseile fertig. Alle fünf Minuten sah sie auf ihre Armbanduhr. Noch eine Stunde, noch fünfundfünfzig Minuten …

*

Das Black Bean war an diesem regnerischen Nachmittag kaum besucht – um diese Jahreszeit ein völlig normales Bild. Vor allem in den Sommermonaten platzte die Café-Bar aus allen Nähten, dann gab es im Außenbereich nur selten freie Stühle. Neben einem Springbrunnen in der Fußgängerzone gelegen, luden die Sitzplätze an runden Holztischen unter riesigen, cremefarbigen Sonnenschirmen zum Sehen und Gesehen werden ein.

 

Zehn nach fünf stieß Greta Lindenhardt die Glastür des Lokals mit dem Fuß auf, schüttelte die Nässe vom Schirm und sah sich suchend um. Kalle schien noch nicht eingetroffen zu sein. Sie setzte sie sich ans Fenster, in die Nähe der Verkaufstheke. Voller Nervosität nahm sie die hochglänzende Karte aus dem Ständer in der Tischmitte, studierte sie halbherzig. Immer wieder schielte sie über den Rand hinweg zum Eingang, musterte mit kritischem Blick die Umgebung.

Das Black Bean war auch innen sehr ansehnlich. In warmen Braun-, Maisgelbund Beigetönen gehalten und mit roter Backsteinoptik akzentuiert, verströmte es heimelige und gleichzeitig moderne Gemütlichkeit. Dennoch fühlte sie sich ein bisschen unwohl. Wo blieb nur Kalle? Gedachte er sie zu versetzen?

Der Kellner schlenderte heran, balancierte geschickt ein rundes Tablett mit leeren Gläsern.

»Was darf es bei Ihnen sein?«

Greta zögerte einen Augenblick, blätterte hektisch in der Karte und bestellte einen Café Latte.

»Und mir einen Cappuccino, aber einen großen«, rief eine Bassstimme von der Tür her. Kalle. Sie hatte ihn gar nicht eintreten sehen. Der Kellner tippte die Bestellung in seinen mobilen Computer und schwirrte ab.

Greta erhob sich und schüttelte dem nach nassem Leder und Schweiß riechenden Biker die Hand.

»Hallo, freut mich, dass Sie kommen konnten. Und nochmals vielen Dank für Ihre Hilfe.«

»Mensch Mädel, nun zieh dir den Stock aus dem Hintern! Wir sind gestern auf demselben Bike gesessen. Da ist man nicht mehr per Sie. Ich bin der Kalle, und du bist … ? Ich hab es mir vorhin am Telefon leider nicht gemerkt.«

»Greta Lindenhardt. Ein sehr altmodischer Name, ich weiß. Der kommt von meiner Großmutter.«

»Greta … ich finde ihn klasse. Hat was. Und, Greta Lindenhardt, ist dein Auto inzwischen repariert?«

»Ich bekomme es morgen zurück. Hat dank Ihrer … deiner Hilfe prima geklappt. Der Anlasser war tatsächlich kaputt. Du scheinst dich gut mit Fahrzeugen auszukennen.«

Sie setzten sich, die Getränke wurden geliefert. Es entstand eine beklemmende Gesprächspause. Was, zum Teufel, sollte sie mit Kalle eigentlich reden? Der Typ war ihr schließlich fremd. Er taxierte sie neugierig.

»Lass mich mal raten … du hast einen bodenständigen Job, wohnst mit Mann und Kindern in einem blitzsauberen Haus, fährst einmal pro Jahr in Urlaub und wartest gelangweilt auf die Rente, habe ich Recht?«

Greta war baff. Einerseits empfand sie seine Direktheit als unverschämt, denn eigentlich ging ihn das alles nichts an. Andererseits hatte er ihr ereignisloses Leben mit einem einzigen Satz auf den Punkt gebracht, was sie ziemlich verblüffte.

»Wenn du es so negativ ausdrücken willst. Ich habe tatsächlich Ehemann und zwei Kinder, elf und acht Jahre alte Jungs, arbeite Vollzeit in der Anzeigenredaktion der Mittelfränkischen Rundschau. Heuer waren wir für vierzehn Tage in Kroatien auf Urlaub.«

Es klang ein wenig pikiert.

»Tja, ich bin ein prima Analyst«, brummte er selbstgefällig. »Ich heiße eigentlich Karl-Heinz Herbert Manz, Familie Fehlanzeige, und arbeite dreißig Stunden pro Woche bei einem Shop für Motorradbekleidung. Der liegt ganz in der Nähe vom Autohaus, bei dem ich dich gestern abgesetzt habe. Statt einer Familie besitze ich eine Harley, die ist mein ganzer Stolz.«

»Klingt auch nicht viel aufregender«, bemerkte Greta.

»Stimmt. Aber ich habe im Gegensatz zu dir eine Perspektive«, fügte er spitzbübisch hinzu.

»Ah ja? Und die wäre?«

»Nur noch ein paar Monate, dann haue ich für immer nach Malle ab. Dort werde ich am Strand eine Kneipe eröffnen, habe schon ein passendes Lokal in Aussicht. Dann heißt es: Tschüs Deutschland – hallo Leben!«

»Du willst auswandern und in die Gastronomie gehen? Aber das ist riskant, am Ballermann gibt es doch schon jede Menge Kneipen.«

»Keine, in der zünftiger Heavy Metal gespielt wird. Die haben doch alle nur dieses beschissene Frohsinnund Schlagergedöns am Laufen. Nee, bei mir wird es tschechisches Bier und anständige Musik geben. Ich bin mir sicher, dass da unten genügend Leute sehnsüchtig auf sowas wie das Biker’s Beach warten.«

»Kann ich nicht beurteilen. Wann soll es losgehen?«

»Ich darf das Lokal leider erst Ende August übernehmen. Bis dahin muss ich hier in Mordor noch ausharren.«

»Aber dann ist die Saison 2014 bereits vorüber, die Sauregurkenzeit fängt an. Ich war mal in der Nachsaison für ein paar Tage in Paguera und habe das mitbekommen. So ab Mitte September wird die Wetterlage auf der Insel instabil, dann tummeln sich dort viel weniger Touristen. Nahezu alle Strandbars schließen über die kühlen Monate.

Und was meinst du überhaupt mit Mordor?« Kalle lachte schallend, verdrehte die Augen.

»Hast du etwa die Herr der Ringe Trilogie nicht gesehen? Da gibt es eine finstere, unwirtliche Gegend, die … «

»Doch, das habe ich. Ich weiß nur nicht, wieso du dieses finstere Höllenszenario mit Deutschland gleichsetzt«, unterbrach sie seine spöttische Erläuterung. Sie ärgerte sich über diesen selbstgerechten, respektlosen Kerl, doch gleichzeitig faszinierte sie seine ungehobelte Art. In seiner Gegenwart kam sie sich wie ein kleines, unerfahrenes Mädchen vor.

Dieser Kalle verhielt sich ganz anders als Dirk, ihr Ehemann. Letzterer war konservativ, zurückhaltend, verlässlich, berechenbar, Opern-Fan, dürr wie ein Spargel, bekam eine Glatze und liebte Gesetz und Ordnung über alles. Und dieses lederbezogene Exemplar? Überall behaart, breitschultrig, forsch, wagemutig und überaus selbstbewusst, an Rockmusik und Kneipen interessiert. Mehr Gegensatz ging kaum.

Er schien Gedanken lesen zu können.

»Weiß dein Macker, dass du dich hier mit mir triffst?«

»Äh … nein, warum sollte er? Ist doch kein Date, sondern nur ein ganz harmloses Kaffeetrinken zum Dankeschön sagen.«

»Ich wäre an seiner Stelle eifersüchtig. Man weiß nie. Könnte doch möglich sein, dass diese halbe Stunde der Anfang einer wunderbaren Freundschaft ist. Was mich angeht – ich würde dich gerne mal wieder sehen und dir das richtige Leben zeigen.«

»Das richtige Leben?«, echote Greta verunsichert.

»Genau.«

Kalle trank seine Tasse auf Ex leer, stand auf, griff nach seinem Helm.

»Danke für den Cappuccino – und bis bald.«

Weg war er. Es entstand ein seltsames Flair von öder Leere, das sich Greta nicht erklären konnte. Hatte sie ihn gelangweilt? Verdattert bestellte sie die Rechnung, wusste nicht, ob sie sich über Kalles ungehöriges Benehmen aufregen oder über seinen abrupten Abgang enttäuscht sein sollte. Sie nahm plötzlich ein prickelndes, kribbelndes Gefühl im Unterleib wahr, versuchte es erschrocken zu ignorieren.

Dummes Zeug, schalt sie sich selbst, erhob sich, nagelte einen Geldschein auf den Tisch und eilte zur U-Bahnstation. In ein paar Tagen würde sie den Biker vergessen haben.

*

»Mama, wann gibt es endlich Abendessen? Ich habe Hunger«, quengelte der neunjährige Malte.